27.04.2017
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Einleitung: 

Nicht Nationalismus habe Jugoslawien zusammenbrechen lassen. Vielmehr sei die Eruption des Nationalismus Folge des Zusammenbruchs Jugoslawiens gewesen. Das Selbstverwaltungsprojekt in dem Balkanland unter Tito sei durch die schrittweise Integration in den globalen Markt zur Implosion gebracht worden. Flankiert wurde diese Integration duch eine Reihe von neoliberalen Politiken wie die Finanzialisierung der Wirtschaft oder die Kommerzialisierung von staatlichen Dienstleistungen. Am Ende von Privatisierungswellen und Ausverkäufen standen Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit und der Vormarsch von rechtem Chauvinismus auf dem Balkan. Während Jugoslawien einmal einer der größten Autohersteller Europas gewesen sei, gebe es heute zwischen Wien und Athen keine Fabriken mehr. „Die Situation der Europäischen Union gleicht in vielem der Jugoslawiens in den 90er Jahren. Auch das jugoslawische System hatte ein Zentrum, Serbien-Kroatien, und eine Peripherie wie den Kosovo, es gab eine Reihe von Sparmaßnahmen und so weiter, die am Ende die politische Einheit erodierten. Wir sollten daraus unsere Lehren ziehen.“

Gäste: 

Srećko Horvat: Mitbegründer von DiEM25, kroatischer Philosoph, Aktivist und Buchautor

Transkript: 

David Goeßmann: Letztes Jahr hat der Balkan viel Medienaufmerksamkeit erfahren. Es wurde viel über die sogenannte Balkanroute berichtet, über welche viele Flüchtlinge versucht haben, die nördlichen Teile Europas zu erreichen. Ansonsten hören wir aber selten was auf dem Balkan wirtschaftlich, gesellschaftlich und politisch geschieht. Was ist die momentane Lage in Kroatien, in Bosnien oder in Serbien, viele Jahre nach dem Ende der jugoslawischen Kriege und der 1990er?
 

Srećko Horvat: Die Lage ist sehr deprimierend. Sie ist vergleichbar mit der Lage der Südländer an der Peripherie der EU. Zudem haben Sie in Kroatien, Slowenien und Serbien die schlimmste Art von Geschichtsrevisionismus, wo der antifaschistische Kampf, der die Region befreit hat – der erste Sieg gegen das Nazi-Regime in Europa – heute umgedeutet wird. Man kann dort öffentlich nicht mehr über den Sieg des Antifaschismus sprechen. Sie haben überall rechte Regierungen, die gleichzeitig neoliberale Regierungen sind. Überall herrscht Massenarbeitslosigkeit. Was die Jugendarbeitslosigkeit betrifft ist Kroatien mittlerweile an dritter Stelle, nach Griechenland und Spanien. Jeder zweite Kroate zwischen 20 und 30 ist arbeitslos. Es findet Brain Drain statt. Das ist nicht nur eine wirtschaftliche Schwächung, sondern auch eine Art politischer Auswanderung. Früher hatte die Region das gleiche Wirtschaftswachstum wie China – sieben oder acht Prozent. Jetzt befindet sie sich in einer jahrelangen Rezession.

David Goeßmann: Das war während der jugoslawischen Zeit?

