24.03.2022
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Introduction: 

Angesichts der beispiellosen Bedrohung des Lebens auf der Erde durch Klimachaos, Artensterben und Atomwaffen sei es, so Fabian Scheidler, notwendig, die Geschichte der westlichen Zivilisation zu entmystifizieren, um die destruktiven Strukturen freizulegen, die für die globalen Krisen verantwortlich sind. Zu diesen Mythen gehört auch die Erzählung, dass Staaten entstanden seien, um der menschlichen Veranlagung zu Gewalt Einhalt zu gebieten. Tatsächlich zeigt die Geschichte mit der Entstehung der ersten Staaten vor 5000 Jahren eine rasante Eskalation von Gewalt, Krieg, Ausbeutung und Naturzerstörung. An der Wurzel der Herrschaftssysteme, sei es im frühen Mesopotamien oder im modernen Kapitalismus, stehen die "vier Tyranneien": die physische Macht, vor allem in Form der militarisierten Staaten; die strukturelle Gewalt, die sich unter anderem in ungleichen Eigentumsverhältnissen ausdrückt; die ideologische Macht, die solche Ordnungen als naturgegeben darstellt; und schließlich die "Tyrannei des linearen Denkens", das auf der Vorstellung beruht, Mensch und Natur ließen sich nach dem Muster von Befehl und Gehorsam kontrollieren und beherrschen. Doch alle lebenden Systeme, so Fabian Scheidler, beruhen auf komplexen Kreislaufprozessen, die Idee der Naturbeherrschung  sei daher ein gefährlicher Irrtum.

Guests: 

Noam Chomsky, Prof. em. für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).

Fabian Scheidler, Buchautor, Journalist und Mitbegründer von Kontext TV. "Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation" wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen" (Piper 2021).

Nermeen Shaikh (Moderation), Moderatorin beim US-Fernsehsender Democracynow

Transcript: 

Nermeen Shaikh: Willkommen zu Teil 2 unserer aktuellen Interviewreihe auf Kontext TV, in deren Mittelpunkt Fabian Scheidlers neues Buch „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation" steht. Das Buch handelt von den zerstörerischen Kräften, die das Überleben der Menschheit bedrohen.

Fabian Scheidler ist Mitbegründer von Kontext TV, das seit mehr als 10 Jahren über Fragen der globalen Gerechtigkeit berichtet. Heute ist auch der weltbekannte politische Dissident, Linguist und Autor Noam Chomsky bei uns zu Gast. Er ist Ehrenprofessor für Linguistik an der Universität von Arizona und emeritierter Professor am Massachusetts Institute of Technology, wo er mehr als 50 Jahre lang gelehrt hat.

Als Einstieg in unser Gespräch möchte ich mit Ihnen, Fabian Scheidler, kurz über Ihr Buch sprechen. Das Buch stellt gängige Annahmen über die vorherrschenden politischen und wirtschaftlichen Institutionen unserer Gegenwart und die Ideologien, die dahinterstehen, in Frage. Dazu betrachten Sie diese Strukturen in einem historischen Kontext von mehreren Jahrtausenden.

Zu den grundlegenden Institutionen heutiger Gesellschaften gehört der Staat. Dem Argument, dass wir den Staat brauchen, um Gewaltausbrüche in einem Krieg aller gegen alle, wie Thomas Hobbes ihn postuliert hat, zu verhindern oder einzudämmen, halten Sie entgegen, dass die Gewalt mit dem Aufkommen staatlicher Macht vielmehr zugenommen hat. Und Sie sprechen von dem, was Sie die Vier Tyranneien nennen. Was hat es mit all dem auf sich?

 

Fabian Scheidler: Ich freue mich sehr, heute dieses Gespräch mit Ihnen und mit Noam Chomsky führen zu können, dessen Arbeit ich sehr viel verdanke. Vielen Dank also dafür. In meinem Buch geht es in der Tat darum, unsere Geschichte zu entmystifizieren, denn das ist entscheidend, um die zerstörerischen Kräfte zu verstehen, die heute das Überleben der Menschheit und des Planeten bedrohen: durch die Zerstörung der natürlichen Ökosysteme, durch die Klimakatastrophe und durch die Gefahr eines Atomkriegs. Wir haben es mit einem Mythos zu tun, der unser gegenwärtiges System als bestmögliches zu rechtfertigen sucht, und damit Alternativlosigkeit suggeriert.

