12.05.2011
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Einleitung: 

Am 26. März gingen eine halbe Millionen Briten in London auf die Straße, um gegen die Sparmaßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Diese Maßnahmen beinhalten die stärksten Kürzungen in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Proteste entzündeten sich, als bekannt wurde, dass, während die Regierung 300.000 Angestellte im öffentlichen Dienst entlassen will, zugleich die Unternehmenssteuern weiter reduziert werden sollten. Einige Großkonzerne wie Vodafone zahlen zum Teil minimale oder gar keine Steuern mehr in Großbritannien.

Gäste: 

John Hilary: War on Want, London

Transkript: 

David Goeßmann: Der nächste Schauplatz ist England. Am 26. März gingen eine halbe Millionen Briten in London auf die Straße, um gegen die Sparmaßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Diese Maßnahmen beinhalten die umfangreichsten Kürzungen in Großbritannien seit dem Zweiten Weltkrieg. Die Proteste entzündeten sich, als bekannt wurde, dass, während die Regierung 300.000 Angestellte im öffentlichen Dienst entlassen will, zugleich die Unternehmenssteuern weiter reduziert werden sollten. Einige Großkonzerne wie Vodafone zahlen zum Teil minimale oder gar keine Steuern mehr in Großbritannien. Wir haben mit John Hillary von der Organisation War on Want in London über die Situation in England gesprochen:

John Hillary: In Großbrittanien kann man sehen, wie über die letzten 30 Jahren immer mehr des nationalen Einkommens in Richtung der Unternehmen und des Kapitals gegangen ist. Unternehmensprofite machen einen größer und größer werdenden Teil des britischen Einkommens aus. Gleichzeitig gehen die Löhne nach unten. Die normalen Bürger haben immer weniger Anteil am Gesamteinkommen. Das Ergebnis ist, dass die Unternehmen produzieren und produzieren, aber sie finden für ihre Produkte keine Käufer mehr. Die Menschen sind gezwungen, sich zunehmend Geld zu leihen. In England heißt das sehr oft, auf das Haus Kredite aufzunehmen. Die Hypotheken-Zahlungen und die Menge an Aktien, die hier durch Hypothekendarlehen gekauft werden, ist weit höher als irgendwo anders in Europa. Sicherlich weit höher als in Deutschland. Die Konsequenz war die Entstehung einer Schuldenblase in Großbrittanien. Die Banken, die daran teil hatten, wuchsen stetig, bis sich die strukturellen Probleme in der Krise von 2007/2008 niederschlugen. Als die Banken dann kollabierten, manifstierten sich die Folgen der seit 30 jahren anhaltenden Deregulierung des Kreditgeschäfts und der Liberalisierung der Märkte. Wir erleben in diesen Monaten die Einführung eines neuen Haushalts, der ein sehr einschneidendes Sparprogramm beinhaltet. Wir sehen bereits im ganzen Land, dass Schulen, Krankenhäuser und Büchereien aufgrund der Regierungspolitik starke Einschnitte erfahren. Der Druck auf Angestellte des öffentlichen Diensts ist enorm. Wir gehen davon aus, dass eine halbe Millionen Angestellte des öffentlichen Diensts ihren Job verlieren werden. Auch die Renten im öffentlichen Dienst, die eigentlich eine Kompensation für Arbeiter mit geringerem Verdienst sind, wurden eingedampft. Worüber wir in unserer Organisation und in den Gewerkschaften, mit denen wir zusammen arbeiten, besonders erbost sind, ist die Tatsache, dass es sich bei dem Regierungskurs um ideologisch motivierte Entscheidungen handelt. Diese Entscheidungen sind keineswegs notwendig. Denm wir haben in unserem Land keinen besonders hohen Schuldenstand. Sowohl im Vergleich mit anderen europäischen Staaten als auch in historischer Perspektive haben wir eine relativ niedrige Staatsverschuldung.. Nach dem zweiten Weltkrieg hatten wir in Großbrittanien einen weit höheren Schuldenstand. Trotzdem konnten wir damals den Wohlfahrtstaat aufbauen, das Gesundheitssystem und all die staatlichen Dienstleistungen, derer wir uns heute erfreuen. Wir sehen den Kahlschlag als eine ideologisch angetriebene Attacke, eine politische Attacke gegen den Staat von einigen rechten Ideologen in unserer Regierung. Die Partei der Konservativen, die das Sparprogramm eingeführt hat, verfolgen den Traum der Thatcher-Zeit der 80er Jahre, wo man große Teile des Staates privatisieren konnten. Das ist nun die zweite Welle von Thatcherismus. Es ist der größte Traum, den Thatcher selber niemals realisieren konnte. Das ist der Geist, den die Sparprogramme atmen. Die Ironie dieser Politik liegt für uns darin, dass wir gerade durch eine Krise des Kapitalismus gegangen sind, die zeigte, dass freie Märkte und Liberalisierung einfach nicht funktionieren. Die Menschen erkennen in vielen Ländern, welche wichtige Rolle der Staat spielt, um die Wirtschaft zum Wohl der Menschen einzurichten. Stattdessen ist es der Rechten aber jetzt gelungen eine Gegenoffensive zu starten. Sie sagen: Wir haben keine Verwendung mehr für den Staat. Wir wollen zu einer noch schärferen Marktwirtschaft zurückgehen, in der die Märkte tun und lassen könnnen, was sie wollen. Das ist äußerst problematisch – auch angesichts die Tatsache, dass wir uns noch mit den Konsequenzen des größten Zusammenbruchs des Kapitalismus seit dem zweiten Weltkrieg herumschlagen.

