02.02.2012
Share: mp3 | Embed video
Einleitung: 

Die Parlamentswahlen in Ägypten haben erwartungsgemäß die Muslimbruderschaft als Sieger hervorgehen lassen. Überraschend war allerdings das gute Abschneiden der ultra-konservativen Salafisten. die auf knapp 25 Prozent der abgegebenen Stimmen kamen. Säkulare liberale Parteien konnten dagegen nicht einmal 20 Prozent auf sich vereinen. Die Protestbewegungen befürchten, dass das Parlament weder Macht noch Einfluss haben wird. Sharif Abdel Kouddous: "Ich denke, dass seine eigentliche Rolle der Entwurf einer Verfassung ist. Es besteht jedoch die Sorge, die Muslimbruderschaft könnte eine Art Pakt mit dem Militär eingehen und diesem einen ungestörten Abgang im Sommer ermöglichen. Der Pakt würde bedeuten, dass das Militärbudget in der Verfassung vor jeglicher Haushaltskontrolle geschützt wird und denjenigen, die den Tod von Demonstranten zu verantworten haben, Straffreiheit gewährt wird."

Gäste: 

Sharif Abdel Kouddous: unabhängiger Journalist in Kairo, Korrespondent für das amerikanische Nachrichtenmagazin Democracy Now! und Fellow am The Nation Institute

Transkript: 

Fabian Scheidler: Die vorläufigen Ergebnisse der Parlamentswahlen zeigen einen Sieg für religiöse und islamistische Gruppierungen, vor altem die Muslim Brotherhood und die ultrakonservativen Salafisten. Was bedeuten diese Wahlergebnisse? Warum haben linke, liberale und andere säkularen Parteien so schlecht abgeschnitten? Welche Politik können wir nun erwarten?

Sharif Abdel Kouddous: Die Wahl ist größtenteils vorbei; nur über ein paar Sitze muss noch abgestimmt werden. Nach derzeitigem Stand wird die von der Muslimbruderschaft geführte Allianz etwa 45% der Sitze erhalten. Das ist etwas mehr als die meisten erwarteten, aber ihnen wurde von Anfang an ein hohes Ergebnis vorausgesagt. Die Muslimbruderschaft besteht seit 80 Jahren und bestreitet seit 1984 offen die Rechtmäßigkeit der Wahlen. Unter Mubarak war sie zwar verboten, wurde jedoch geduldet und schickte viele Mitglieder als unabhängige Kandidaten ins Rennen. Sie besitzt ein ausgedehntes Basisnetzwerk, das im Wahlkampf sehr wirkungsvoll ist. Ihre politische Maschinerie ist gut geölt und sie versteht sich darauf, die Menschen in die Wahllokale zu bringen. Daher wurde sie von allen als Favorit und künftiger Königsmacher im Parlament gehandelt. Ihr Ergebnis mag die Erwartungen noch übertroffen haben, aber sie konnte sich ihres Sieges sicher sein. In den letzten Monaten stand sie in einem gespannten Verhältnis zu weiten Teilen der revolutionären Jugend, die ihr vorwarfen, mit dem Militärrat gemeinsame Sache zu machen, um die Wahl unter Dach und Fach zu bringen. Eine große Überraschung war der Erfolg der Partei des Lichts (Hizb Al-Nur) und der ultrakonservativen Salafisten, die zwischen 20 und 25% der Stimmen erreicht haben. 2 Viele hat dies verwundet, viele auch schockiert. Niemand weiß genau, warum sie so erfolgreich waren, aber sie haben einen einfachen Ansatz, um Wähler zu erreichen, und zwar über die Moscheen. Sie konnten die Stimmen der unteren, ärmeren Schichten für sich verbuchen, eines Teils der Bevölkerung, dem weder die liberalen Kräfte, noch die Muslimbruderschaft Beachtung geschenkt haben.

Fabian Scheidler: Wer sind die Salafisten genau?

Sharif Abdel Kouddous: Sie predigen eine sehr strenge Form des Islam. Ihr Standpunkt ist schwer zu definieren, aber sie befürworten eine Rückkehr zur Zeit der Propheten und ihren Werten. Sie vertreten dogmatische Ansichten zu Frauen, Alkohol und Recht und wollen die Scharia zum Gesetz Ägyptens machen. Einigen Berichten zufolge erhalten sie hohe Summen von Gruppen aus Saudi-Arabien und anderen Golfstaaten. Hosni Mubarak soll sie angeblich gefördert haben, um ein noch radikaleres Gegengewicht gegen die immer beliebtere Muslimbruderschaft zu schaffen und diese Politik wirkt heute nach. Danach kommen natürlich die liberalen Parteien. Die Wafd-Partei, eine alteingesessene liberale Partei, ist die drittstärkste Kraft. Auf sie folgt die Ägyptische Allianz, ein Zusammenschluss von drei liberalen Parteien. Diese liberalen Parteien sind zwar säkular, repräsentieren aber nicht unbedingt die revolutionäre Jugendbewegung. Sie hatten kaum Zeit, sich auf die Wahl vorzubereiten und außerdem Schwierigkeiten, im Wahlkampf ihren Platz zu finden, was ihnen sehr geschadet hat. Für viele Wähler war die ägyptische Allianz nur eine Alternative zur Muslimbruderschaft. Sie haben sie gewählt,  ohne die Kandidaten zu kennen. Es sollte keine islamistische Partei an die Macht kommen. Die Wafd-Partei und die Ägyptische Allianz haben jeweils etwa 8% der Stimmen erhalten.

