09.12.2011
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Einleitung: 

Griechenland wird von EU-Kommission, internationalem Währungfonds und Europäischer Zentralbank (Troika) in eine humanitäre Krise getrieben, sagt Aris Chatzistefanou, Filmemacher aus Athen. Die sozialen Errungenschaften der letzten einhundert Jahre werden zerstört. Erstmals seit dem 2. Weltkrieg gebe es wieder massive Unterernährung von Kindern. Dabei seien nicht die griechischen Bürger für die Krise verantwortlich sondern ein destruktives Finanzsystem und eine Fehlkonstruktion der Eurozone, die manche Länder in die Verschuldung treibt und anderen, wie Deutschland, Überschüsse beschert. Die Rettungspläne hätten bisher vor allem einer Rettung der Banken gedient, nicht den Bürgern. Nur wenn die Bürger selbst, inspiriert vom arabischen Frühling und Occupy Wallstreet wieder echte Demokratie erstreiten und die Zukunft selbst in die Hand nehmen, könne eine Wende zum Positiven gelingen.

Gäste: 

Aris Chatzistefanou, Filmemacher aus Athen, Regisseur des Dokumentarfilms "Debtocracy"

Transkript: 

Fabian Scheidler: Willkommen bei Kontext TV,

Aris Chatzistefanou: Danke für Ihre Einladung.

Fabian Scheidler: Wie heißt Ihr Film, worum geht es darin und wie wurde er in Griechenland und anderswo aufgenommen?

Aris Chatzistefanou: Unser Dokumentarfilm heißt "Debtocracy", ein Wortspiel aus dem Englischen "debt" - Schulden - und "democracy". Wir glauben nämlich, dass die Schuldenkrise in Griechenland und anderen Ländern der europäischen Peripherie nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Demokratie betrifft. Im Grunde ist sie ein politischer Konflikt. Wir wollten dem griechischen Publikum erklären, dass die Europäische Zentralbank, die griechische Regierung, oder auch die deutsche im Unrecht sind, wenn sie behaupten, wir seien an allem schuld, weil wir mehr ausgegeben hätten, als wir je wieder herein verdienen können. Vielmehr ist der Hauptgrund eine strukturelle Krise des gesamten Finanzsystems, die nicht in den Jahren 2007/2008 sondern in den späten 60ern und frühen 70ern begonnen hat. Damals fand man eine Übergangslösung im Neoliberalismus, auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung. Das Finanzsystem wurde eine Zeit lang am Leben erhalten, bis sich 2007/2008 zeigte, dass es nicht mehr lebensfähig war, da die zu seiner Erhaltung nötigen Wachstumsraten nicht mehr garantiert werden konnten. Neben den strukturellen Mängeln des Weltfinanzsystems wollten wir auch die Strukturschwächen der Eurozone ansprechen, denn auch sie leidet an einem Grundproblem: Sie bringt an der europäischen Peripherie Haushaltsdefizite und Schulden hervor, während im Zentrum Europas, in Deutschland oder Frankreich Überschüsse entstehen. Natürlich hat Griechenlands Wirtschaft erhebliche Probleme, aber selbst wenn dort alles tadellos funktionierte, würde dieses System weiterhin zu einer Verschuldung führen. Daher ist mittlerweile sogar die Möglichkeit eines Austritts aus dem Euro-Währungsraum im Gespräch, obwohl dies im letzten Jahrzehnt immer tabuisiert wurde. Wir wissen, dass auch das nicht einfach wäre und neue Schwierigkeiten brächte, aber der Vorschlag ist auf dem Tisch und wird diskutiert. Unser Anliegen waren die strukturellen Probleme im Weltfinanzsystem, in der Eurozone und natürlich auch in der griechischen Wirtschaft. Sie sind der Grund für die Verschuldung und nicht das Verhalten der Menschen.

Fabian Scheidler: Welche Auswirkung hat die Krise hinsichtlich Beschäftigung, Bildung,  und anderer öffentlicher Aufgaben auf die griechische Bevölkerung?

