20.05.2015
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Einleitung: 

Die zunehmenden ökonomischen und politischen Verwerfungen, von der Ukraine über den Mittleren Osten und Nordafrika bis zur Eurokrise, seien Symptome einer weltweiten systemischen Krise, so Immanuel Wallerstein. Das globale kapitalistische System stoße an seine Grenzern, weil ihr Motor, die endlose Akkumulation von Kapital, ins Stottern geraten sei. Darüber könne auch der Erfolg von Einzelunternehmen wie Apple nicht hinwegtäuschen. Eine der Ursachen für die Krise sei die Tatsache, dass weltweit immer mehr Arbeit durch Maschinen ersetzt wird, und zwar auch in den Dienstleistungsberufen der Mittelklasse. Die Folge: Immer weniger Menschen haben das Geld, um die produzierten Warenmassen aufzukaufen, Investitionen lohnen sich kaum noch, die Spekulation blüht. Diese Situation könne innerhalb des Systems nicht gelöst werden, sondern erst, wenn aus der chaotischen Übergangsphase, in der wir uns befinden, etwas ganz Neues entstanden sei.

Gäste: 

Immanuel Wallerstein, Senior Research Scholar an der Yale University, USA. Mitbegründer der Weltsystem-Theorie, von 1994-1998 Präsident der International Sociological Association und Autor zahlreicher Bücher

Transkript: 

Fabian Scheidler: Professor Wallerstein, wir haben uns vor vier Jahren in Dakar im Senegal getroffen und über die wachsende Instabilität des kapitalistischen Weltsystems gesprochen. Seither ist eine Menge geschehen: Aufstieg und Scheitern des Arabischen Frühlings, die forcierte Krise in Südeuropa und der Eurozone, die Ukrainekrise sowie der Aufstieg des Islamischen Staates in Irak, Syrien, Libyen und anderswo. Befinden wir uns auf dem Weg in eine immer größere globale Instabilität, und wenn ja, warum?

Immanuel Wallerstein: Ja, wir befinden uns definitiv auf dem Weg in eine immer größere globale Instabilität. Warum das so ist? Wir erfahren einen systemischen Wandel, wir stecken in einer systemischen Krise des kapitalistischen Weltsystems, das auseinanderfällt und tatsächlich sterben wird. Wir stehen mitten in einer Übergangsphase von vielleicht 60 bis 80 Jahren, daraus resultieren die enormen chaotischen Schwankungen in der Wirtschaft, in der geopolitischen Lage, im Alltagsleben, in allen Dingen. All die Erscheinungen, die Sie angesprochen haben, sind schlicht Teil dieser chaotischen Unruhe, die unkontrollierbar ist und den Menschen Angst macht. Und zwar zu Recht, denn dies ist eine überaus brenzlige Situation, sowohl auf der persönlichen als auch auf der systemischen Ebene. Also ja, wir leben in einer Krise, und es wird schlimmer, nicht besser. Es wird solange nicht besser werden, bis sich die Situation in der einen oder anderen Weise klärt, indem die Sache in die eine oder andere Seite der Weggabelung kippt, an der wir stehen.

Fabian Scheidler: In Ihrer wissenschaftlichen Analyse sprechen Sie von einem fünfhundert Jahre alten System, das seinem Ende entgegengeht.

Immanuel Wallerstein: Ja, das stimmt.

Fabian Scheidler: Was genau geht da zu Ende und welche Perspektiven entstehen dadurch?

Immanuel Wallerstein: Es handelt sich um ein System, das auf der unaufhörlichen Anhäufung von Kapital beruht. Um Kapital anzuhäufen, muss man Profite mittels produzierender Unternehmen erzeugen. Es ist eine Tatsache, dass die Kosten der Produktion so stark gestiegen und die Möglichkeiten auf der Nachfrageseite so stark gesunken sind, dass es kaum noch funktioniert, Profite zu generieren, und folglich auch keine Kapitalakkumulation mehr stattfindet. Schon immer waren viele Menschen mit dem kapitalistischen System unzufrieden, aber nun gibt es –zusätzlich zu dieser Unzufriedenheit an der Basis – die Einsicht seitens der Kapitalisten selbst, dass es sich nicht mehr lohnt, dass sie kein Kapital mehr anhäufen können. Und deshalb wird die Frage laut, mit welchen alternativen Instrumenten sie ihren Wohlstand, ihre Macht und ihre Privilegien sichern können. Wir haben eine Situation, in der – aus den verschiedensten Gründen – eigentlich keine der beiden Seiten mehr die Weiterführung des Systems wünscht, und die Frage, die sich uns aufdrängt, heißt nicht: Mögen wir das System oder mögen wir dieses System nicht, sondern: Welches System soll das herrschende System ersetzen? Es gibt nach meiner Einschätzung zwei grundlegende Möglichkeiten, eine bessere und eine schlimmere.

Fabian Scheidler: Die Behauptung, dass eine Kapitalakkumulation nicht länger möglich sei, klingt ein wenig ungewohnt, wenn man sich ansieht, welche riesigen Profite Firmen wie Apple oder Exxon Mobil erzielen. Wie sehen Sie das?

Immanuel Wallerstein: Natürlich, sie machen hohe Profite, aber der springende Punkt, um den es hier geht, ist nicht das so genannte Wachstum, für das Apple ein gutes Beispiel ist. Denken Sie daran, dass auch der Krebs eine Form des Wachstums ist, also durchaus nicht notwendig etwas Gutes. Der springende Punkt, den man im Auge haben sollte, ist die Beschäftigung, und zwar der weltweite Stand der Beschäftigung, denn die nationale Ebene ist hier ziemlich irrelevant. Ob in einem Land die Beschäftigungsrate wächst oder sinkt, ist auf der globalen Ebene prinzipiell nicht entscheidend. Und hier steigt die Arbeitslosigkeit ununterbrochen. Es ist eine Tatsache, dass Unternehmen, die heutzutage gegründet werden und wo noch Geld zu machen ist, nicht viele Menschen beschäftigen. Darin besteht heute das Problem. Nicht nur gering qualifizierte Arbeitnehmer werden nicht mehr gebraucht, weil sie durch Maschinen ersetzt werden, sondern auch hoch qualifizierte Arbeitnehmer werden nicht mehr gebraucht. Die Angestellten der Mittelklasse werden nicht mehr benötigt, auch sie werden durch die verschiedensten Mechanismen ersetzt. Das nutzt dem einzelnen Unternehmen, aber es bedeutet, dass es niemanden mehr gibt, der die Produkte auch kaufen kann, und darin besteht das eigentliche Problem. Wenn niemand mehr die Produkte kaufen kann, ist es sinnlos, Geld in die Produktion zu stecken. Und so erklärt sich der allgegenwärtige Druck, der nicht weniger wird, sondern wächst und wächst.

Fabian Scheidler: Sie haben auch über die Spekulation geschrieben, die entsteht, wenn Investitionen sich nicht mehr lohnen ...

Immanuel Wallerstein: Nun, die Spekulation schafft kein neues Kapital. Spekulative Geschäfte bestehen darin, dass Kapital aus der Hand von A in die Hand von B wandert. Das mag wohltuend für B und ärgerlich für A sein, aber es nutzt dem System als Ganzem überhaupt nicht. Das ist der Punkt.

 

[Übersetzung aus dem Englischen von Michael Krämer]