20.05.2015
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Einleitung: 

Angesichts der strukturellen Krise des kapitalistischen Weltsystems sei ein Kampf um mögliche Nachfolgesysteme entbrannt - auch wenn sich die meisten Menschen noch nicht im Klaren darüber seien. Im Chaos des Übergangs würde jede Handlung ins Gewicht fallen, wie bei dem berühmten Schmetterlingseffekt: Selbst der Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Sturm auslösen. Das "Lager von Davos" strebe ein neues System an, in dem die Privilegien der bisherigen Eliten und die negativern Aspekte des Kapitalismus erhalten bleiben: Hierarchie, Ausbeutung, Ungleichheit. Auf der anderen Seite kämpfe das "Lager von Porto Alege" für eine relativ egalitäre und demokratische Welt. Entscheidend sei es, aus den Fehlern der Alten Linken zu lernen: Statt auf Zentralisierung und interne Hierarchie zu setzen, die zu endlosen Spaltungen führe, gelte es horizontale Netzwerkstrukturen weiterzuentwickeln.

Gäste: 

Immanuel Wallerstein, Senior Research Scholar an der Yale University, USA. Mitbegründer der Weltsystem-Theorie, von 1994-1998 Präsident der International Sociological Association und Autor zahlreicher Bücher

Transkript: 

Fabian Scheidler: Sie haben bereits von der strukturellen Krise des Weltsystems gesprochen. Sie erwähnten, das der Kampf um ein Nachfolgesystem oder Nachfolgesysteme bereits begonnen hat. Wer beteiligt sich an diesem Kampf und welche Optionen gibt es, mit welchen Ergebnissen ist zu rechnen?

Immanuel Wallerstein: Es ist einfacher, die möglichen Ergebnisse zu beschreiben als darüber zu sprechen, wer sich dafür engagiert. Es gibt in der Tat nur zwei theoretisch mögliche Ergebnisse. Das eine besteht darin, ein neues, nicht-kapitalistisches System zu schaffen, das aber dennoch die schlimmsten Eigenschaften des Kapitalismus bewahrt: Hierarchie, Ausbeutung und eine ruinöse Ungleichheit. Solche Verhältnisse kann man durchaus auf viele Weisen erreichen, nicht bloß im kapitalistischen System, und die Leute, die vom heutigen System profitieren, werden versuchen, sie durchzusetzen. Das wäre also die eine Option. Die zweite Option ist das völlige Gegenteil. Sie würde bedeuten, zum ersten Mal in der Geschichte ein verhältnismäßig egalitäres und demokratisches System zu errichten. Das also sind die beiden Möglichkeiten. Und darüber ist der Kampf entbrannt, auch wenn viele Menschen nicht begreifen, dass es darum geht. Zu Ihrer zweiten Frage: Wer beteiligt sich an diesem Kampf? Die meisten Menschen begreifen nicht, dass sie sich in diesem Kampf befinden. Es gibt aber kleine Gruppen auf beiden Seiten, die sich sehr wohl darüber bewusst sind und versuchen, die Menschen zu mobilisieren. Die Lage ist wirklich chaotisch. In der Geschichte der westlichen Philosophie gab es eine große Debatte zwischen dem Determinismus und den Verfechtern des freien Willens. Und die Leute haben sich meist für die eine oder andere Auffassung, welches die bestimmende Realität der Welt ist, entschieden: Ist dies eine deterministische oder freie Welt? Ich sage, man muss das historisch kontextualisieren. Es gibt da kein Entweder-Oder, sondern es ist das eine oder das andere zu jeweils bestimmten Zeiten. Wenn ein System normal funktioniert, dann haben wir ein relativ deterministisches System. Man kann versuchen, es in radikaler Weise zu verändern, doch am Ende erreicht es wieder einen ausgeglichenen Zustand. Dies ist zwar ein bewegliches Gleichgewicht, aber eben doch ein Gleichgewicht. Wenn wir uns aber in einer Übergangsphase zwischen zwei Systemen befinden, also in einer strukturellen Krise, dann haben wir ein freies System. Auch die kleinste Bewegung eines und einer jeden beeinflusst das System in deutlicher Weise. Das ist die Theorie des Schmetterlings. Man hat es vor vierzig, fünfzig Jahren entdeckt: Der Flügelschlag eines Schmetterlings hier verändert das Klima am anderen Ende der Welt, weil es die Ausgangsbedingungen eines bestimmten Prozesses verändert. Ich deute das so: Wir sind alle kleine Schmetterlinge, und jede Nano-Handlung und jedes Nano-Gewicht beeinflusst das Ergebnis. Aber während wir wissen, dass das Ergebnis entweder so oder so ausfallen muss, also dass am Scheideweg entweder der eine oder der andere Weg eingeschlagen werden wird, können wir nicht wissen, welcher Weg es sein wird. Das kann man schlechthin nicht vorhersagen. Wir können bloß kämpfen und streiten und versuchen, möglichst viele Schmetterlinge auf unsere Seite zu bringen.