Aris Chatzistefanou: Die griechische Regierung betreibt zurzeit, indem sie den Anweisungen der EZB und des IWF nachkommt, eine Art sozialen Massenmord. Zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg haben kleiner Kinder nicht mehr genug zu essen. Vor einigen Monaten, Jahren oder Jahrzehnten wäre das noch undenkbar gewesen. Das griechische Sozialwesen fällt der vollständigen Zerstörung anheim. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 16% und wird sicherlich in den nächsten Monaten auf mehr als 20% ansteigen. Die griechische Regierung versucht, das Arbeitsrecht des 19. Jahrhunderts wieder einzuführen. Die arbeitsrechtlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts werden über Bord geworfen. Das beste Beispiel für die desaströsen Zustände im Zentrum Athens ist "Ärzte der Welt", eine Organisation die sonst in Subsahara-Afrika, in Ländern wie Uganda oder Äthiopien tätig ist. Jetzt ist sie in Athens Stadtmitte im Einsatz und ihr Vorsitzender erklärte mir, dort sei eine humanitäre Krise ausgebrochen. Überall wo der IWF einschreitet, gibt es die gleiche Entwicklung.

Fabian Scheidler: Bezeichnenderweise gingen ja auch die Strukturreformen in der dritten Welt seit den 80er Jahren vom IWF aus. Passiert dasselbe jetzt in Griechenland?

Aris Chatzistefanou: Einige behaupten, der IWF habe sich verändert, aber das stimmt nicht. Er macht jetzt genau dasselbe wie in Südamerika, in Afrika oder in den armen Ländern Asiens. Er zerstört das Sozialwesen, um die Löhne zu drücken und alles zu privatisieren. Das werden wir auch in unserem nächsten Dokumentarfilm ansprechen sein, weil wir gesehen haben, was in Argentinien oder Ecuador passiert ist, als der IWF sich einmischte, um das gesamte öffentliche Eigentum zu veräußern und zu privatisieren. Genauso verfährt er in Griechenland und hat sogar dieselben Leute geschickt, zum Beispiel Bob Traa, der die IWF-Mission in Ecuador geleitet hat und dort den Stromversorger privatisieren wollte. Jetzt arbeitet er in Athen, in einem europäischen Land, nach dem gleichen Muster wie in den so genannten Ländern der Dritten Welt.

Fabian Scheidler: Es gab auch den Vorschlag, eine Institution nach dem Vorbild der deutschen Treuhand zu schaffen. Was halten Sie von dieser Parallele?

Aris Chatzistefanou: Das war eine Idee Jean-Claude Junckers, der meint, man müsse alles privatisieren und der Verkauf des Staatseigentums der DDR durch die Treuhand sei das beste Modell für Griechenland. Wer Zeitung liest, weiß natürlich um die Skandale im Zusammenhang mit der Treuhand und die Millionen Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Wir wissen also, dass man diesem Beispiel nicht folgen darf, obgleich die Lage nicht ganz vergleichbar ist. Griechenland ist nicht die DDR, es hat eine ganz andere Volkswirtschaft. Aber wir wollen die Irrtümer der Treuhand trotzdem nicht wiederholen.

Fabian Scheidler: Sie erwähnten bereits, dass man die angebliche Faulheit der Griechen als Wurzel allen Übels präsentiert. Was sind die wahren Gründe der hohen Verschuldung und der Krise in Griechenland?

Aris Chatzistefanou: Wie gesagt sind die Hauptgründe die Weltfinanzkrise und die Strukturdefizite der Eurozone. Aber auch in der griechischen Wirtschaft existieren Miststände. Das Hauptproblem ist das Steuersystem. Griechenland ist ein Steuerparadies für Reiche und eine Steuerhölle für alle anderen. Man führe sich vor Augen, dass die Kirche als größter Landbesitzer Griechenlands keinen Euro Steuern zahlt. Die griechischen Reeder besitzen die zweitgrößte Handelsflotte der Welt und haben trotzdem letztes Jahr nur 12 Millionen Euro an den Staat gezahlt. Illegale Immigranten, die eine Aufenthaltsgenehmigung erwerben wollten, mussten hingegen 50 Millionen Euro entrichten, fünfmal so viel wie die Reedereien.
Ein weiteres Übel sind die Verteidigungsausgaben. Länder wie die USA, Frankreich, Russland oder Deutschland versuchen, Griechenland Rüstungsgüter zu verkaufen, und die griechischen Minister sagen selten Nein, da sie auch davon profitieren. Dadurch hat Griechenland gemessen an seinem BIP den fünfthöchsten Verteidigungsetat der Welt. Als befänden wir uns seit Jahrzehnten im Krieg, obwohl die Waffen nur rumstehen.Natürlich gibt es viele andere Probleme wie die Korruption, aber ich würde sie nicht als Hauptschuldigen ansehen. Wir weisen immer auf die Strukturprobleme hin, denn selbst mit den erhöhten Steuereinnahmen und selbst wenn wir alle Korrupten Politiker aus dem Amt entfernen, werden wir in einigen Jahren wieder den selben Verschuldungsgrad erreicht haben. Wir glauben, dass der Euro und die Eurozone eigentlich für die Verschuldung verantwortlich sind.