Solche Mythologien beschwören immer eine finstere Vergangenheit herauf, die durch die neue Ordnung überwunden wurde – zum Beispiel die Steinzeit als lange dunkle Phase in der Geschichte, in der die Menschen angeblich mit Knüppeln herumliefen und sich gegenseitig die Köpfe einschlugen. Dem Mythos zufolge hat uns das Aufkommen der ersten hierarchisch organisierten Zivilisationen vor etwa 5000 Jahren aus dieser finsteren Vorzeit erlöst und das menschliche Verhalten in geregelte Bahnen gelenkt. Der Staat spielt in diesem Narrativ natürlich eine Schlüsselrolle. Die zweite dunkle Zeit – über die wir später noch sprechen können – ist das Mittelalter, aus dem uns die Neuzeit und der Kapitalismus gerettet haben sollen.

Die ersten Stadtstaaten, die Ursprünge der Zivilisation, wurden vor 5 000 Jahren in Mesopotamien gegründet und waren hochgradig militarisiert. Auch die Entstehung der systematisierten Sklaverei fiel in diese Zeit, ebenso wie die Erfindung der Schrift, die ein Werkzeug der Logistik und der Organisation der Sklaverei war.

Nach der konventionellen Geschichtsauffassung, wie wir sie etwa bei Stephen Pinker und anderen finden, sind Menschen von Natur aus so gewalttätig, dass sie einander zu Tode prügeln würden, wenn man sie denn ließe. Das ist im Grunde die Hobbes'sche Vorstellung vom Krieg aller gegen alle. Also brauchten wir die Zivilisation und den Staat, um uns davor zu bewahren. Historisch gesehen ist das schlichtweg falsch. Wir wissen leider relativ wenig über das Neolithikum, die sogenannte „Steinzeit“. Es handelt sich um einen sehr langen Zeitraum: 200.000 Jahre Homo sapiens. Wir wissen, dass es bestimmte Formen von Gewalt gab, aber sie war keineswegs allgegenwärtig. Stephen Pinker hat die Zahlen extrem aufgebauscht und wurde von den einschlägigen Experten widerlegt. Unbestreitbar ist, dass mit dem Entstehen der ersten Stadtstaaten und später in der Zeit der Großreiche bis hin zum Römischen Reich die Gewalt beträchtlich zugenommen hat. Das hängt mit der Schaffung von Armeen und der wachsenden Ungleichheit zusammen. Die Privatisierung von Grund und Boden spielte in der Antike eine entscheidende Rolle, weil sie den Reichtum in den Händen einiger weniger konzentrierte, während die anderen gezwungen waren, als Söldner, Sklaven, Vertragsknechte und Tagelöhner zu dienen. Die Herrschaftssysteme, die damals entstanden, beruhten also auf verschiedenen Formen der Gewalt. Ich nenne die Grundlagen solcher Systeme die vier Tyranneien.

