24.03.2022
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Introduction: 

Die modernen Nationalstaaten haben, so Noam Chomsky, seit ihrer Gründung eine Spur der Gewalt hinterlassen, die schließlich in die beiden Weltkriege mündete. Indem die europäischen Mächte den Kolonien nationalstaatliche Strukturen aufzwangen, haben sie eine schier endlose Kette von Kriegen und Konflikten in Gang gesetzt. Das betrifft auch die USA, die, so Chomsky, "eines der wenigen Länder in der Welt sind, die wahrscheinlich nie auch nur ein Jahr lang Frieden hatten." Die Staatsgründung der USA beruhte auf einem langen Vernichtungskrieg gegen die indigene Bevölkerung. Hinzu kommt der beinahe tausendjährige Krieg, den der globale Norden gegen den überwiegend muslimischen Süden geführt hat. Um den gegenwärtigen globalen Bedrohungen wie Klimawandel, Pandemien und Krieg zu begegnen, brauche es eine Überwindung nationalstaatlicher Strukturen und stattdessen einen umfassenden Internationalismus. Die EU sei trotz aller Defizite ein Schritt in die richtige Richtung, um Grenzen durchlässiger zu machen. Doch der Internationalismus würde vor allem durch die USA immer wieder torpediert, ob durch die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran, die Patentierung von Impfstoffen oder die Untergrabung von Klimaabkommen.

Guests: 

Noam Chomsky, Prof. em. für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).

Nermeen Shaikh, Moderatorin beim US-Fernsehsender Democracynow

Transcript: 

Nermeen Shaikh: Professor Chomsky, wie schätzen Sie ein, was Fabian Scheidler sagt, insbesondere im Hinblick auf die Entstehung von Staaten und deren Auswirkungen?

Noam Chomsky: Die Frage ist sicher umstritten. Aber ich denke, Anthropologen wie Brian Ferguson, Douglas Fry, Stephen Corry und andere haben ziemlich überzeugende Belege dafür geliefert, dass die hunderttausende von Jahren menschlichen Daseins vor der landwirtschaftlichen Revolution und vor der Gründung der ersten Stadtstaaten keine besonders gewalttätige Zeit waren. Diese These deckt sich auch mit Beobachtungen menschlicher Gesellschaften, die heute noch unter ähnlichen Umständen leben. Es gibt zwar Konflikte, aber nicht die Art von organisierter Gewalt, Klassenstruktur uns so weiter, die mit der Entstehung des Nationalstaates einherging.

Ich kann hier nicht die gesamte Menschheitsgeschichte rekapitulieren, aber man schaue sich nur die letzten tausend Jahre an oder die jüngste Vergangenheit. Das größte Ausmaß an Gewalt hat in Europa stattgefunden, genau in der Zeit, als die Staatenbildung in vollem Gange war. Italien und Deutschland etwa sind als Staaten, wie wir sie heute kennen ja erst im 18. und 19. Jahrhundert entstanden, während Großbritannien und Frankreich um die Vorherrschaft in bestimmten Gebieten kämpften. Das Staatswesen, das sich während der letzten Jahrhunderte herausgebildet hat, war äußerst gewalttätig. Letztlich hat es zwei furchtbare Kriege ausgelöst, den ersten und zweiten Weltkrieg. Bei diesen Kriegen ging es im Grunde genommen um die Frage, wo in Europa welches Staatssystem Bestand haben sollte. Wenn es heute nicht mehr zu größeren kriegerischen Konflikten zwischen den Großmächten kommt, dann nur, weil sie mittlerweile keinen Krieg mehr führen könnten, ohne einander komplett zu vernichten. Ein Krieg zwischen den Atomstaaten ist heute unmöglich, denn damit wäre alles zu Ende. In Europa hat daher der Auflösungsprozess dieses nationalstaatlichen Systems begonnen.