Fabian Scheidler: Wie bewerten Sie die Rolle der Troika, der EU-Kommission, der EZB und insbesondere der deutschen Regierung in dieser Krise?

Aris Chatzistefanou: Manche bezeichnen die aktuellen Vorgänge in Griechenland als wirtschaftliche Besetzung und ich halte das für treffend. Vertreter der EU oder fremder Regierungen, die nicht vom Volk gewählt wurden, sitzen in den griechischen Ministerien und treffen Entscheidungen über die Zukunft Griechenlands. Selbst wenn wir die größten Schurken der Welt wären und alle ins Gefängnis gehörten, könnte man die demokratischen Strukturen eines Landes nicht einfach ignorieren, es politisch und finanziell in Beschlag nehmen und ihm seinen Willen aufzwingen. Alle Mitglieder der Troika wussten, dass Griechenland seine Schulden unmöglich zurückzahlen könnte. Ein so kleines Land kann Summen von 350 oder 360 Milliarden Euro schlichtweg nicht aufbringen.  Das wussten sie zwar von Anfang an, wollten aber ihre Banken und ausländische Kreditgeber schützen. Sie wollten ihnen Zeit geben, sich von den griechischen Anleihen zu trennen und sie auf die EZB abzuschieben und damit gewissermaßen auf die europäischen Steuerzahler.  Damit haben sie das letzte Jahr verbracht. Sie schützen weder den Euro noch Griechenland sondern nur die ausländischen Banken und die Regierungen, die diese unterstützen.  Das gab den Griechen zu denken. Im ersten Jahr dachten sie noch, sie hätten furchtbare Fehler begangen, um in diese Lage zu gelangen. Mittlerweile wissen sie, dass die Sache komplizierter ist. Viele andere Faktoren haben die Krise entscheidend mitverursacht.

Fabian Scheidler: Welche Alternativen gibt es zur aktuellen Krisenpolitik?

Aris Chatzistefanou: Erst einmal müssen wir klarstellen, dass es für dieses Problem keine einfache Lösung geben wird. Die griechische Bevölkerung wird in jedem Fall einen hohen Preis bezahlen. Ich würde eine Staatsinsolvenz vorschlagen, denn die Schulden sind nicht nur unmöglich abzutragen, sondern wurden auch zu großen Teilen unrechtmäßig aufgenommen und sind daher von der griechischen Bevölkerung nicht zu verantworten. Der erste Schritt wäre also die Insolvenz. Wenn Griechenland Insolvenz anmeldet, ist sein Verbleib in der Eurozone überflüssig. Die Eurozone hat dem Land nichts mehr zu bieten.  Der Austritt, würde Griechenland erlauben, seine Währung abzuwerten und seine Industrie und Wirtschaft von Grund auf zu sanieren. Sicher ist das schwer, aber wenn wir damit Recht haben, dass die Eurozone schuld an der Krise ist, so drängt sich diese Entscheidung auf. Bei einem Staatsbankrott wird natürlich der Bankensektor zusammenbrechen. Der dritte Schritt wäre dann, die Banken zu verstaatlichen, was revolutionär oder linksradikal klingen mag, aber sogar einem konservativen Politiker einleuchten wird, denn nur so lässt sich der Bankensektor retten. Demnach sind drei Schritte notwendig: Insolvenz, Ausstieg aus der Eurozone und Verstaatlichung der Banken. Alles hängt davon ab, wer die Entscheidungen trifft und die Initiative ergreift. Denn wenn die EU, der EZB oder der IWF die Entscheidungen treffen, wird der Ausgang katastrophal für Griechenland sein. Die griechische Bevölkerung wird ihre Regierung unter Druck setzen müssen, damit sie diese Schritte ergreift und so könnte sich das Verhältnis von Kapital und Arbeit verändern, das alles bestimmt. Für eine Revolution, wie wir sie womöglich alle gerne noch erleben würden, sind wir noch nicht bereit, aber wir müssen dieses Verhältnis von Kapital und Arbeit korrigieren und wenn die Bevölkerung die Initiative ergreift, kann uns das gelingen.

Fabian Scheidler: Würde ein Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone nicht den nach dem zweiten Weltkrieg begonnenen europäischen Integrationsprozess gefährden?