Fabian Scheidler: Sie haben gestern über die Irrtümer der Alten Linken gesprochen, über das, was Sie die Zwei-Phasen-Ideologie nennen: Zuerst muss man die Macht im Staat erringen und dann die Welt ändern. Sie haben ausgeführt, dass diese Ideologie geschichtlich gescheitert ist. Warum ist sie gescheitert und welche Alternative sehen Sie – dezentralisierter, horizontaler Kampf für Veränderungen?

Immanuel Wallerstein: Die Alte Linke ist gescheitert, weil sie gesiegt hat. Sie hat vor allem in der Periode zwischen 1945 und 1970 gesiegt, als überall auf der Welt systemkritische Bewegungen an die Macht gekommen sind. Aber sie haben die Welt nicht verändert, weil sie die Welt nicht verändern wollten. Nachdem sie an die Macht gekommen waren, wollten sie zunächst einmal ihre Privilegien sichern. Ihre Frage nach der Alternative? Ja, ich denke, es ist der Horizontalismus, aber man muss die Leute noch überzeugen.

Fabian Scheidler: Bitte erklären Sie, was Sie unter Horizontalismus verstehen.

Immanuel Wallerstein: Horizontalismus bedeutet, dass man eine Familie von systemkritischen Bewegungen der unterschiedlichsten Art versammelt. Man hört sich gegenseitig zu und redet miteinander und versucht, voneinander zu lernen, aber man erschafft keine einheitliche Struktur mit innerer Hierarchie. Man unterstützt sich wechselseitig, um eine größere Schubkraft zu haben. Fünf Bewegungen hier schließen sich zusammen, um X zu erreichen, und anderswo tun sich sechs Bewegungen zusammen, um Y durchzusetzen. All dies ist gut, all dies bewirkt etwas, ohne zu versuchen, eine vertikale Struktur zu etablieren, denn diese würde unweigerlich dazu führen, bestimmte Bewegungen, die eine solche ausformulierte vertikale Strategie nicht unterschreiben, auszuschließen. So ist die Alte Linke gewöhnlich vorgegangen, was zu fortgesetzten Brüchen in den verschiedenen Bewegungen geführt hat, zu endlosen Streitigkeiten und endlosen Versuchen, die anderen zu kontrollieren. Das hat schließlich zu einer Selbstdemontage geführt.

Fabian Scheidler: Sie unterscheiden zwischen einem »Geist von Davos« und einem »Geist von Porto Alegre«. Erklären Sie, was Sie damit meinen.

Immanuel Wallerstein: Ich benutze diese Sprache, um die beiden Richtungen zu beschreiben, die man an dieser historischen Wegkreuzung einschlagen kann. Der Geist von Porto Alegre – das war der Austragungsort des ersten Weltsozialforums – zielt auf eine verhältnismäßig demokratische und egalitäre Welt. Der Geist von Davos dagegen – also des Weltwirtschaftsforums – beschreibt die Geisteshaltung, die nach einer Struktur sucht, in der die Vorteile der privilegierten Minderheit des alten Systems mit neuen Mitteln wiederhergestellt werden sollen. Dies könnte noch weit schlimmer ausfallen als das gegenwärtige negative System. Es wird auf jeden Fall keine Besserung bringen.

Fabian Scheidler: Können Sie etwas zu den inneren Aufspaltungen der Davoser Richtung sagen?

Immanuel Wallerstein: Sehen Sie, es gibt in beiden Lagern jeweils zwei Strategien, die miteinander im Streit liegen. Im Lager der Davoser gibt es einen Richtungsstreit zwischen denen, die die Technik der gewaltsamen Unterdrückung bevorzugen und denen, die die Technik der Verführung durch Pseudoreformen favorisieren, die für die Menschen des anderen Lagers möglicherweise attraktiv sein könnte. Das Lager von Porto Alegre dagegen ist gespalten zwischen den Horizontalisten und den Vertretern eines wiederbelebten Vertikalismus. Es gibt also tatsächlich vier Strömungen, und damit ist es nicht leicht, die Lage zu verstehen, einzuschätzen und zu analysieren. Das führt zu weiterer Verwirrung, aber so sieht die Wirklichkeit nun einmal aus. Wir leben in einer sehr komplizierten Welt, in der es schwierig ist, zu erkennen, was wir tun wollen und wie wir es tun sollten. Und das alles in einer Situation mit ungewissem Ausgang. Wir können schlicht nicht wissen, wer siegen wird. Wir können nur hoffen und arbeiten, damit unsere Seite gewinnt.

[Übersetzung aus dem Englischen von Michael Krämer]