Sein Aufbau hat Jahrhunderte gedauert, aber seit 1945 wird es Stück für Stück wieder abgetragen. Der Prozess ist schwierig und immer wieder von Zersplitterung und Rückschlägen begleitet, aber die Europäische Union stellt, trotz all ihrer erheblichen Defizite, einen gewissen Schritt hin zur Auflösung der Grenzen zwischen den großen Staaten dar. Das Schengener Abkommen, einer der größten Vorzüge der Europäischen Union, ermöglicht es Menschen, von Spanien nach Osteuropa zu reisen, ohne dabei irgendwelche Grenzkontrollen zu passieren. In dieser Hinsicht hat die EU etwas vom Osmanischen Reich. Das Osmanische Reich war in vielerlei Hinsicht furchtbar, aber es war ein loser Verbund, in dem lokale Regionen für ihre eigenen Belange zuständig waren. Die griechische Gemeinde von Beirut konnte zum Beispiel ihre Angelegenheiten selbst regeln. Man konnte von Kairo nach Bagdad und Konstantinopel, also dem heutigen Istanbul, reisen, ohne an eine Landesgrenze zu gelangen. Die imperialen Mächte, vor allem Großbritannien und Frankreich, marschierten dort ein und zwangen den Regionen staatliche Strukturen auf, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Interessen der lokalen Bevölkerungen zu nehmen. Das gleiche passierte in ganz Afrika. Daher sind die Staatsgrenzen auf den Karten heute schnurgerade Linien. Sie wurden von den Kolonialmächten gezogen, die staatliche Strukturen schufen, ohne dabei den vielschichtigen, sich überlappenden und komplexen Beziehungen zwischen den dortigen Gesellschaften Rechnung zu tragen. Kein Wunder, dass dies zu Gewalt und Grausamkeit führte, das ist fast unvermeidlich. Wir müssen daher heute ernsthaft darüber nachdenken, wie wir dieses System auflösen können und damit auch die von Fabian Scheidler angesprochenen Strukturen von Obrigkeit und Herrschaft, die ihm innewohnen. Stattdessen brauchen wir eine fließendere internationale Gesellschaftsordnung, die diese Obrigkeits- und Herrschaftsstrukturen aufbricht, und in der auch Grenzen durchlässiger werden.

Alle großen Krisen, die uns heute bedrohen, sind weltumspannend und machen an keiner Grenze halt. Die Pandemie kennt keine Staatengrenzen, der Klimawandel auch nicht. Ein Atomkrieg würde uns alle auslöschen. Auch die weltweite Aushöhlung der Demokratie ist eine ansteckende Krise, die von einem Ort zum nächsten überspringt. Staatliche Strukturen haben sich über Jahrtausende geformt, in der westlichen Welt über Jahrhunderte, und sie hatten auch ihre Vorteile. Aber gleichzeitig haben sie furchtbaren Schaden angerichtet.

Dies gilt übrigens auch für die Vereinigten Staaten. In den USA ist in der letzten Zeit häufig von „endlosen Kriegen“ die Rede. Es heißt, wir müssen diese Kriege, wie in Afghanistan, beenden. Fakt ist aber: Die USA haben sich seit 1783 permanent im Krieg befunden. Sie sind eines der wenigen Länder in der Welt, die wahrscheinlich nie auch nur ein Jahr lang Frieden hatten. Einer der Hauptauslöser für die sogenannte amerikanische Revolution war die königliche Erklärung von George dem Dritten im Jahr 1763, in der er den Kolonisten untersagte, weiter nach Westen vorzudringen als bis zu den Appalachen. Es war ihnen verboten, die sogenannten „Indianergebiete“ zu besiedeln, in denen die zahlreichen indigenen Ersteinwohner lebten. Die Briten hatten für dieses Verbot ihre eigenen, keineswegs hehren Motive – aber das ist eine andere Geschichte. Es ging unter anderem um Handelsmonopole. Die Kolonisten wollten das Verbot aber nicht hinnehmen. Sie wollten einen aggressiven Krieg gegen die First Nations führen und ihr eigenes Herrschaftsgebiet ausdehnen. Das Gleiche galt für große Bodenspekulanten wie George Washington, die sich im Westen ein lukratives Geschäft versprachen. Kaum waren die Briten abgezogen, begann auch schon der Krieg gegen die Indigenen: eine hässliche, grausame Geschichte der Vernichtung, Vertreibung, Vertragsverletzung und schließlich der gewaltsamen Besetzung von halb Mexiko.

