27.02.2019
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Einleitung: 

Die Aktivistengruppe „Extinction Rebellion“ protestiert in Großbritannien, unter anderem durch Brücken- und Gebäudebesetzungen, für einen Ausstieg aus fossilen Energien bis 2025. Solche „direkten Aktionen“ seien dringend notwendig, um auf den Ernst der Lage hinzuweisen. Monbiot selbst hat in seinem Leben immer wieder an „direkten Aktionen“ teilgenommen, unter anderem als er 2008 versuchte, John Bolton, den derzeitigen Sicherheitsberater von US-Präsident Trump, wegen seiner Rolle im Irak-Krieg festzunehmen. Neben Aktionen sei aber auch eine neue progressive Erzählung dringend erforderlich, um das neoliberale Narrativ zu ersetzen. Der Neoliberalismus sei zwar moralisch, ökonomisch und politisch eigentlich bankrott, aber die Linke habe seit 2008 kein neues Narrativ dagegensetzen können.

Gäste: 

George Monbiot, Kolumnist beim Guardian und Buchautor ("United People: Manifest für eine neue Weltordnung", "Hitze", "Out of the Wreckage. A New Politics for an Age of Crisis")

Transkript: 

Fabian Scheidler: Es gibt im Vereinigten Königreich eine Gruppe namens Extinction Rebellion, die ein Ende der fossilen Brennstoffe bis 2025 fordert und beispielsweise Brücken und Regierungsgebäude besetzt. Sie ist auch Teil der internationalen „Friday for Future“-Schulstrei-Allianz mit zehntausenden Schülern und Studenten, die auf der ganzen Welt für entschiedenen Klimaschutz streiken. Können Sie etwas zu diesen Bewegungen und ihrer Bedeutung sagen?

George Monbiot: Ja, ich habe mit Extinction Rebellion zusammengearbeitet und an ein paar ihrer Aktionen teilgenommen, sehr erfolgreichen Aktionen in Zentrallondon, wo sie Brücken besetzt haben und den Platz vor dem Parlament. Ich finde das wunderbar und ich glaube, dass das genau das ist, was wir brauchen. Wir brauchen etwas Radikales, Sichtbares, weitaus Effektiveres als was wir bisher gesehen haben. Und manche sehr beeindruckenden Leute arbeiten da mit. Was ich besonders gerne sehe, ist diese Mischung aus Jüngeren und Älteren. Als ich vor zwanzig, dreißig Jahren an direkten Aktionen teilgenommen habe, glaubten wir so etwas zum ersten Mal zu machen. Es waren im Allgemeinen alles junge Leute und wir haben nicht kapiert, dass Leute in früheren Generationen all das schon gemacht, aus ihren Fehlern gelernt und gute und schlechte Methoden entwickelt hatten. Auf eine gewisse Weise war unsere Arroganz etwas Gutes, weil wir das Selbstbewusstsein hatten zu sagen: „Wir retten die Welt, wir schaffen das alles, wir müssen nichts lernen, wir machen das einfach.“ Aber zugleich wäre es gut gewesen, wenn wir von der Weisheit Anderer profitiert hätten. Was ich an Extinction Rebellion liebe ist, dass sowohl erfahrene Aktivisten dabei sind, als auch Studenten und Schulkinder – eine große Anzahl an sehr tollen jungen Leuten, die das Selbstbewusstsein und die Begeisterung dazu haben. Diese Kombination finde ich sehr schlagkräftig.

Fabian Scheidler: Sie haben direkte Aktionen angesprochen. Sie selbst haben 2008 versucht, John Bolton, den jetzigen Sicherheitsberater von Donald Trump, festzunehmen. Was war der Grund dafür? Können Sie die Situation beschreiben, und warum Sie ihn festnehmen wollten?

