27.02.2019
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Einleitung: 

Einsamkeit inzwischen epidemische Ausmaße an und verursacht schwere psychische und physische Erkrankungen. Die Wurzeln dieser Epidemie liegen, so Monbiot, in der neoliberalen Wirtschaftsweise und Ideologie, die uns einredet, Menschen seien von Natur aus eigensüchtige Einzelgänger, die in einem “Krieg aller gegen alle” konkurrieren. Die Befunde von Sozialpsychologie, Anthropologie und Evolutionsbiologie zeigen hingegen, dass die wichtigsten Grundwerte von Menschen Gemeinschaftssinn und Altruismus sind. Die Atomisierung der Gesellschaft durch den Neoliberalismus schaffe auch die Voraussetzung für den Wiederaufstieg rechter Demagogen und Faschisten, die den entfremdeten Menschen in einem politischen Vakuum ein Gefühl von Zusammengehörigkeit versprechen.

Gäste: 

George Monbiot, Kolumnist beim Guardian und Buchautor ("United People: Manifest für eine neue Weltordnung", "Hitze", "Out of the Wreckage. A New Politics for an Age of Crisis")

Transkript: 

Fabian Scheidler: Willkommen bei Kontext TV, George Monbiot.

George Monbiot: Herzlichen Dank, Fabian.

Fabian Scheidler: In ihrem letzten Buch schreiben Sie von einer weltweiten Epidemie der Einsamkeit. Was hat es damit auf sich, und inwieweit ist unser Wirtschaftssystem daran schuld? George Monbiot: Bei einer Weltbevölkerung von sieben Milliarden ist es schon bemerkenswert, dass viele Menschen keinen echten Freund haben. Mittlerweile zeigen Zahlen aus einer Reihe von Ländern, dass diese schreckliche Krankheit der Einsamkeit nicht, wie man lange glaubte, nur alte Menschen befällt, sondern Menschen aller Generationen. Und gleichzeitig zeigt sich, dass sie furchtbare Folgen sowohl für das psychische als auch das körperliche Wohlbefinden von Menschen hat. Studien deuten darauf hin, dass chronische Einsamkeit genauso schädlich für den Körper ist wie 15 Zigaretten am Tag und doppelt so schädlich wie Übergewicht. Einsamkeit reduziert die Lebenserwartung und schadet der Gesundheit insgesamt, auch dem Herz-Kreislauf-System. Wir können nicht alleine überleben, wir zerstören uns selbst, wenn wir es versuchen. Doch unser entfremdendes Wirtschaftssystem zwingt uns in die Einsamkeit, weil es uns vorspiegelt, dass Alleinsein unser natürlicher Zustand sei. Die dominante Denkweise unserer Zeit, die sich grob als Neoliberalismus beschreiben lässt, gründet auf der Annahme, dass Menschen grundsätzlich gierige, egoistische Wesen sind, die ständig miteinander kämpfen. Dahinter steht Bild einer Menschheit, die sich gegenseitig bekriegt, wie der Philosoph Thomas Hobbes einst behauptete. Das aber hat sich als falsch erwiesen, dieses Menschenbild passt nicht zu den Erkenntnissen der Sozialpsychologie, der Anthropologie und der Evolutionsbiologie über das menschliche Verhalten. Wir tragen zwar alle auch Egoismus und Gier in uns, aber unsere Grundwerte sind Altruismus, Gutmütigkeit, Gemeinschaftssinn und Familiensinn. Das sind die dominanten Eigenschaften des Menschen. Wir sind im Große und Ganzen eine Gesellschaft der Altruisten, die von Psychopathen regiert wird. Aber unser Selbstbild ist ein anderes, und das schlägt sich auch in der Sprache nieder. Wir schieben ständig das Wort „persönlich“ ein, als müssten wir uns vom Rest der Welt abgrenzen. „Ich persönlich“, sagen wir, als gäbe es noch ein anderes ich. Wir haben „persönliche Beziehungen“, die wir den „unpersönlichen“ vorziehen. Wir sagen: „Aber das ist nur meine persönliche Meinung“ – früher auch einfach bekannt als „meine Meinung“. Wir sprechen nicht mehr von Menschen, sondern von Individuen. Wir idealisieren den einsamen Cowboy oder den Einzelunternehmer, den Selfmade-Man oder die Selfmade-Frau. Wir treiben uns selbst in die Einsamkeit. Unser Wirtschaftssystem sorgt dafür, und wir sehen uns auch so. Aber die Grundannahmen stimmen nicht. Das ist ein Teil der extremen Entfremdung, unter der so viele Menschen leiden.

Fabian Scheidler: In vielen Ländern, darunter Frankreich, Großbritannien, Deutschland und Italien, sind rechtsextreme Kräfte auf dem Vormarsch. In Brasilien wurde Jair Bolsonaro, ein Faschist, zum Präsidenten gewählt. Wie hängt der Erfolg rechter Politik und rechter Demagogen mit dem Neoliberalismus zusammen und warum folgt auf 40 Jahre Neoliberalismus keine Wende zu progressiven Ideen?

