05.10.2012
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Einleitung: 

Die Vorsitzenden der beiden großen Regierungsparteien, Antonis Samaras und Giorgos Papandreou, haben ihre Parteien schriftlich dazu verpflichtet, sich „unabhängig von politischen Entwicklungen“  – also auch von Wahlen – den Sparkonditionen der Troika zu beugen. Das sei Politik im Kolonialstil, sagt Marica Frangakis, die Zukunft des Landes werde an die Troika verpfändet. Doch nicht nur mit dem Linksbündnis Syriza sondern auch durch neue Solidaritätsnetzwerke, Streiks und Demonstrationen wehren sich die Griechen gegen das Diktat. Gewalt würde vor allem von der Polizei ausgehen. Auch die Aktivität von Polizisten in Zivil, die sich als Provokateure unter die Demonstranten mischen, sei dokumentiert.

Gäste: 

Marica Frangakis, Vorstandsmitglied des Nicos Poulantzas Instituts, Athen, und Mitglied der EuroMemorandum-Gruppe

Transkript: 

Fabian Scheidler: A propos Wahlen: Die zwei Parteien, die Pasok und die Nea Dimokratia, die seit Jahrzehnten Griechenland regieren und in die jetzige Lage gebracht haben, regieren immer noch. Wie sieht jetzt die politische Situation nach den Wahlen aus?

Marica Frangakis:: Als Griechenland das zweite Rettungspaket gewährt wurde, hat die Troika darauf bestanden, dass die Köpfe der zwei großen Parteien – Pasok und Nea Dimokratia – unterschriebene Briefe vorlegen, in denen die jeweilige Partei sich verpflichtet, die Vertragsbedingungen der Rettungspakete einzuhalten, und zwar unabhängig von politischen Entwicklungen. Die Briefe sind im Internet, man kann sie herunterladen. Der derzeitige Premierminister Samaras hat einen solchen Brief unterschrieben. Darin steht sinngemäß, dass er unabhängig von politischen Entwicklungen - mit anderen Worten: unabhängig davon, was in den nächsten Wahlen geschieht - seine Partei - nicht sich selbst - verpflichtet, den Bedingungen des Rettungspaketes zu folgen. Papandreou tat das Gleiche für Pasok. Und wiederum verpflichtete er die Partei, nicht sich selbst.  Sogar wenn Passok einen anderen Parteiführer hätte, wäre die Partei verpflichtet. Diese Verpflichtungen sind als politische Absicherungsklausel im 2. Rettungsabkommen bekannt. Es ist Politik im Stil des Kolonialismus: „Ich leihe dir Geld, aber du versprichst, dass deine Zukunft mir gehört. Daher kann ich die Bedingungen diktieren, was du mit deiner Zukunft machst.“ Nach den Wahlen im Mai, nach dem ersten Wahlgang – normalerweise haben wir nur einen Wahlgang – wurde das linke Bündnis Syriza eingeladen sich der Regierung anzuschließen. Syriza war wieder die Nummer zwei geworden. Die Nummer eins, die Nea Demokratia, hatte nur 18 %, kaum mehr als Syriza. Obwohl die drei Parteien, die jetzt eine Koalition bilden, auch damals im Mai die Regierung hätten bilden können, bestanden sie darauf, dass Syriza sich der Regierung anschließt. Nun sagte aber Syriza nein: wir können uns dem, was ihr bereits unterschrieben habt, was ihr versprochen habt, nicht anschließen, wir haben eine völlig andere Agenda. Daher gab es Neuwahlen und jetzt haben wir eine Regierung, eine Koalitionsregierung, die knapp über 50 % der Stimmen hält. Aber das neue Element besteht darin, dass die Hauptoppositionspartei, Syriza, keinen derartigen Brief unterschrieben hat, keine sogenannten politische Versicherungen an die Troika abgegeben hat. Das ist ein neues Element.

Fabian Scheidler: Wie organisiert sich Widerstand in Griechenland? Wir hören eine Menge über Straßenschlachten, Protest, Streiks, jedoch kaum etwas darüber, was sich hinter dem Widerstand verbirgt.

Marica Frangakis:: Ein Teil des Widerstandes hängt mit dem Solidaritätsnetzwerk zusammen, das Griechen in vielen Bereichen gegründet haben. Das ist ein neues Phänomen, ein sehr positives Phänomen. Es gibt Netzwerke von Ärzten, die kostenlose Gesundheitsdienste erbringen; Lehrer, die gratis Nachhilfe erteilen; Gruppen, die Tauschhandel betreiben usw. Das geschieht in großem Umfang und es ist ein sehr positives Element. Es ist Teil des Widerstandes gegen das, was passiert, und bewahrt den Menschen ihre Würde. Und natürlich hilft es den Schwächeren diese Krise zu überleben. Das andere Element des Widerstandes besteht darin, zu verstehen, was passiert. Die Tatsache, dass bei der zweiten Wahl 27 % der Wähler für die radikale Linke stimmten, bedeutet nicht, dass sie alle Linke geworden sind, es bedeutet aber, dass sie ihr Misstrauen gegenüber der Linken überwinden bzw. ihre Gleichgültigkeit verlieren. Es ist ein Zeichen, dass das politische Establishment so schwach geworden ist, dass es sich entweder umstrukturieren oder seinen Platz für neue politische Kräfte räumen muss. Das ist ein anderes positives Element des Widerstandes. Es gibt auch Demonstrationen und Streiks. Wir haben zum Beispiel den Verkauf der Agrarbank, von der ich sprach. Diese Bank - aber auch andere Banken - wurde jeweils für einen Tag in der Woche bestreikt. Widerstand kann auch diese Gestalt annehmen. Wenn es um Straßenschlachten geht, müssen wir genau hinschauen. Die meisten Demonstranten sind friedliche Leute, sie demonstrieren nicht, um Gebäude niederzubrennen oder um gegeneinander zu kämpfen. Wir erleben aber ein massives Polizeiaufgebot, auch parastaatliche Mechanismen; es gibt Polizisten, die sich ohne Uniform unter die Demonstranten mischen, um zu provozieren; das ist dokumentiert. Es handelt sich nicht um Einbildungen der Leute, es ist belegt.

Gewalt geht nicht von den Demonstranten aus, sie gehört nicht zur Mentalität der Leute, die gegen die Sparmaßnahmen demonstrieren. Gewalt ist Bestandteil der Mentalität des parastaatlichen Mechanismus und leider auch der Reaktion der Polizei. Ich befürchte daher, dass wir noch nicht das Ende der Gewalt sehen, da hierfür der Abbau der repressiven Strukturen auf Seiten der Polizei erforderlich wäre, und man daher nie sicher sein kann, das man dieses Phänomen überwunden hat. Was aber die Demonstranten angeht: Als im vergangenen Jahr die Indignados-Bewegung aufkam, die den Platz unmittelbar vor dem Parlament für mehr als einen Moment besetzt hatte, haben die Demonstranten jede Nacht den Platz gesäubert und den Marmor geputzt. Es wurde ein kleine Gemeinschaft gegründet, es wurden so etwas wie kommunale Dienstleistungen geschaffen, es gab Ärzte, wo sie benötigt wurden, undsoweiter. Die Demonstranten waren in der Lage sich selbst zu organisieren, sich um die Effizienz dessen zu kümmern, was sie erreichen wollten.

Fabian Scheidler: Vielen Dank, Marica Frangakis.