07.03.2017
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Einleitung: 

„Wenn man eine relativ kleine Gruppe von Leuten, sagen wir die oberen fünf Prozent, so unerträglich reich macht und die Masse der Menschen gleichzeitig in einen Abwärtstrend bringt, der ihnen Angst macht, wird es eine politische Explosion geben“, so Richard Wolff. Die Verlagerung von Arbeitsplätzen in Billiglohnländer, Lohndrückerei und der Abbau des Wohlfahrtsstaates haben eine strukturelle Krise des Kapitalismus und zugleich eine politische Krise geschaffen. Die Arbeiterschaft sei verunsichert und „alarmiert“. „Die Reichen“, so Wolff weiter, „haben das politische System gekauft und es von jedem demokratischen Fundament gelöst.“ Die Wut der Arbeiter habe entscheidend zu den Rechtstendenzen in Deutschland, zum Aufstieg des Front National in Frankreich, zum Brexit und zum Wahlsieg Donald Trumps beigetragen.

Gäste: 

Richard D. Wolff, Ökonom, Prof. em. an der University of Massachusetts, Amherst. Sein jüngstes Buch heißt "Capitalism's Crisis Deepens: Essays on the Global Economic Meltdown" ("Die Krise des Kapitalismus verschärft sich. Essays über den globalen wirtschaftlichen Zusammenbruch").

Transkript: 

Fabian Scheidler: Mehr und mehr Sozialwissenschaftler sprechen von einer strukturellen Krise des Kapitalismus, manche sogar von dessen möglichem Ende in naher Zukunft. Wie denken Sie darüber? Gibt es eine strukturelle oder sogar endgültige Krise des Kapitalismus – und wenn ja, warum?

