14.12.2012
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Einleitung: 

Die israelische Regierung hat die Bombardierung des Gazastreifens, bei der 170 Palästinenser und 6 Israelis getötet wurden, "Säule der Verteidigung" genannt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach vom Recht Israels auf Verteidigung. Doch Besatzern das Recht auf Verteidigung gegen die Besetzten zuzusprechen sei absurd, sagt Gilbert Achcar. Gaza sei ein "Freiluftgefängnis". Die rechtsextreme Netanjahu-Regierung hätte aus Frustration darüber, von Obama kein grünes Licht für eine Bombardierung Irans bekommen zu haben, Gaza zum "Sündenbock" gemacht. Ägyptens Rolle im Konflikt habe sich unter Präsident Mursi nicht gegenüber dem Mubarak-Regime geändert. Waffenruhen lösten das Problem nicht. Um wieder Kontrolle über die Region zu erlangen, hätten die USA zudem ihr Bündnis mit den fundamentalistischen Muslimbrüdern aus den 60er Jahren erneuert.

Gäste: 

Gilbert Achcar: Politologe und Soziologe an der "School of Oriental and African Studies", University of London, Autor u.a. von "Die Araber und der Holocaust" und mit Noam Chomsky "Perilous Power"

Transkript: 

David Goeßmann: Willkommen bei Kontext TV. Ich begrüße Sie heute aus dem Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Unser Gast ist Gilbert Achcar. Achcar ist Professor an der School of Oriental and African Studies der University of London. Er ist Autor von zahlreichen Büchern. Sein jüngstes lautet “Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen“. Achcar schreibt zudem regelmäßig für Le Monde Diplomatique, International Viewpoint und Zcommunications. Welcome to Kontext TV, Mr. Achcar, it’s great to have you with us. 

David Goeßmann: Im Gaza-Konflikt herrscht nun schon ein Weile Waffenruhe, ob Sie halten wird, wissen wir nicht. Rund 170 Palästinenser und 6 Israelis wurden während der Bombardierung getötet, mindestens 700 Palästinenser verletzt. Die israelische Regierung hat die Militäroperation „Säule der Verteidigung“ genannt. Neben anderen westlichen Staatschefs hat die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel betont, dass Israel jedes Recht habe, sich gegen Raketenangriffe der Hamas zu verteidigen. Aber ist diese Rechtfertigung glaubhaft, wenn man den Ablauf der Ereignisse, die quasi Okkupation des Gazastreifens und die Tatsache berücksichtigt, dass nach der Operation Gegossenes Blei vor vier Jahren und vor der gezielten Tötung des Chefs des militärischen Arms der Hamas Ahmed Jabari am 14 November kein Israeli durch Hamas Raketen getötet wurden? Wie beurteilen Sie die jüngste Gazakrise?

Gilbert Achcar: Diese Aussagen sind ein weiteres Zeugnis für die empörenden Darstellungen, die das, was den Palästinenser widerfährt, mit dem vergleichen, was mit einer sehr viel geringeren Anzahl von Israelis geschieht. In den Massenmedien werden die Ereignisse in Gaza einfach denen auf israelischem Gebiet gegenübergestellt. Man gibt so vor, neutral zu berichten. Dabei kann man diese Ereignisse nicht miteinander vergleichen. Zu Israels Recht auf Vergeltung: Ich möchte dieses Recht erläutern, indem ich Vergleicht benutze, die eigentlich nicht mag. Aber ich möchte sie ausnahmsweise trotzdem verwenden, auch wenn sie unerhört klingen. Wenn man aber darüber nachdenkt, sind sie gar nicht so unerhört. Israel das Recht auf Vergeltung zuzugestehen ist so, als verteidige man das Recht der Wehrmacht auf Vergeltung gegen die französische Resistance 1942 oder 1943. Das ist genau die gleiche Logik. Oder, um ein weniger kontroverses Beispiel zu nennen: Das Recht der Roten Armee auf Vergeltung gegen die Aufständischen zur Zeit der afghanischen Besetzung. Denn Israel, obwohl es den Gaza-Streifen nicht mehr unmittelbar besetzt hält, hat immer noch Kontrolle über ihn. Jeder weiß, dass der Gaza-Streifen de facto ein Freiluftgefängnis unter israelischer Kontrolle ist und das ist natürlich eine große Einschränkung für dieses Gebiet. Und das ist einfach nicht hinnehmbar. Es gibt in diesem Land bereits Riesenprobleme, die von internationalen Organisationen als humanitäre Katastrophe bezeichnet wurden. Das ist die Realität. Und die Frage, wer dort zuerst schießt, verstellt den Blick auf das eigentliche Problem. Das große Ganze ist wesentlich wichtiger. Und das ist die Besatzung, die Unterdrückung, nicht durch die Palästinenser, sondern durch die Israelis.

David Goeßmann: Der israelische Friedensaktivist Gershon Baskin, der beteiligt war bei der Freilassung des israelischen Soldaten Gilat Shalit, hat der israelischen Zeitung Ha’aretz gesagt, dass der militärische Kommandeur  der Hamas Jabari  getötet wurde, kurz nachdem er einen Entwurf für einen dauerhaftes Friedensabkommen mit Israel erhalten habe. Darin ging es auch um die Fortführung der Waffenruhe. Ihr Kommentar.