Irgendwann, vor mehr als einem Jahrhundert, entstand so das heutige Staatsgebiet. Es folgten viele weitere Kriege. Diese Entwicklung ist ein Stück weit mit der zeitgleichen Durchsetzung des Staatensystems in Europa vergleichbar. All diese Gebilde stammen nicht aus grauer Vorzeit, sondern sind jüngeren Ursprungs. Im Zweiten Weltkrieg wiederum ging es in erheblichem Maße darum, wer Elsass-Lothringen und das Ruhrgebiet für sich beanspruchen konnte. Frankreich und das erstarkende Preußen hatten sich darum schon seit Jahren gestritten. Es gab außerdem einen tausendjährigen Krieg der Nordmächte, darunter auch Russland, gegen den größtenteils muslimischen Süden, der weltweit verheerende Folgen hatte, nicht zuletzt das Aufzwingen staatlicher Strukturen und all die interne Unterdrückung und strukturelle Gewalt, die damit einherging und von der auch Fabian gesprochen hat. Ich denke also, dass Fabians Sichtweise im Grunde richtig ist. Und das betrifft nicht nur die Antike und die Stadtstaaten Mesopotamiens, sondern setzt sich bis in unsere Zeit fort. Wir sehen das überall. Wir tun uns wirklich schwer damit, all diese Strukturen der Gewalt und Ausgrenzung hinter uns zu lassen.

Ein Paradebeispiel dafür ist aktuell die Herstellung und Verteilung von Impfstoffen. Das ist eine humanitäre Krise, die uns alle etwas angeht. Diese Impfstoffe sollten für alle zugänglich sein, genauso wie die Polio-Impfung. Der Polioimpfstoff, an dem Jonas Salk jahrelang geforscht hatte, wurde nie patentiert. Er gehört der ganzen Welt und ist so frei verfügbar wie die Luft, die wir atmen. Genauso sollte es auch mit dem Corona-Impfstoff sein. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Die großen Pharmakonzerne versuchen sich im Rahmen der neoliberalen Weltordnung das Monopol dafür zu sichern. Die sogenannten Freihandelsabkommen sichern ihnen das Recht zu, ihre Preise quasi in Monopolstellung festzulegen, was aber völlig unvereinbar mit wirklich freiem Handel ist. Wenn also ein Konzern einen Impfstoff entwickelt, gehört dieser allein diesem Unternehmen, und es darf damit exorbitante Gewinne machen. Ermöglicht wird dies durch die lächerlichen Patentrechte, die in den Handelsabkommen verankert sind, und die einem Preismonopol gleichkommen. Es gibt eine internationale Organisation namens COVAX, die sich für eine gemeinsame internationale Entwicklung von Impfstoffen engagiert und an gerechten Verteilungsmechanismen arbeitet, damit alle, die einen Impfstoff brauchen, ihn auch bekommen – auch arme Menschen in Afrika –, damit nicht die zahlungskräftigen Menschen in reichen Ländern alle Impfstoffe für sich beanspruchen. Dieser Ansatz funktioniert aber leider nur teilweise. Es gab es einen schweren Rückschlag für COVAX, weil Donald Trump den Ausstieg der USA angekündigt hat. Dadurch werden die vielen kleinen Schritte zu mehr internationaler Zusammenarbeit zunichte gemacht, die wir so dringend brauchen, um diese Krise zu bewältigen. Genau dasselbe gilt für den Rückzug aus dem Pariser Klimaabkommen unter Trump oder den Versuch, die Weltgesundheitsorganisation zu demontieren. Oder auch für das, was Außenminister Pompeo getan hat: Die USA haben das Atomabkommen mit dem Iran aufgekündigt, der ganzen Welt zum Trotz, und damit den Spannungen in der Region erhebliches Futter gegeben. Die USA wollten, dass die UNO wieder Sanktionen gegen den Iran verhängt und haben dafür einen Antrag im Sicherheitsrat gestellt. Dafür gab es aber keine Unterstützung. Nur Kolumbien war dafür, die anderen haben sich geweigert. Daraufhin hat Pompeo plötzlich verkündet: „Die Sanktionen werden wieder eingeführt, weil wir es so wollen. Egal ob der Sicherheitsrat mitmacht, oder nicht. Wir sind der Pate, wir beherrschen die Welt. Wer uns im Weg steht, dem schlagen wir ins Gesicht.“ Das ist das geradezu absurd extreme Gegenteil von dem, was wir eigentlich brauchen, nämlich Internationalismus. Die USA treiben staatliche Gewalt auf die Spitze, wie kein anderes Land es jemals getan hat. Die Nazis wollten über Eurasien herrschen, aber nicht über die ganze Welt. Das ist die Dimension, mit der wir es hier zu tun haben. Und wenn wir nicht schnell etwas dagegen unternehmen, sind wir alle erledigt.