George Monbiot: Der Grund, weshalb ich versucht habe, ihn festzunehmen, war seine Rolle im Irakkrieg. Er hat als UN-Botschafter der USA praktisch darauf gedrängt, UN-Resolutionen komplett zu ignorieren und darauf, dass dieser völlig unverantwortliche Krieg, in dem eine sehr große Zahl Menschen gestorben ist, durchgezogen wird. Wie wir wissen, war es ein illegaler Krieg. Und mir scheint, dass die Einzigen, die für Verbrechen gegen die Menschlichkeit rechtlich belangt werden, die kleinen Fische sind. Leute in der Regierung, ob in den USA oder in Großbritannien, werden nie angeklagt. Sie werden nie festgenommen. Deshalb wollte ich helfen, diese Lücke zu schließen, indem ich John Bolton festnehme. Er hat an einem Gespräch bei einem Literaturfestival teilgenommen. Was John Bolton mit Literatur am Hut hat – keine Ahnung. Aber jedenfalls war er da und ich war da und ich hatte diese Festnahme geplant und versuchte, die Bühne zu stürmen, um ihn festzunehmen. Noch nie hatte ich so deutlich das Gefühl zu fliegen wie damals. Denn plötzlich befand ich mich mit flatternden Armen in der Luft, weil da dieser Typ, der größte Mann, den ich je gesehen habe und der einfach von hinter einem Vorhang erschienen war, mich unter einen Arm klemmte und forttrug. Ich hab mit den Armen in der Luft gerudert und gerufen: „Ich nehme jetzt John Bolton fest.“ Und dann wurde ich einfach hinter die Bühne geschleppt und ohne viel Federlesens draußen entsorgt. Also war ich nicht sehr erfolgreich, aber der Gedanke war da.

Fabian Scheidler: Viele Analysten sagen, dass John Bolton im Moment mehrere Kriege plant, die er gerne sehen würde: gegen den Iran und jetzt sogar gegen Venezuela. Was denken Sie über seine Außenpolitik?

George Monbiot: Es ist so, als ob Trump sich mit den verrücktesten Leuten umgeben hat, die man in den ganzen Vereinigten Staaten finden kann. Die USA sind ein bemerkenswertes Land. Dass man so viele brillante Leute hat, die so viele brillante Dinge tun, und dennoch wählen die wieder und wieder völlige Idioten zum Präsidenten, schreckliche, furchtbare Leute: Trump, George W. Bush. Diese totalen Spinner, die egoistisch sind, engstirnig, idiotisch und sehr, sehr gefährlich. Und die umgeben sich mit Leuten nach ihrer eigenen Art: egoistisch, engstirnig, idiotisch und sehr, sehr gefährlich. John Bolton fällt definitiv in diese Kategorie. Das ist eine zutiefst angsteinflößende Situation und meine Hoffnung ist, dass wir weit mehr Demokraten wie die frisch in den Kongress gewählte Alexandria Ocasio-Cortez oder Ayanna Pressley sehen werden, die ein bisschen Vernunft in die amerikanische Politik bringen und hoffentlich in näherer Zukunft die vorherrschende Kraft werden. Denn so kann man nicht weitermachen. Man kann nicht weiter Psychopathen zur Regierung einer Gesellschaft von Altruisten wählen.

Fabian Scheidler: In Ihrem neuesten Buch, „Out of the Wreckage”, sprechen Sie über die Kraft des Geschichten-Erzählens und die Notwendigkeit eines neuen progressiven Narrativs. Warum glauben Sie, dass das Geschichten-Erzählen so entscheidend ist, und welche Art von neuer Erzählung brauchen wir Ihrer Meinung nach?