Srećko Horvat: In der jugoslawischen Zeit hatten wir Fabriken, kostenlose Gesundheitsversorgung und öffentliche Bildung, was bedeutete, dass man zum Beispiel anders als heute keinen Kredit aufnehmen musste um zu studieren, wie es im amerikanischen System der Fall ist. Wir hatten Bodenschätze, die Jugoslawien gehörten, also Wasserressourcen, Holz, Wälder und so weiter. Heute sind die Industrien zwischen Wien und Athen verschwunden. Wenn Sie mit dem Auto die Strecke fahren, werden Sie dort fast keine Fabriken mehr finden. Vor den Neunziger Jahren war Jugoslavien einer der größten Autohersteller in Europa und produzierte industrielle Güter. Dazu zählten Marken wie Yugov, Zastava oder Concha. Ich könnte eine ganze Reihe aufzählen. Die meisten dieser Firmen existieren nicht mehr. Schon in den 80er Jahren wurden viele Betriebe in Jugoslawien privatisiert. Ende der 1990er veräußerte der Staat langsam die Banken. Heute sind in Kroatien 90 Prozent der Banken nicht mehr kroatisch, sondern italienisch, französisch und so weiter, was wiederum bedeutet, dass die Instabilität italienischer Banken Konsequenzen auch für Kroatien mit sich bringt. Und die Privatisierungswelle betrifft nicht nur Jugoslawien. Ich war neulich in Rumänien, auf einem Berg in Transsylvanien, 2.000 Meter hoch, wo Sie die größte Anzahl an Rodungen in Europa vorfinden. Weshalb? Weil eine österreichische Firma namens Schweighofer das Holz nach Westeuropa exportiert. Also haben Sie da heute etwas, was es schon während der österreich-ungarischen Monarchie gab. Damals waren es Bosnien, Kroatien, Teile Serbiens und Rumäniens, die dem Zentrum als Peripherie dienten, wie heute die süd- und osteuropäischen Staaten in der EU dem westeuropäischen Kern billige Arbeitskraft und Bodenschätze bieten. Auf dem gesamten Balkan war es früher normal, dass man Wasser aus dem Hahn trinkt. Ich erinnere mich noch, wie ich als Jugendlicher in den Neunzigern mit Freunden im Park saß und wir uns über eine dystopische Zukunft unterhielten, in der die Menschen Wasser kaufen würden. Heute besitzen Coca-Cola und westliche Firmen aus Deutschland oder Frankreich die Wasserquellen. Es gibt Firmen, die Wälder besitzen. Selbst immaterielle Dinge wie Bildung und Gesundheit werden privatisiert und kommerzialisiert. Auf eine bestimmte Art und Weise halte ich die Lage im früheren Jugoslawien, auf dem Balkan, für noch schlimmer als in anderen Ländern, weil wir die jahrzehntelange Erfahrung mit dem realexistierenden Sozialismus, einer besseren Variante des Sowjetsozialismus, hatten. Gesundheit und Bildung waren kostenlos, Wasser musste nicht gekauft werden und die Industrien und Fabriken schafften sichere Jobs. Wenn Sie heute den Balkan besuchen ist das ein Niemandsland. Sie haben dort keine Fabriken, die Leute sind arbeitslos, sie müssen für ihre Bildung bezahlen und für die Gesundheitsversorgung. Die Leute in meiner Generation werden nie eine Rente haben, weil die nicht mehr existiert. Und gleichzeitig findet der Vormarsch des Geschichtsrevisionismus und der Ultrarechten statt. Ich würde nicht sagen, dass sich das sehr vom Rest Europas unterscheidet, aber der Unterschied ist, dass wir immerhin die Erfahrung eines Systems hatten, das besser funktioniert hat, zumindest für die Mehrheit der Bevölkerung. Das ist vorbei.

David Goeßmann: Sie nennen das Bild des Balkans als einen Ort der Gewalt, voller Wilder, die nicht in der Lage sind, miteinander zu leben, einen Mythos. Sie sehen stattdessen einen großen Vorrat an Solidarität und eine große Tradition der Solidarität auf dem Balkan. Bitte erklären Sie, was Sie damit meinen.