Man muss sich allerdings den Kontext dieser Wahlen vergegenwärtigen: Sie begannen am 28. November, nur eine Woche nach den heftigsten Straßenkämpfen seit Mubaraks Rücktritt, bei denen 45 Menschen ums Leben kamen. Das war ein neuer Aufstand der Ägypter gegen die Militärherrschaft, der Feldmarschall Tantawi zwang, erstmals eine Fernsehansprache zu halten, in der er eine Machtübergabe bis Ende Juni 2012 versprach. Als die Wahlen stattfanden, klinkte sich die Muslimbruderschaft aus den Protesten aus und zog damit die Empörung vieler Aktivisten auf sich, die ihr vorwarfen, nur auf Macht und Sitze im Parlament aus zu sein. Anfang November brachte das Militär seine Absichten hinsichtlich des Parlaments und des Verfassungsentwurfs sehr deutlich zum Ausdruck: Der Vize-Premierminister Ali Al-Silmi setzte das sogenannte Silmi-Papier auf, das eine Reihe von Verfassungsgrundsätzen enthielt. Darin verlangt das Militär ausdrücklich einen geheimen Etat, der keinerlei Überwachung durch das Parlament, den Präsidenten oder eine andere zivile Institution unterliegt. Auch sollen alle die Armee betreffenden Gesetze der Zustimmung durch die Armee selbst bedürfen. Von den 100 Mitgliedern der verfassungsgebenden Versammlung sollen 80 vom Militär bestimmt werden, das sich zudem ein Vetorecht gegen Teile der Verfassung vorbehält sowie das Recht, die Versammlung aufzulösen, falls sie nicht innerhalb von sechs Monaten einen Entwurf vorlegt. Das löste eine Welle der Empörung aus. Das Militär hat außerdem selbst die Regierung ernannt. Der amtierende Premierminister Kamel Al-Gansuri und sein gesamtes Kabinett wurden vom Militär eingesetzt. Viele befürchten, dass das Parlament weder Macht noch Einfluss haben wird. Ich denke, dass seine eigentliche Rolle der Entwurf einer Verfassung ist. Es besteht jedoch die Sorge, die Muslimbruderschaft könnte eine Art Pakt mit dem Militär eingehen und diesem einen ungestörten Abgang im Sommer ermöglichen. Der Pakt würde bedeuten, dass das Militärbudget in der Verfassung vor jeglicher Haushaltskontrolle geschützt wird und denjenigen, die den Tod von Demonstranten zu verantworten haben, Straffreiheit gewährt wird. Denn sonst müssten sie vor Gericht gestellt werden, wie derzeit Mubarak. Nach dem aktuellen Zeitplan der Armee soll das Parlament erstmals am 23. Januar, zwei Tage vor dem Jahrestag der Revolution, zusammentreten und eine verfassungsgebende Versammlung mit 100 Mitgliedern einberufen. Diese soll einen Verfassungsentwurf aufsetzen, über den das Volk bis zum 15. Mai abstimmen darf. Viele halten diesen Zeitplan jedoch für völlig unrealistisch. Danach sollen die Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen nun mit ihrem Wahlkampf beginnen, damit bis Ende Juni die Machtübergabe erfolgen kann. Einige Aktivisten haben die Wahlen boykottiert, aber sie waren in der Minderheit. Nun wird bei den jungen Revolutionären aber die Forderung laut, der Militärrat solle die Macht sofort dem Parlament als einziger gewählter Institution übergeben. Sie sehen keinen Sinn in einer Fortsetzung der Übergangsherrschaft des Militärrates, da dessen Entscheidungsprozesse undurchsichtig und verwirrend sind und er offenkundig nicht gewillt ist, Macht abzugeben. Sie fordern daher eine sofortige Übergabe der Staatsgewalt und versuchen eine Einigung hierüber zu erzielen, aber die Muslimbruderschaft hat erklärt, am Zeitplan der Armee festhalten zu wollen. Das ist die aktuelle Lage. Die künftige Entwicklung ist schwer vorherzusehen, da sich die Zeitabläufe, die Entscheidungskompetenzen und die Bündnisse fast täglich ändern.