Vielen Leuten drohen, langzeitarbeitslos zu werden. Wir haben bereits eine Jugendarbeitslosigkeit von 20 Prozent. Und das führt zu einer Spirale der Verzweifelung in vielen Teilen des Landes. Wir erleben gerade, wie viele öffentliche Dienstleistungen eingespart werden. Damit verschwindet das unterstützende Netzwerk und die soziale Wohlfahrt, die Familien auffängt, die unter wirtschaftlichen und finanziellen Druck geraten. Wir zerstören also in kurzer Zeit die staatliche Infrastruktur und damit das soziale Modell, das Großbrittanien seit über 50 Jahren bestimmt. Es zeigt sich, dass es sehr einfach ist, in ein paar Tagen diese Strukturen niederzureißen, Strukturen, die über Jahre und Jahrzehnte aufgebaut wurden. Wir sehen jetzt Menschen, die wirkliche Notsituationen erleben, Familien, die tiefer in die Armut und Arbeiter, die in Langzeitarbeitslosigkeit gestürzt werden. Wir Normalverdiener bezahlen jetzt für die Krise, die von Finanzkapitalismus und einer deregulierten Marktwirtschaft verursacht wurde. Und das ist einfach unfair.

Die großen Dmonstrationen vom 26. März waren in dieser Situation sehr wichtig. Für uns von “War on Want”, aber auch für die vielen vielen Menschen, die bisher noch niemals an so einer Art von politischem Protest in der Vergangenheit teilgenommen haben. Aber es kann nur ein Anfang, nicht das Ende des Protests sein. Dieser Protest muss sich fortpflanzen und mehr Widerstand in den nächsten Monaten erzeugen. Unsere Sorge ist, dass das passiert, was in Frankreich zu sehen war. Dort gab es wochenlang massive Proteste gegen die Rentenreform. Doch Präsident Sarkozy konnte trotzdem die Rentenreform durchsetzen. Wir wissen also hier in Großbrittanien, dass wir eine sehr starke Bewegung aufbauen müssen. Es geht nicht nur um Gewerkschaftsproteste, sondern auch um direkte Aktionen. Gruppen wie die Bewegung “UK Uncut”, die sich gegen Konzerne richtet, die in Großbrittanien Steuern hinterziehen oder fast keine bezahlen. UK Uncut organisiert direkte Aktionen in Geschäften und in Einkaufsstraßen. Wir brauchen auch Aktionen von lokalen Bewegungen, lokale Demonstraionen, lokale Proteste gegen Einschnitte im kommunalen Bereich.