24.03.2022
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Introduction: 

Die Frage der Klimaflucht sei, so Fabian Scheidler, ein weiteres Beispiel für die Dringlichkeit eines neuen Internationalismus, über den Noam Chomsky sprach. Was den modernen Staat angeht, so habe sich dieser seit dem 16. Jahrhundert "ko-evolutionär" mit den Institutionen der Kapitalakkumulation entwickelt und das agressviste System der menschlichen Geschichte in Gang gesetzt. Während der "Mythos der Moderne" davon erzählt, wie die Neuzeit die Menschen aus dem "finsteren Mittelalter" befreit habe, fielen tatsächlich die Höhepunkte von Folter, Inquisition, Hexenverfolgungen, Sklaverei und kolonialen Völkermorden in die Entstehungszeit des Kapitalismus, ebenso wie eine beispiellose Militarisierung. Kaufleute und Banken liehen den Staaten Geld, um Feuerwaffen und Söldner zu bezahlen, mit denen die Herrscher andere Länder überfielen und plünderten und davon das "return on investment" an die Geldgeber bezahlten. Der Staat gewährte den Händlern außerdem Monopole als Gegenleistung für Kredit. Staat und Kapital waren so von Anfang an untrennbar verflochten. Der nächste Schritt war die Gründung der kolonialen Aktiengesellschaften, die diese Struktren der gewaltsamen Expansion verrechtlichen und ökonomische Maschinen bildeten, die ohne endloses Wachstum nicht existieren können. Heute werden die 500 größten Konzerne der Welt, die zwei Drittel des Welthandels auf sich vereinen, von Staaten durch billionenschwere Subventionen künstlich am Leben erhalten, allein für die fossilen Industrien laut IWF mit 5900 Milliarden Dollar pro Jahr. Um der von diesen Strukturen verursachten planetaren Krise zu entgehen, gelte es, so Fabian Scheidler, Staat und Kapital zu trennen und die Steuergelder in einen sozial-ökologischen Umbau zu kanalisieren.

Guests: 

Fabian Scheidler, Buchautor, Journalist und Mitbegründer von Kontext TV. "Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation" wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen" (Piper 2021).

Nermeen Shaikh, Moderatorin beim US-Fernsehsender Democracynow

Transcript: 

Nermeen Shaikh: Fabian Scheidler, Sie hatten vorhin ein anderes Thema angeschnitten, das sich durch Ihr Buch zieht, nämlich das der Neuzeit und zwar im Zusammenhang mit der Entstehung des modernen Staates. Sie stellen in ihrem Buch auch die verbreitete Auffassung in Frage, die Moderne sei ein Zeitalter der Aufklärung und der allgemeinen Befreiung der Menschheit gewesen. Könnten Sie genauer auf ihre Argumentation eingehen, auch über das hinaus was Sie gerade schon zum Thema Staat erläutert haben und was Professor Chomsky ausgeführt hat?

Fabian Scheidler: Gerne. Zunächst einmal möchte ich auch auf das eingehen, was Noam Chomsky gerade gesagt hat. Im Hinblick auf den Internationalismus halte ich ein Thema für sehr wichtig, nämlich das der Klimaflüchtlinge. Die Klimakatastrophe ist ja bereits im vollen Gange – hoffentlich können wir sie teilweise abwenden, indem wir den Temperaturanstieg auf zwei Grad im besten Fall begrenzen, aber auch drei, vier oder fünf Grad sind nicht mehr auszuschließen. Damit stellt sich die Frage: Wohin können die Menschen in Bangladesch gehen, wenn ihr Land unbewohnbar wird. Dieses Problem ist nur auf internationaler Ebene lösbar. Wenn die Grenzen so militärisch abgeschottet bleiben, wie sie es heute sind und die EU und die USA ihre Grenzen dicht machen, laufen wir auf eine Katastrophe zu, die beispiellos in der menschlichen Geschichte ist. Das ist ein sehr wichtiger Aspekt dessen, was Noam gerade beschrieben hat.