Srećko Horvat: Der Kollaps von Yugoslawien sollte nicht nur eine Lehre für Yugosalvien sein, sondern für Europa und für die Welt insgesamt. Denn wir sollte die weit verbreitete These umkehren, dass der Zusammenbruch Yugoslaviens eine Folge des Nationalismus war. Das ist die klassische Sicht auf die Dinge. Serben bekämpfen Kroaten, Kroaten bekämpfen Serben. Es wird vergewaltigt, Nachbarn bringen sich um. Der Balkan ist das Unterbewusstsein Europas. Sie können nur vergewaltigen, morden usw. In den Filmen von Emir Kusturica findet diese Romantisierung des Balkans als eines Orts von Wilden seinen Ausdruck – eine Romantisierung, die von Maria Todorov in ihrem Buch „Die Erfindung des Balkans“ als Mythos entlarvt wurde. Diese Sicht auf den Balkan existiert noch immer. Wir sollten die These jedoch vom Kopf wieder auf die Beine stellen. Denn der Zusammenbruch Jugoslawiens war nicht die Folge des Nationalismus, sondern umgekehrt, der Nationalismus Folge des Zusammenbruchs. Das Land brach zusammen an seinen internen Widersprüchen, die bereits angelegt waren im sozialistischen Selbstverwaltungsprojekt Jugoslawiens der 1960er und 70er Jahren. Damals wurde Jugoslawien bereits in den globalen Markt integriert und konnte einige der Widersprüche nicht lösen. So floss bereits zu Zeiten Titos der Mehrwert der Produktion in einen autonomen Finanzsektor, was für eine sozialistische anders als eine kapitalistische Gesellschaft ein Problem darstellt. Die Banken waren auch in Jugoslawien seit den 1970er Jahren, also in der globalen Periode der Finanzialisierung, das Zugpferd der Wirtschaft. Viele im Westen wissen das nicht: Schon 1979 nahm Jugoslawien das erste Darlehen des Internationalen Währungsfonds IWF auf. Und als Tito starb, einen Monat später, ging Jugoslawien als Empfänger des größten Darlehens des IWF in die Geschichte ein. Warum ist das wichtig? Weil in Jugoslawien in den 80er Jahren bereits etwas stattfand, was wir heute in der Peripherie Europas sehen können, also in Portugal, Griechenland oder Spanien. Die erste Phase der Deindustrialisierung fand bereits in den kommunistischen 80er Jahren statt. Arbeiter gingen auf die Straße. Überall nahmen Arbeiterstreiks in Jugoslawien zu. 1987 waren es 1000 Arbeiterstreiks. Stellen Sie sich vor, dass es in der EU 1000 Arbeiterstreiks pro Jahr gäbe. Die EU würde wohl zusammenbrechen. Und genau das geschah in Jugoslawien. Die erste Reaktion auf die Sparpolitik war eine linke Bewegung. Alle Arbeiter protestierten solidarisch zusammen. Es waren Muslime, Orthodoxe oder Christen. Serben, Bosnier und Kroaten protestieren gemeinsam gegen Sparmaßnahmen, um das sozialistische Selbstverwaltungssystem zu bewahren. Und was passierte dann? Kurz gesagt: Ein Bankier, Direktor einer serbischen Bank und schließlich Börsenmakler in den Vereinigten Staaten, kehrte nach Jugoslawien zurück. Er hieß Slobodan Milosevic. Er nutzte die Arbeiterstreiks, um eine nationalistischen Bewegung zu entwickeln. Die Arbeiter waren unzufrieden. Die Sparmaßnahmen hatten Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit erzeugt. Die Arbeiter hielten lange an einer progressiven Agenda fest. Aber politische Führer wie Franjo Tuđman in Kroatien, Slobodan Milosevic in Serbien und andere arbeiteten daran, die Krise nationalistisch aufzuheizen. Sie waren letztlich erfolgreich und der Nationalismus führte zum Kollaps Jugoslawiens. Wir sollten daraus eine Lehre ziehen. Wir sehen überall das gleiche Schema – vom Brexit bis zum Trump-Sieg in den USA. Das Problem ist die gescheiterte neoliberale Wirtschaftspolitik, die zu Privatisierung, Deindustrialisierung und Massenarbeitslosigkeit führt. Damit einher geht auch, dass die EU zunehmend ihre geopolitische Rolle verliert. Diese Tendenz wird sich m.E. 2017 noch verstärken mit der französischen und deutschen Wahl und dem möglichen Aufstieg von populistischen Parteien. Die Lektion aus dem Kollaps Jugoslawiens ist, dass eine wirtschaftliche Schieflage von rechten Kräften genutzt wird, wenn die Linke nicht fortschrittlich und organisiert genug ist, um etwas dagegen zu setzen. Ich denke wir sollten uns wirklich Sorgen machen. Die Situation der Europäischen Union gleicht in vielem der Jugoslawiens in den 90er Jahren. Auch das jugoslawische System hatte ein Zentrum, Serbien-Kroatien, und eine Peripherie wie den Kosovo, es gab eine Reihe von Sparmaßnahmen und so weiter, die am Ende die politische Einheit erodierten. Wir sollten daraus unsere Lehren ziehen.