Die erste Tyrannei ist die physische Macht, die sich am deutlichsten im militarisierten Staat zeigt, aber auch in Mafias und Warlord-Regimes, die häufig Vorläufer von Staaten sind. Die zweite Art der Tyrannei ist die strukturelle Gewalt, ein Begriff, der von Johan Galtung geprägt wurde. Strukturelle Gewalt ist das verborgene Gegenstück zur physischen Gewalt. Ein Beispiel hierfür ist die Art und Weise wie Eigentum verteilt ist. In Berlin zum Beispiel, der Stadt, in der ich lebe, besitzen einige Unternehmen Hunderttausende von Wohnungen, während die ärmere Hälfte der Deutschen überhaupt kein Wohneigentum besitzt. Sie müssen sich also eine Arbeit suchen, um ihre Miete bezahlen zu können. Viele Leute denken, dass das normal ist, dass die, denen die Wohnungen gehören, einfacher schlauer und erfolgreicher waren. In Wirklichkeit aber handelt es sich es sich hier um ein Gewaltverhältnis, denn wer seine Arbeit verliert, kann seine Miete nicht mehr bezahlen, und dann kommt der Vermieter und sagt: „Raus hier.“ Wer dann nicht gehorcht, wird von der Polizei gewaltsam geräumt. In den Vereinigten Staaten waren in den letzten Jahren Millionen von Menschen von Zwangsräumung betroffen. Das ist ein typisches Beispiel dafür, wie strukturelle Gewalt in physische Gewalt umschlagen kann. Strukturelle Gewalt wird jedoch oft als normal angesehen, als etwas Selbstverständliches. Und das hat mit dem dritten Pfeiler der Herrschaft zu tun: der ideologischen Macht. Auch die ideologische Macht ist vor ca. 5000 Jahren erstmals in systematischer Form entstanden. Die Erfindung der Schrift hat dabei eine Schlüsselrolle gespielt; sie wurde nicht nur für logistische Zwecke genutzt, sondern auch, um die Mythen und Religionen der Oberschicht zu verschriftlichen, die das Ausbeutungs- und Herrschaftssystem ihrer Zeit rechtfertigten und zementierten. Die ideologische Macht versucht, ein Narrativ durchzusetzen, das eine bestimmte Ordnung als gottgegeben oder naturbedingt und somit unveränderlich hinstellt. Das Interessante an all diesen Instrumenten der ideologischen Macht ist jedoch, dass sie auch umgedreht und zur Kritik der Macht gebraucht werden können. Die Schrift zum Beispiel wurde später, etwa von den ersten Propheten wie Amos und anderen, benutzt, um die Mächtigen und ungerechte Eigentumsverhältnisse an den Pranger zu stellen. Dasselbe gilt natürlich auch für die modernen Medien. Noam Chomsky hat ausführlich darüber geschrieben, wie Medien als Machtsystem fungieren, aber auch als Gegenkraft eingesetzt werden können. Das Internet ist ein Beispiel dafür, es kann der Zementierung von Herrschaft dienen oder als Instrument des Widerstands eingesetzt werden. Ideologische Macht ist also ein umkämpftes Terrain, sie ist nie absolut, sie kann immer ins Wanken geraten.

Die vierte Tyrannei, von der ich in meinem Buch spreche, ist etwas schwieriger zu fassen. Ich nenne sie die Tyrannei des linearen Denkens. Es ist die Vorstellung, dass der Mensch andere Menschen und auch die gesamte Natur linear durch eine Kette von Befehl und Gehorsam steuern kann. Ich befehle und ein anderer Mensch gehorcht, ich befehle und die Natur gehorcht. Eine solche Idee kann nur aufkommen, wenn bereits ein System von Befehl und Gehorsam etabliert ist, wie zum Beispiel im Militär. So kamen Herrscher auf den Gedanken, ihre Untertanen auf lineare Weise kontrollieren zu können. Die Vorstellung, dass Gott die Schöpfung lenkt und steuert, ist eine Projektion dieser irdischen Herrschaft auf den Himmel. In der Moderne verwandelte sich diese Idee in die Vorstellung, dass der Mensch als Ingenieur die Natur beherrschen, sie seinem Willen unterordnen kann. Wir sehen das heute zum Beispiel in der Vorstellung, dass wir uns mit Geo-Engineering aus der Klimakrise herauswinden können, dass wir die Natur großtechnisch kontrollieren können. Ich halte das für eine irrige und sehr gefährliche Vorstellung, denn alles Lebendige basiert auf Kreislaufprozessen. Dabei ist jede Wirkung gleichzeitig eine Ursache für viele andere Dinge, ohne dass dieser Zusammenhang linear oder deterministisch wäre. Lebewesen funktionieren auf eine gänzlich andere Art und Weise als tote Objekte. Wenn wir versuchen, Menschen und Natur zu kontrollieren, werden wir sie am Ende zerstören, und genau das passiert gerade.