02.02.2012
Share: mp3 | Embed video
Einleitung: 

Im Zuge der Revolution ist die ägyptische Wirtschaft weiter in die Krise geraten. Der Internationale Währungsfonds hat dem Militärrat einen Kredit in Höhe von 3,2 Milliarden Dollar angeboten. Der ägyptische  Finanzminister hat zudem erklärt, man bitte die USA um eine Aufstockung ihrer Finanzhilfen und werde keine Änderungen am Wirtschaftssystem Ägyptens vornehmen. Die Märkte würden weiterhin frei und offen für US-Importe bleiben. Gleichzeitig fanden im September letzten Jahres massive Streiks von Angestellten des öffentlichen Dienstes statt. Gewerkschaften und Protestbewegungen fordern Mindestlöhne und Steuergerechtigkeit.

Gäste: 

Sharif Abdel Kouddous: unabhängiger Journalist in Kairo, Korrespondent für das US-Nachrichtenmagazin DemocracyNow! und Fellow am The Nation Institute

Transkript: 

David Goeßmann: Die ägyptische Revolution wurde nicht nur von politischer Repression sondern auch von ökonomischer Ungerechtigkeit ausgelöst. Sinkende Löhne, steigende Nahrungsmittelkosten und die Verarmung von Bauern führten bereits 2008 zu einem Generalstreik, der brutal niedergeschlagen wurde. Im letzten September gab es erneut große Streiks, bei denen soziale Gerechtigkeit gefordert wurde. Wie sieht die wirtschaftliche und soziale Situation in Ägypten heute aus?

Sharif Abdel Kouddous: Es war ein schweres Jahr für die ägyptische Wirtschaft, da diese den Einflüssen der Revolution ausgesetzt war. Vor allem ist der Tourismus stark eingebrochen, wie häufig berichtet wird. Dieser Sektor macht etwa 10 bis 12% der Wirtschaftsleistung aus und beschäftigt ein Achtel der Erwerbstätigen. Auch die Direktinvestitionen aus dem Ausland sind erheblich zurückgegangen. Dadurch haben sich auch die ägyptischen Devisenreserven von 30 Mrd. US-Dollar auf knapp die Hälfte reduziert. Das wird vermutlich zu einer Abwertung der ägyptischen Währung führen, die derzeit künstlich zu einem Kurs von etwa sechs Pfund an den Dollar gekoppelt ist. Doch wenn die Devisen ausgehen, wird dieser Kurs steigen und damit auch die Inflation. Dadurch würden die Lebensmittelpreise noch mehr ansteigen, was viele befürchten. Das nicht gewählte sondern vom Militärrat ernannte Kabinett hat den Internationalen Währungsfonds gerade erst um einen Kredit in Höhe von 3,2 Mrd. US-Dollar gebeten, um diese Entwicklung aufzuhalten. Viele Menschen sind aber dagegen, dass eine nicht gewählte Regierung dem Land neue Schulden aufbürdet. Der Internationale Währungsfonds hat zwar erklärt, der Kredit sei nicht an Bedingungen geknüpft, aber ob das stimmt bleibt abzuwarten. Die Arbeiterbewegung hat wie gesagt eine entscheidende Rolle als Wegbereiterin der Revolution gespielt. Die Streiks vom 6. April 2008 brachte eine nach diesem Datum benannte Jugendbewegung hervor, welche die Streiks unterstützte. Viele führende Köpfe dieser Bewegung kamen damals ins Gefängnis und sie waren es, die im Vorfeld des 25. Januar zur Revolution aufgerufen haben. Auch heute sind sie noch eine sehr einflussreiche und breit gestreute Gruppe. Wie Sie erwähnten, gab es im September eine große Streikwelle, bei der die Busfahrer die Arbeit niederlegten. Im Bildungssektor fanden großangelegte Streiks statt, bei denen Professoren und Studenten die Absetzung unter Mubarak ernannter Dekane und höhere Forschungsetats forderten. Derzeit streiken Beschäftigte der öffentlichen Verkehrsbetriebe und der Eisenbahn. Viele Aktivisten hoffen im Moment auf einen Generalstreik, der die Regierung zur Umsetzung der Kernforderungen wie Anhebung des Mindestlohns, Einführung einer progressiven Einkommenssteuer und Festlegung eines Höchstlohns für den öffentlichen Sektor, also für Minister und Regierungsbeamte, zwingen würde. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns aber ein Großteil der Menschen weiß, dass die Arbeiterbewegung dem Mubarak-Regime mit einem Massenstreik zwei Tage vor dessen Rücktritt den Todesstoß versetzt hat. Zahlreiche Aktivisten arbeiten daher mit der Arbeiterbewegung zusammen, um deren Forderungen durchzusetzen.