Aris Chatzistefanou: Schon, aber was ist diese europäische Integration. Ist es eine echte politische und gesellschaftliche Integration oder nur eine Maßnahme, um Finanzinstitutionen das Geschäft zu erleichtern. Der Euro war ja tatsächlich ein Instrument zur Verbesserung des Bankensektors und der Aktienmärkte.  Eine echte europäische Völkergemeinschaft, wie wir sie uns wünschen, gibt es nicht. Es wäre schön, wenn alle Europäer eine gemeinsame Nation bilden könnten, aber mit dieser Europäischen Union ist das nicht möglich. Sie ist nur das Werkzeug einiger Finanzinstitutionen und dient nicht den Menschen in Europa.

Fabian Scheidler: Glauben Sie dass die griechische Bewegung Alternativen anzubieten hat? Was passiert dort im Moment, wohin geht die Bewegung und wie hängt sie mit anderen Bewegungen in Spanien, den USA, Stichwort "Occupy Wall Street" und Nordafrika zusammen.

Aris Chatzistefanou: In Griechenland gibt es leider derzeit keine politische Bewegung oder Partei, welche die Initiative ergreifen und einen konkreten Ausweg aus der Krise aufzeigen könnte. Die Menschen sind da, sie demonstrieren, und es wird zu Krawallen kommen, denn das passiert, wenn Menschen nicht genug zu essen für ihre Kinder haben. Die Frage ist: Was kommt danach? In Argentinien war es dasselbe: Die Menschen sind auf die Straße gegangen, aber es fehlte eine politische Bewegung um sie zu leiten.  Das Ergebnis: Zunächst haben sie gesiegt. Die Regierung Kirchner war gezwungen dem IWF eine Abfuhr zu erteilen und die Zahlungsunfähigkeit zu erklären. Einige Jahre später gab es eine politische Strömung, die den Menschen eine politische Vision bot, der sie folgen konnten. In Griechenland gehen die Straßenproteste der Bildung einer politischen Bewegung und politischer Parteien voraus, das ist die Schwierigkeit. So war es während des Bürgerkriegs und auch unter der Diktatur. Daher rechnen wir nicht mit einer Initiative von Seiten der Parteien. Wir erwarten vom Volk, dass es Präsenz zeigt und dann wird sich auch der theoretische Unterbau bilden, der die Bewegung stützt.  

Fabian Scheidler: Wie steht es mit der Verbindung zu "Occupy Wall Street"? Könnte Ihrer Ansicht nach die aktuelle Bewegung einen Einfluss auf Griechenland haben?

Aris Chatzistefanou: All diese Bewegungen, angefangen in Tunesien und Ägypten, in Spanien, Griechenland und nun in New York und anderen Städten der USA fordern das gleiche: Die Abschaffung des neoliberalen Paradigmas, dem wir die letzten zwei oder drei Jahrzehnte lang gehorchen mussten. Ihre Forderungen sind im Wesentlichen wirtschaftlicher Art: Sie verlangen nicht nur Demokratie, sondern Wirtschaftsdemokratie, wenn man es so nennen kann. Das heißt: Ja, wir haben vieles gemeinsam. Natürlich sind der Grad der Politisierung, und der Hintergrund der Bewegungen von Land zu Land unterschiedlich. Wir gehen nicht alle denselben Weg, aber unser Ausgangspunkt und unsere Ziele sind dieselben. Das verbindet uns.

Fabian Scheidler: Eine letzte Frage: Sie erwähnte bereits ein neues Projekt. Würden Sie uns davon erzählen?

Aris Chatzistefanou: Wir werden Ende Oktober den neuen Titel bekannt geben. Es wird wieder um Wirtschaft gehen und wir werden uns wieder über Crowdfunding, also über Spenden aus der Netzgemeinde finanzieren. So haben wir es bei "Debtocracy", unserem ersten Dokumentarfilm, gemacht. Ganz normaler Menschen wie Sie und ich waren bereit uns über PayPal oder per Überweisung etwas Geld zu spenden. Damit konnten wir den Film bezahlen. Wir glauben, die Zuschauer waren mit dem Ergebnis zufrieden - zwei Millionen haben den ersten Film bereits gesehen. Also werden wir sie wieder um Unterstützung bitten, um uns nicht an Firmen oder Parteien wenden zu müssen. So ist das Volk unser einziger Sponsor.
Es wird ein neuer Dokumentarfilm über die Wirtschaft, mit Griechenland als Einstiegspunkt, aber auch diesmal nicht nur auf Griechenland bezogen. Auch Finanzinstitutionen im Allgemeinen und die Privatisierung werden Thema sein. Bei den Deutschen mit ihrer Treuhand wird der Film ebenfalls Erinnerungen wecken.

Fabian Scheidler: Vielen Dank für das Gespräch, Herr Chatzistefanou.

Aris Chatzistefanou: Ganz meinerseits.