Der Mythos der Moderne beruht auf dem klassischen Narrativ, dass es die Neuzeit war, die uns aus den düsteren Tiefen des Mittelalters gerettet und in eine Ära des Lichts geführt hat. Aber dieser Mythos verzerrt die Geschichte, weil viele der vermeintlichen Gräuel des Mittelalters wie die Folter, die Inquisition oder die Hexenjagden erst in der frühen Neuzeit ihre Höhepunkte erreicht haben – im 16., 17. und teilweise im 18. Jahrhundert. Ebenso verhält es sich mit der Sklaverei und all den Völkermorden, die seit Kolumbus begangen wurden. Die gewaltsame Eroberung Süd- und Nordamerikas durch die Europäer hat viele Millionen von Menschen dort das Leben gekostet, genauso wie auch die Kolonisierung Afrikas und Asiens danach. Es war die Zeit, als die „Monster der Moderne“, wie ich sie nenne, entfesselt wurden. Auch die beispiellose Militarisierung im Laufe der Neuzeit dürfen wir nicht außer Acht lassen. Wilhelm der Eroberer landete mit etwa 10.000 Soldaten in England – nach modernen Maßstäben eine winzige Armee. In der Frühen Neuzeit verfügte Wallenstein, einer der großen Feldherrn des dreißigjährigen Krieges, über Hunderttausend Mann. Ludwig XIV. von Frankreich hatte später 400.000 Soldaten und im 20. Jahrhundert kämpften Millionen von Soldaten im ersten und zweiten Weltkrieg. Das gleiche gilt für die Rüstung. Es gab ein Wettrüsten, das im Hundertjährigen Krieg zwischen Frankreich und England im 14. und 15. Jahrhundert mit der Einführung von Feuerwaffen begann. Feuerwaffen spielten eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Kapitalismus, denn sie kosteten sehr viel Geld.

Wir haben über den modernen Staat gesprochen. Der moderne Staat hat sich damals co-evolutionär im Wechselspiel mit den Institutionen der Kapitalakkumulation entwickelt. Die Staaten benötigten damals große Mengen von Geld, um Kanonen und Söldner zu bezahlen, und das musste irgendwo herkommen. Es kam von Bankiers in Genua, Florenz oder Venedig. Tatsächlich bildeten die Stadtstaaten Norditaliens damals ein ähnliches System wie das der Stadtstaaten in Mesopotamien einige Jahrtausende zuvor. Die Bankiers und Kaufleute liehen den Herrschern Geld, die Landesherren kauften davon Kanonen und warben Söldner an, marschierten in andere Länder ein, plünderten diese Länder und bezahlten aus diesen Plünderungen den Bankiers und Kaufleuten ihre Investitionsrendite, wie man heute sagen würde. Für die Geldgeber war es ein lukratives Geschäftsmodell: Sie benutzten die Staaten als Mittel, um Rendite zu erzielen. Interessant ist, dass in diesem System die Staaten von Anfang an verschuldet waren. Der moderne Staat war vom Privatkapital abhängig. Immanuel Wallerstein hat dieses neu entstandene System das „moderne Weltsystem“ genannt. Die modernen Territorial- oder Nationalstaaten waren auf bestimmte Regionen beschränkt, das Kapital aber war schon immer transnational organisiert. Was wir heute in der neoliberalen Standortkonkurrenz in sehr ausgeprägter Form sehen, existiert im Prinzip schon seit 500 Jahren.

Das System, das damals aus der Maschinerie von Kapitalakkumulation und Krieg entstanden ist, war etwas völlig Neues in der Weltgeschichte. Es stützte sich auf drei Säulen. Die erste Säule ist die endlose Akkumulation von Kapital in einem ewigen Kreislauf von Profit und Reinvestition. Es gab viele Gesellschaften, in denen Reichtum und Einkommen sehr ungleich verteilt waren, zum Beispiel im Römischen Reich, oder in chinesischen Dynastien. Aber in diesem neuartigen System wurde erstmals eine Art Maschine geschaffen, die immer weiterlaufen muss. Es begann mit den Kaufleuten in Italien, mit den Bankhäusern und danach den ersten Kapitalgesellschaften im frühen 17. Jahrhundert, wie der Niederländischen und der Britischen Ostindien-Kompanie. Diese Institutionen hatten nur ein Ziel, nämlich das investierte Geld, das Geld der Aktionäre, zu vermehren. Ihr einziger Existenzzweck war, die natürliche Welt in Waren zu verwandeln und immer weiter zu wachsen. Diese Strukturen sind es, die das System zu unaufhörlichem Wachstum antreiben.

