04.11.2011
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Introduction: 

Die Krise und die von der EU verordneten drastischen Sparmaßnahmen haben in Griechenland zu einer humanitären Krise geführt, sagt Aris Chatzistefanou unter Berufung auf die Organisation "Ärzte der Welt". Erstmals seit dem 2. Weltkrieg sei weit verbreitete Unterernährung von Kindern zu beobachten. Die sozialen Errungenschaften der letzten hundert Jahre würden zerstört. Verantwortlich sei zum einen ein krisenhaftes Weltfinanzsystem und eine Fehlkonstruktion der Eurozone; zum anderen die Sparauflagen durch EU, EZB und Internationalen Währungsfonds (IWF), der mit so genannten Strukturanpassungsmaßnahmen bereits in vielen Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Asiens für Verarmung und Zerstörung sozialer Infrastruktur gesorgt hat - und für rigorose Privatisierung, wie sie nun auch in Griechenland, nach dem Modell der deutschen Treuhand, durchgeführt werden soll.

Guests: 

Aris Chatzistefanou, Filmemacher aus Athen, Regisseur des Dokumentarfilms "Debtocracy", der bereits von 1,5 Millionen Zuschauern in Griechenland und weltweit gesehen wurde

Transcript: 

Fabian Scheidler: Willkommen bei Kontext TV, Aris Chatzistefanou.

Danke für Ihre Einladung.

Fabian Scheidler: Wie heißt Ihr Film, worum geht es darin und wie wurde er in Griechenland und anderswo aufgenommen?

Aris Chatzistefanou: Unser Dokumentarfilm heißt "Debtocracy", ein Wortspiel aus dem Englischen "debt" - Schulden - und "democracy". Wir glauben nämlich, dass die Schuldenkrise in Griechenland und anderen Ländern der europäischen Peripherie nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Demokratie betrifft. Im Grunde ist sie ein politischer Konflikt. Wir wollten dem griechischen Publikum erklären, dass die Europäische Zentralbank, die griechische Regierung, oder auch die deutsche im Unrecht sind, wenn sie behaupten, wir seien an allem schuld, weil wir mehr ausgegeben hätten, als wir je wieder herein verdienen können. Vielmehr ist der Hauptgrund eine strukturelle Krise des gesamten Finanzsystems, die nicht in den Jahren 2007/2008 sondern in den späten 60ern und frühen 70ern begonnen hat. Damals fand man eine Übergangslösung im Neoliberalismus, auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung. Das Finanzsystem wurde eine Zeit lang am Leben erhalten, bis sich 2007/2008 zeigte, dass es nicht mehr lebensfähig war, da die zu seiner Erhaltung nötigen Wachstumsraten nicht mehr garantiert werden konnten. Neben den strukturellen Mängeln des Weltfinanzsystems wollten wir auch die Strukturschwächen der Eurozone ansprechen, denn auch sie leidet an einem Grundproblem: Sie bringt an der europäischen Peripherie Haushaltsdefizite und Schulden hervor, während im Zentrum Europas, in Deutschland oder Frankreich Überschüsse entstehen. Natürlich hat Griechenlands Wirtschaft erhebliche Probleme, aber selbst wenn dort alles tadellos funktionierte, würde dieses System weiterhin zu einer Verschuldung führen. Daher ist mittlerweile sogar die Möglichkeit eines Austritts aus dem Euro-Währungsraum im Gespräch, obwohl dies im letzten Jahrzehnt immer tabuisiert wurde. Wir wissen, dass auch das nicht einfach wäre und neue Schwierigkeiten brächte, aber der Vorschlag ist auf dem Tisch und wird diskutiert. Unser Anliegen waren die strukturellen Probleme im Weltfinanzsystem, in der Eurozone und natürlich auch in der griechischen Wirtschaft. Sie sind der Grund für die Verschuldung und nicht das Verhalten der Menschen.

Fabian Scheidler: Welche Auswirkung hat die Krise hinsichtlich Beschäftigung, Bildung,  und anderer öffentlicher Aufgaben auf die griechische Bevölkerung?

Aris Chatzistefanou: Die griechische Regierung betreibt zurzeit, indem sie den Anweisungen der EZB und des IWF nachkommt, eine Art sozialen Massenmord. Zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg haben kleiner Kinder nicht mehr genug zu essen. Vor einigen Monaten, Jahren oder Jahrzehnten wäre das noch undenkbar gewesen. Das griechische Sozialwesen fällt der vollständigen Zerstörung anheim. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 16% und wird sicherlich in den nächsten Monaten auf mehr als 20% ansteigen. Die griechische Regierung versucht, das Arbeitsrecht des 19. Jahrhunderts wieder einzuführen. Die arbeitsrechtlichen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts werden über Bord geworfen. Das beste Beispiel für die desaströsen Zustände im Zentrum Athens ist "Ärzte der Welt", eine Organisation die sonst in Subsahara-Afrika, in Ländern wie Uganda oder Äthiopien tätig ist. Jetzt ist sie in Athens Stadtmitte im Einsatz und ihr Vorsitzender erklärte mir, dort sei eine humanitäre Krise ausgebrochen. Überall wo der IWF einschreitet, gibt es die gleiche Entwicklung.

Fabian Scheidler: Bezeichnenderweise gingen ja auch die Strukturreformen in der dritten Welt seit den 80er Jahren vom IWF aus. Passiert dasselbe jetzt in Griechenland?

Aris Chatzistefanou: Einige behaupten, der IWF habe sich verändert, aber das stimmt nicht. Er macht jetzt genau dasselbe wie in Südamerika, in Afrika oder in den armen Ländern Asiens. Er zerstört das Sozialwesen, um die Löhne zu drücken und alles zu privatisieren. Das werden wir auch in unserem nächsten Dokumentarfilm ansprechen sein, weil wir gesehen haben, was in Argentinien oder Ecuador passiert ist, als der IWF sich einmischte, um das gesamte öffentliche Eigentum zu veräußern und zu privatisieren. Genauso verfährt er in Griechenland und hat sogar dieselben Leute geschickt, zum Beispiel Bob Traa, der die IWF-Mission in Ecuador geleitet hat und dort den Stromversorger privatisieren wollte. Jetzt arbeitet er in Athen, in einem europäischen Land, nach dem gleichen Muster wie in den so genannten Ländern der Dritten Welt.

Fabian Scheidler: Es gab auch den Vorschlag, eine Institution nach dem Vorbild der deutschen Treuhand zu schaffen. Was halten Sie von dieser Parallele?

Aris Chatzistefanou: Das war eine Idee Jean-Claude Junckers, der meint, man müsse alles privatisieren und der Verkauf des Staatseigentums der DDR durch die Treuhand sei das beste Modell für Griechenland. Wer Zeitung liest, weiß natürlich um die Skandale im Zusammenhang mit der Treuhand und die Millionen Menschen, die ihren Arbeitsplatz verloren haben. Wir wissen also, dass man diesem Beispiel nicht folgen darf, obgleich die Lage nicht ganz vergleichbar ist. Griechenland ist nicht die DDR, es hat eine ganz andere Volkswirtschaft. Aber wir wollen die Irrtümer der Treuhand trotzdem nicht wiederholen.