George Monbiot: Wir sind geschichtenerzählende Wesen. Wenn wir versuchen, die Welt zu verstehen, versuchen wir nicht, sie so zu verstehen, wie es Mathematiker, Philosophen oder Naturwissenschaftler tun. Wir nehmen keinen Datenströme und untersuchen sie und fragen: „Was sagen uns die Daten?“ Das Leben ist zu kompliziert dafür. Die Welt ist zu kompliziert, Menschen sind zu kompliziert dafür. Wir können einfach nicht alles verarbeiten, was auf uns zukommt. Also benutzen wir Abkürzungen, Heuristik. Und das nennen wir Geschichten, Erzählungen. So ordnen wir die Welt, indem wir fragen: „Was sagt mir diese Geschichte? Erklärt sie, wer ich bin, wo ich bin, wie wir hier angelangt sind, wohin wir uns bewegen? Gibt es einen Anfang, eine Mitte und ein Ende? Ist es eine befriedigende Erzählung?“ Danach suchen wir. Und das Narrativ ist entscheidend in der Politik. Es sind Erzählungen, große politische Geschichten, die die Welt verändern. Schauen Sie sich die Geschichte der vergangen 80 Jahre an. Die großen politischen Erzählungen waren Keynesianische Sozialdemokratie und Neoliberalismus. Als diese Narrative jeweils die Oberhand gewannen, wurde jeder erst Keynesianer und dann Neoliberaler. Es war egal, was die eigene Parteigeschichte war, und es war egal, ob man angeblich der Linken oder der Rechten angehörte. Man stand im Großen und Ganzen für eine dieser Erzählungen. Sie wurden zum Common Sense, zum „gesunden Menschenverstand“ ihrer Zeit. Das Problem ist, dass, als der Neoliberalismus 2008 spektakulär zusammenbrach und als politisch, wirtschaftlich, philosophisch und moralisch bankrott entblößt wurde, wir da standen und sagten: „Also, die große neue Erzählung ist ... – Nun, wir haben eigentlich keine.“ Und das Resultat: Wir bleiben im Neoliberalismus stecken. In mancher Hinsicht ist dieser sogar noch extremer geworden, obwohl wir durch und durch bereit waren, ihn loszuwerden. Aber weil wir keine neue Erzählung hatten, mit der wir ihn hätten ersetzen können, ist nichts passiert. Mit einem solchen Narrativ versuche ich gerade anzufangen. Der Gedanke ist, eine „restoration story“ zu schaffen, eine Erzählung von der Wiederherstellung. Denn diese Art von Erzählung ist, was in der Politik zählt: die Idee, dass das Land ins Chaos gestürzt wurde durch mächtige und ruchlose Kräfte, die gegen die Interessen der Menschheit arbeiten, aber wir, die Helden dieser Geschichte, werden diese Kräfte stürzen und allen Widrigkeiten zum Trotz wiederbringen, was an unseren Leben gut und an einem politischen System sinnvoll ist. Was ich also tun möchte ist, eine Politik der Zugehörigkeit aufzubauen, die dem Verlauf dieser Erzählung folgt, aufgrund eines echten Gefühls der Teilhabe an unserer Umgebung, an unserer Gemeinschaft vor Ort und an der Politik und Wirtschaft, die diese Gemeinschaft prägt. Es geht also um partizipative Politik, partizipative Wirtschaft, darum, die Stellvertreterpolitik, die wir haben, zu ergänzen.

Fabian Scheidler: Allerdings sind die linken Kräfte in vielen Angelegenheiten sehr gespalten. Wie glauben Sie könnte ein neues Narrativ von unten tatsächlich aufgebaut werden?

George Monbiot: Man muss sich natürlich massiv dafür einsetzen, es muss deutlich artikuliert werden. Aber wenn es einmal abhebt, wird es fast unaufhaltsam. Das ist zum Beispiel mit dem Keynesianismus passiert, wo Leute einfach gesagt haben: „Oh, ja, das klingt für mich logisch. Das macht Sinn.“ Keynes hat eine sehr klare Wiederherstellungsgeschichte erzählt: Das Land wurde ins Chaos gestürzt durch die wirtschaftliche Elite, die alles Geld für sich selber hortet, alle anderen verarmen lässt, sie zur Arbeitslosigkeit verdammt, als Ergebnis eine Schuldenkrise schafft, die zur Weltwirtschaftskrise führte, und alles bricht zusammen, aber der Held dieser Geschichte, der gestaltende Staat, unterstützt von den Arbeiterklassen und Mittelschichten, wird diese Elite besteuern, sie wieder in ihre Schranken verweisen und das Steuergeld dazu nutzen, die öffentliche Versorgung zu finanzieren und dadurch Wohlstand und Arbeit und großartige öffentliche Dienste zu schaffen – und so werden wir die Ordnung im Land wiederherstellen. Wir brauchen heute eine Geschichte mit ähnlicher Anziehungskraft, und das ist etwas, was ich mit anderen zusammen, mit vielen anderen, Stück für Stück aufbaue. Wir versuchen, eine ähnliche Erzählung zu kreieren, die allerdings anders sein muss, weil wir nicht zu einem wachstumsbasierten System wie dem von Keynes verfochtenen zurückkehren können. Wir leben auf einem endlichen Planeten und unendliches Wachstum auf einem endlichen Planeten ist eine Formel für die Katastrophe.

Fabian Scheidler: Vielen Dank, George Monbiot.

George Monbiot: Vielen Dank.