Fabian Scheidler: Sie haben bereits die Rolle des IWF erwähnt. Unter Mubarak stand die ägyptische Wirtschaft unter Aufsicht des IWF. Das Ergebnis waren ungeschützte Märkte, das Ende von Brotsubvention und die Verarmung von Arbeitern und Bauern. Hat sich seither in Bezug auf den IWF etwas geändert?

Sharif Abdel Kouddous: Die Übergangsregierung und der Oberste Rat der Streitkräfte haben letztes Jahr im Juni einen IWF-Kredit abgelehnt, weil sie als Interimsführung nicht die Verantwortung für eine Erhöhung der Schuldenlast übernehmen wollten. Diese Haltung war erfrischend, nun wird aber doch ein Kredit beantragt. Erst letzte Woche hat Fayza Abul Naga, eines der Kabinettsmitglieder, Vertreter des IWF getroffen, um über einen 3,2 Mrd. Dollar-Kredit zu verhandeln. Unser Finanzminister hat erst gestern erklärt, man bitte die USA um eine Aufstockung ihrer Finanzhilfen und werde keine Änderungen am Wirtschaftssystem Ägyptens vornehmen. Die Märkte würden weiterhin frei und offen für US-Importe bleiben. Solche Aussagen und Verhaltensweisen sind bedenklich, da eben jene neoliberale Wirtschaftspolitik zwar das Bruttoinlandsprodukt erhöht, dabei aber nur einem kleinen Teil der Bevölkerung, nämlich der Oberschicht genützt hat. Die Nahrungsmittelpreise sind gestiegen, ebenso wie die Zahl der Obdachlosen, und der erste Ruf der Revolution war nichts anderes als "Brot". "Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit". Dieser Ruf nach Brot ist ein Ruf nach jener Wirtschaftsgerechtigkeit, die in Ägypten während der letzten 10 Jahre unter der extrem neoliberalen Politik von Hosni Mubaraks Sohn Gamal Mubarak immer mehr erodiert ist. Und genau diese Probleme haben die Revolution ja ausgelöst.

David Goeßmann: Im Dezember 2010 verbrannte sich ein arbeitsloser Tunesier öffentlich und gab damit den Anstoß zu einer Reihe von Aufständen in der arabischen Welt. Diktaturen in Tunesien, Ägypten und Libyen wurde entmachtet, andere wie in Saudi-Arabien, Bahrein oder Syrien halten sich weiter. Was ist ihre Bilanz des arabischen Frühlings bisher?

Sharif Abdel Kouddous: Die grundlegende Veränderung, die der Ausbruch dieser Revolutionen in der arabischen Welt bewirkt hat, ist die Selbstwahrnehmung der Bevölkerung als Bürger und nicht mehr nur als Untertanen. Die Menschen klagen ihre Rechte ein. In der Innenstadt von Kairo steht immer noch das verkohlte Gerippe der Zentrale von Mubaraks Nationaldemokratischer Partei, eine riesige schwarze Ruine. Es dient als Mahnmal für die Machthaber, und erinnert sie daran, dass das Volk sich nicht mehr widerstandslos unterdrücken lassen wird. Es wird ja häufig von der niedergerissenen Mauer der Angst gesprochen. Ich glaube, nicht die Angst hat Menschen davon abgehalten, Widerstand zu leisten, sondern eher ein Mangel an Hoffnung. Und diese Hoffnung hat Tunesien der Welt zum Geschenk gemacht. "Darauf könnt ihr hoffen, das könnt ihr erreichen, wenn ihr auf die Straße geht, wenn ihr euch an echter, direkter Demokratie beteiligt und Widerstand leistet." Diese Hoffnung haben wir in Ägypten aufgenommen und die Menschen sind wirklich auf die Straße gegangen, und haben in nur 18 Tagen das Regime, zumindest das Mubarak-Regime, gestürzt. Und so hat der Hoffnungsgedanke die ganze arabische Welt erfasst - der Gedanke, dass es einen Ausweg gibt, dass man nicht unter dem Joch autokratischer, despotischer und korrupter Herrscher leben muss, von denen viele Verbündete des Westens sind.