George Monbiot: Der Neoliberalismus erklärt ja letztlich die Politik für überflüssig und behauptet, gesellschaftlicher Wandel könnte nur durch den sogenannten Markt hervor-gebracht werden, womit tatsächlich die ungleich verteilte Macht der Wirtschaft gemeint ist. Natürlich schmeichelt den Verfechtern der neoliberalen Agenda, den Milliardären der Welt, der Gedanke, dass nur die Sphäre, die sie selbst kontrollieren, einen legitimen Einfluss auf die Gestaltung von Gesellschaften hat. Dieses Denken wurde nach und nach nicht nur von der Rechten, sondern auch von ehemals linken Parteien wie der Labour-Partei in Großbritannien oder den Demokraten in den USA übernommen und avancierte zur politischen Lehrmeinung. Die Politik schafft sich dabei selbst ab. Politiker werden zu Managern, zu Technokraten, die eine Gesellschaft nur verwalten, anstatt sie zu gestalten, weil der Politik das Gestaltungsrecht abgesprochen wird. Damit nimmt sich die Politik auch die Möglichkeit, soziale Gerechtigkeit zu schaffen. Es entsteht ein staatsfeindlicher Staat, der seine eigenen Aufgabenbereiche beschneidet und eine Regierung ohne Regierungsanspruch. In diesem Vakuum suchen Menschen nach Alternativen, und wenn die großen Parteien eines Landes mit ihrer Politik keine Alternativen anbieten, sucht man sich anderswo welche. Und dann kommt jemand und sagt: Wir stehen über der Politik, wir machen keine Politik, wir werden die egozentrischen Eliten wegfegen, die an euch vorbei diskutieren und sich nicht für euer Leben interessieren. Wir sorgen dafür, dass ihr stolz auf euch sein könnt, indem wir euch Slogans und Symbole geben. So funktioniert Faschismus und er erfüllt ein Bedürfnis. Dieses Gefühl, enteignet, entfremdet und entrechtet zu sein, ist unheimlich stark. Darauf reagiert der Faschismus, indem er sagt: Wir verstehen das, wir verstehen diese Gefühle und wir bieten euch eine Gemeinschaft an, eine Gemeinschaft, in der alle sind wie ihr, mit derselben Hautfarbe, den gleichen Sprüchen, dergleichen Musik – wenn man das Musik nennen will – und denselben Märschen. Er schafft eine Zusammenhalt in einem zusammenhangslosen Leben. Laut Hannah Arendt ist Faschismus eine Antwort auf die Atomisierung der Massen. Wenn eine Gesellschaft zerbricht und die Menschen sich ihr nicht zugehörig fühlen, werden sie für diese Art von Bewegungen empfänglich, die ein sehr starkes Zugehörigkeitsgefühl vermitteln, durch Uniformen und dergleichen.

Fabian Scheidler: Sie sprachen davon, dass der Neoliberalismus dem Staat das Regieren abnimmt. Gleichzeitig sind aber bestimmte Bereiche des Staates, wie das Militär, stärker geworden. Weltweit wachsen die Rüstungsausgaben und autoritäre Herrschaftsformen greifen um sich, sogar in Europa. Will der Neoliberalismus den Staat wirklich abschaffen, oder ihm nur eine andere Rolle zuweisen?

George Monbiot: Der Neoliberalismus hindert den Staat daran, in das soziale Gefüge einzugreifen, außer falls dies den wirtschaftlich Mächtigen zu noch mehr Macht verhilft. Die Umverteilung von Wohlstand und Macht von den Reichen und Mächtigen zu den Armen und Machtlosen soll dem Staat untersagt werden. Der Neoliberalismus beraubt den Staat seiner Schlüsselrolle, nämlich seiner Schutz- und Umverteilungsfunktion. Die Bereitstellung öffentlicher Dienstleistungen und die Schaffung sozialer Sicherungsnetze werden unterbunden. Aber Sie haben Recht, der Staat wird auch instrumentalisiert, um bestimmten Industrien zu mehr Macht zu verhelfen, zum Beispiel der Sicherheitsbranche. Die nämlich blüht und gedeiht in dem Klima der Unsicherheit und Angst, das der Neoliberalismus erzeugt. Auch andere Industrien, die in einem demokratischen System abgeschafft würden, werden protegiert, zum Beispiel die fossilen Brennstoffe. Warum baut Deutschland immer noch Braunkohle ab und warum subventioniert Großbritannien die Ölförderung? Weil das System nicht im Sinne unserer Bürger oder auch der restlichen Weltbevölkerung funktioniert, sondern im Interesse extrem mächtiger Konzerne und Finanzinstitute. Erst durch die Aushebelung der Schutz- und Umverteilungsfunktionen des Staates, entsteht ein Raum, in dem sozialfeindliche Wirtschaftszweige und Praktiken sich ausbreiten können. Es gibt ein Phänomen, das ich als Paradoxon der Verschmutzung bezeichne, und das besonders in Ländern wie den USA oder Großbritannien zutage tritt, wo die Regeln zur Parteifinanzierung äußerst locker sind. Es besagt, dass gerade den schmutzigsten Firmen am meisten daran gelegen ist, die Politik zu finanzieren, also den Firmen die entweder die Umwelt direkt verschmutzen oder mit fragwürdigen Finanzprodukten wie verbrieften Hypotheken sozialen Schaden anrichten. Diese Firmen hätten in einer gesunden Demokratie keinen Bestand, weil wir nicht zulassen würden, was sie uns antun, etwa wie Sie unsere Luft verpesten. Also müssen sie sich von der Demokratie loskaufen, und daher sind es diese Firmen, die am meisten Geld in die Politik stecken, damit diese nach ihrer Pfeife tanzt und sie den Markt dominieren können. Die sauberen Firmen hingegen werden verdrängt, weil sie mit denen, die mit schmutzigen Praktiken Kosten einsparen, nicht mithalten können. Auf diese Weise wird die Politik von denjenigen Interessen bestimmt, die der Gesellschaft am meisten schaden.