Richard Wolff: Ich war nie besonders an Voraussagen interessiert, und die Wahrheit ist: Ich weiß nicht, ob der Kapitalismus am Ende ist, und ich glaube, das weiß auch niemand sonst. Normalerweise merken wir erst Jahre danach, dass etwas zuende gegangen ist. Deshalb kann ich über das Ende des Kapitalismus nichts sagen. Aber was ich sagen kann, ist, dass dies der schlimmste Zustand des globalen Kapitalismus ist, den ich in meinem ganzen Leben gesehen habe, und ich lebe schon ganz schön lange. Ich möchte Ihnen dazu eine Geschichte erzählen. Da ich an US-amerikanischen Universitäten studiert habe, kenne ich viele der führenden Ökonomen der Vereinigten Staaten, rechte, linke, moderate. Und wenn wir zuweilen bei einem Kaffee zusammensitzen, dann sind wir uns nicht einig darüber, wie die USA in die momentane Lage gekommen ist, wir sind uns auch nicht einig darüber, was man nun dagegen unternehmen kann. Aber es ist recht aufschlussreich, dass wir uns alle auf den einen Satz einigen können: „Das ist der schlimmste Zustand des Kapitalismus, den wir in unserer gesamten Lebenszeit erlebt haben.“ Ich glaube, das ist ein sehr bezeichnender Kommentar. Aber was sind die Zustände, auf die die Leute hinweisen? Ich glaube, es gibt drei. Der erste ist die umwälzende Bedeutung des Endes der Sowjetunion und die Veränderungen in der Volksrepublik China, und zwar im Hinblick darauf, dass sie sich dem westlichen Kapitalismus geöffnet haben, und eine riesige neue Arbeiterklasse entstanden ist, Hunderte von Millionen von Menschen, die fähig und bereit dazu waren, als Beschäftigte für kapitalistische Unternehmen zu arbeiten. Das veränderte das Verhältnis zwischen der Klasse der Arbeitgeber – der konzentrierten industriellen Macht in Westeuropa, Nordamerika und Japan einerseits – und einer gewachsenen Masse von gut ausgebildeten aber schlecht bezahlten Arbeiterinnen und Arbeitern andererseits. Und was wir, zumindest in den letzten 50 Jahren, gesehen haben, ist das Ergebnis dieser radikal neuen Situation, in der die Kapitalisten eine unglaubliche Menge Geld verdient haben, hauptsächlich, indem sie Wege fanden, von dieser enormen Masse armer, aber qualifizierter Arbeitskräfte zu profitieren. Einige Kapitalisten taten dies, indem sie schlecht bezahlte, verzweifelte Migrantinnen und Migranten in ihre Länder holten. Andere Kapitalisten machten es genau anders herum und verlagerten ihre Produktion von den alten kapitalistischen Zentren zum Beispiel nach China, Indien oder Brasilien. Das ist eine entscheidende Veränderung. Der Grund für die strukturelle Krise liegt darin, dass auf der einen Seite eine extrem kleine Gruppe sehr, sehr wohlhabend wurde, weil sie besser bezahlte Arbeitnehmer durch schlechter bezahlte ersetzte. Auf der anderen Seite aber führte das zu einer tiefen Krise für die Masse der Beschäftigten in Westeuropa, Nordamerika und Japan. Man hat ihnen gesagt: „Ihr werdet auf das Niveau der Dritten Welt heruntergestuft, denn wir verlagern die Produktion zu Arbeitskräften in der Dritten Welt.“ Da dies aber nicht geplant verlief und niemand den Massen der Arbeiterinnen und Arbeiter erklärte, was passiert, sahen sie sich ständig mit einer Verschlechterung des Wohlfahrtsstaates, wie er von der Sozialdemokratie in Europa oder dem New Deal in den 1930er Jahren in den Vereinigten Staaten geschaffen wurde, konfrontiert. Deshalb haben wir heute eine Arbeiterklasse, die sehr unruhig, besorgt und alarmiert ist. Ich glaube, man kann das gut an den politischen Rechtstendenzen in Deutschland sehen, an der Unterstützung für Marine Le Pen in Frankreich, wo die französische Arbeiterklasse ihre Wut auf die sozialistische Partei ausdrückt, die nichts für sie getan hat; und in den USA an der Wahl von Donald Trump. Aber auch die Erfolge von Bernie Sanders bei den Vorwahlen sind ein Zeichen – zum ersten Mal seit 50 Jahren kann ein Mann hier in den USA als „Sozialist“ auftreten und Millionen von Stimmen erhalten. Das zweite strukturelle Problem besteht darin, dass es keine Möglichkeit gibt, die politischen Folgen zu bewältigen. Wenn man eine relativ kleine Gruppe von Leuten, sagen wir die oberen fünf Prozent, so unerträglich reich macht und die Masse der Menschen gleichzeitig in einen Abwärtstrend bringt, der ihnen Angst macht, wird es eine politische Explosion geben. Entweder, man schafft es, mit dieser Situation fertig zu werden oder die Entwicklung wird das System sprengen. Es ist das gleiche Problem, das im 19. Jahrhundert beim Übergang vom landwirtschaftlichen Feudalismus zum industriellen Kapitalismus entstand: Man musste viele Institutionen zerstören, es entstanden alle möglichen Umwälzungen – und der Kapitalismus wäre dabei beinahe überwunden worden. Denken Sie nur an die Revolutionen von 1848 oder 1870, an die Pariser Kommune oder die Revolutionen am Ende des Ersten Weltkriegs: Die Masse der Arbeiterinnen und Arbeiter war wütend über das, was damals ablief, und wäre beinahe den Kapitalismus losgeworden. Zugleich muss man aber auch die andere Seite dieser Entwicklung betrachten. Die Reichen, die wissen, dass die Masse der Menschen zornig ist, haben sich dazu entschlossen, die Situation dadurch zu steuern, dass sie das politische System kaufen und es tatsächlich von jedem demokratischen Fundament lösen, weil die Demokratie für sie zu gefährlich werden könnte. Das aber führt dazu, dass die Masse der Menschen nicht nur mitansehen muss, wie ihre wirtschaftliche Situation sich verschlimmert, sondern dass sie auch in dem politischen System keine Lösungen finden können. Deshalb ergreifen sie jeden Strohhalm: Sie stimmen für den Brexit, oder sie wählen Trump oder Beppe Grillo, oder was auch immer sich als Alternative anbietet, auch wenn es verrückt und töricht ist, denn es könnte sie ja vielleicht aus der Sackgasse herausbringen. Ein letzter Punkt dazu: An den Orten, die der Kapitalismus neu besetzt hat, also in Ländern wie China, Indien oder Brasilien, entstehen wiederum die Probleme, die der Kapitalismus des 19. Jahrhunderts in Westeuropa zu bewältigen hatte. Der Kapitalismus wälzt dort die Gesellschaften um, er hat Hunderte von Millionen Menschen vom Land in die Städte und die Industrie getrieben, das schafft ganz neue Spannungen, und es ist nicht klar, ob die Leute an der Spitze dieser Gesellschaften das unter Kontrolle bringen können. Also, schaut man nun auf die Regionen, in denen der Kapitalismus neu Fuß gefasst hat, oder auf diejenigen, die er zurücklässt, man hat überall Spannungen zwischen den Herrschenden und den Beherrschten. Und es ist unmöglich, zu erkennen, ob es sich dabei um eine neue Phase handelt oder um einen Systembruch, in dem das System die selbst erzeugten Widersprüche nicht mehr in den Griff bekommt.