Gilbert Achcar: Ich denke, es herrscht Einigkeit darüber, sogar innerhalb Israels, jedenfalls innerhalb der kritischen Teile der Bevölkerung, dass es sich bei diesem Krieg im Wesentlichen um einen wahltaktischen Krieg handelt. Netanjahu hat den Termin für die Wahl festgesetzt und die Leute wissen, dass heutzutage im Vorfeld von Wahlen häufig derartige Geschehnisse vorkommen, dass Regierungen glauben, damit Wählerstimmen gewinnen zu können. Darüber hinaus hat Netanjahu - wie jeder weiß - auf einen Wahlsieg Romneys bei den US-amerikanischen Präsidentschaftswahlen gesetzt. Er hat sich schon seit langem um grünes Licht für einen Militärschlag gegen den Iran bemüht. Aber sowohl die Bush-Administration als auch Obama haben ihm dieses grüne Licht nicht gegeben. Wir wissen durch eine Recherche der New York Times, dass ihm das 2008 verweigert wurde. Die Wiederwahl Obamas war also sehr frustrierend für Netanjahu und deshalb hat er den Gaza-Streifen zum Sündenbock gemacht. Das ist die einzige rationale Interpretation, sofern man bei dieser Art von Aggression von Vernunft sprechen kann. Und das wurde auch von vielen Israelis angeprangert, jedenfalls von denen, die Netanjahus Politik kritisch gegenüber stehen oder sie ablehnen. Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Regierung Netanjahu um eine rechtsextreme Regierung handelt. Es ist keine rechtskonservative Regierung. Diese Regierung ist durchaus mit den rechtsextremen Gruppen in Deutschland oder auch Frankreich vergleichbar. Eine Regierung von dieser Qualität ist in Israel an der Macht, das muss man sich vergegenwärtigen.

David Goeßmann: Der frühere ägyptische Präsident Hosni Mubarak wurde lange als verlässlicher Partner der Vereinigten Staaten und Israels angesehen. Er wurde im Arabischen Frühling dann gestürtzt. Welche Rolle hat die neue ägyptische Führung unter Mohammed Mursi und der Muslimbruderschaft in der Gazakrise gespielt. Und was kann man von ihr im Israel-Palästina-Konflikt noch erwarten?

Gilbert Achcar: Ich würde sagen, dass es mehr Kontinuität als Unterschiede zwischen Mursi und Mubarak gibt. Der Unterschied liegt mehr im Politikstil, in Aussagen und so weiter. Im Wesentlichen werden die Geheimdienste unter Mursi aber auf die gleiche Art geführt, wie unter Mubarak. Die Vermittlungserfolge zwischen Israel und der Hamas unterscheiden sich nicht von vorherigen Erfolgen, vorherigen Waffenstillstandsabkommen, die das Problem sowieso nicht lösen werden. Das Problem bleibt bestehen. Eine Waffenruhe oder was auch immer wird das Problem nicht lösen. Das Problem ist eben nicht, wie Sie gesagt haben, dass Gaza in nennenswertem Umfang an der Bombardierung oder Provokation Israels beteiligt gewesen wäre, ganz im Gegenteil. Wenn man hinter die Rhetorik der Muslimbrüderschaft schaut, jetzt wo sie in einigen Ländern an Regierungen beteiligt sind, sind sie durchaus bereit sich zu erneuern und haben dies auch gezeigt. In den Sechzigern waren sie Verbündete der Vereinigten Staaten gegen Linksnationalismus, gegen Nasser in Ägypten, gegen den Einfluss der Sowjetunion in der Region und gegen den Kommunismus. Diese Allianz ist auf gewisse Weise wieder auferstanden. Dieses Bündnis wird erneuert und das ist es, was die USA anstrebt, so hat sie auf die jüngsten Ereignisse reagiert. Denn die USA stehen vor einer bedeutenden Niederlage in der Region. Es ist ein Desaster. Der Irakkrieg war eine vollständige Niederlage. Die Vereinigten Staaten sind 2011 aus dem Irak abgezogen, ohne auch nur eines ihrer Ziele zu erreichen. Die Ziele Washingtons, die Ziele der Bush-Administration. Das war also eine schwere Niederlage. Und dann sind da noch die großen Aufstände, die die Verbündeten Washingtons stürzten, mit Mubarak als prominentestem Beispiel. Washingtons Antwort darauf, dessen Vormachtstellung in der Region sich auf einem historischen Tiefststand befindet, bestand in einem Abkommen mit der Muslimbrüderschaft, die als die konservative Kraft aus diesen Aufständen hervorgegangen ist. Es ist eine zutiefst konservative Bewegung. Auch wenn sie sich an Aufständen gegen Regierungen beteiligen, kämpfen sie nicht für den Fortschritt. Es ist in vielerlei Hinsicht eine Bewegung der sozialen und kulturellen Reaktion. Und auf diese Karte setzen die Vereinigten Staaten. Aber es überrascht uns nicht, dass ein Land, das nur vorgibt weltweit die Demokratie zu stärken, sich mit einer Gruppierung islamistischer Fundamentalisten verbündet. Das sollte niemanden überraschen, denn es ist nur eine Fortsetzung der Tatsache, dass der engste Verbündete der Vereinigten Staaten in diesem Teil der Welt der fundamentalistischste, reaktionärste, frauenfeindlichste und undemokratischste Staat der Welt ist: Das Königreich Saudi-Arabien.