Die zweite Säule ist der moderne Staat, der von Anfang an sehr eng mit den Institutionen der Kapitalanhäufung, den Kaufleuten und Bankiers, verstrickt war. Die Kaufleute wollten nicht nur am Krieg mitverdienen, sie wollten noch etwas anderes, und zwar Monopole. Es ist eines der schmutzigen Geheimnisse des Kapitalismus, dass er nie wirklich viel mit freien Märkten zu tun hatte, sondern auf Monopolen fußte – und das hat sich nicht verändert, man denke nur an Google, Amazon und Co. Die Staaten vergaben also Monopole an die Fugger und viele andere Kaufleute, Handelshäuser und Aktiengesellschaften wie die Britische Ostindien-Kompanie. Um freie Märkte ging es dabei nicht – das System funktioniert nicht mit freien Märkten, weil man Monopole oder Oligopole braucht, um Kapital in den Händen einiger weniger Menschen zu bündeln. Wirklich freie Märkte, so wie etwa Adam Smith sie sich vorstellte, würden nämlich die Gewinne verringern, weil es an der Spitze zu einem echten Wettbewerb käme. Der Kapitalismus beruht nicht auf dem Wettbewerb an der Spitze, er beruht auf dem Wettbewerb der Lohnarbeitenden und dem Wettbewerb der kleinen Unternehmen. An der Spitze dagegen gibt es erstens Monopole und zweitens eine enge Verflechtung mit dem Staat. Die eben erwähnte Britische Ostindien-Kompanie und die Niederländische Ostindien-Kompanie, wurden nicht nur von Staaten gegründet, sondern auch gerettet, wenn sie finanziell in der Klemme steckten.

Heute haben wir ein System, das manchmal als Corporate Nanny State, also als „Kindermädchenstaat“ für Konzerne bezeichnet wird. Noam Chomsky hat schon oft darüber gesprochen. Von den 500 größten Unternehmen unserer Zeit, die etwa 40 Prozent der Weltwirtschaft und zwei Drittel des Welthandels kontrollieren, könnten die meisten ohne enorme Subventionen nicht überleben. Ein Beispiel ist die fossile Brennstoffbranche, die für die Klimakatastrophe verantwortlich ist. Sie wird nach Angaben des Internationalen Währungsfonds mit über fünf Billionen Dollar im Jahr subventioniert. Ähnliches gilt bekanntermaßen für den Bankensektor. Die Großbanken hätten ohne die staatlichen Rettungsschirme seit 2008 nicht überleben können. Ebenso wenig wie die Automobilindustrie im Übrigen. In Deutschland zum Beispiel wären die meisten großen Autohersteller ohne staatliche Hilfe schon in der Krise von 2008 pleite gegangen. Genauso die Fluggesellschaften, die in der Finanzkrise gerettet wurden und denen jetzt in der Corona-Krise wieder mit Milliarden ausgeholfen wird. Wenn man alle diese Subventionen weltweit addiert, sind es sogar Billionen. Wir müssen uns daher klarmachen, dass der real existierende Kapitalismus, den wir haben, ob er nun neoliberal ist oder nicht, auf einer symbiotischen Beziehung zwischen Staaten und Konzernen aufbaut. Dass Absurde daran ist, dass wir die umweltschädlichsten Industrien. die den Planeten zerstören, mit Subventionen am Leben erhalten, anstatt mit diesem Geld einen ökologischen und sozialen Wandel zu finanzieren. Wir verfügen ja in einer Demokratie, mit all den Mängeln, die sie haben mag, als Wähler im Prinzip über die Möglichkeit, die Regierungen zu einen anderen Umgang mit den Steuergeldern zu bewegen. Darum wählen wir ja Parlamente.

Der Staat sollte also so umgestaltet werden, dass wir das Geld nicht zur Rettung destruktiver Konzerne einsetzen, sondern damit dezentrale Strukturen fördern und wirtschaftliche Institutionen, die dem Gemeinwohl dienen. Es gibt bereits Institutionen dieser Art, zum Beispiel Genossenschaften, kommunale Betriebe und vieles mehr. Die meisten davon sind klein, einige auch größer, aber sie könnten Stück für Stück zu einem neuen, besseren System ausgebaut werden, wenn Steuergelder in diese Art von Wandel investiert würden.

Es gibt bereits konkrete Vorschläge, die in diese Richtung gehen. Yannis Varoufakis hat mit Diem25 zum Beispiel eine Art Green New Deal vorgeschlagen. Darin sind einige Elemente eines solchen Wandels enthalten. Auch Bernie Sanders und Alexandria Ocasio-Cortez haben einen Green New Deal vorgeschlagen, der ähnliche Ansätze beinhaltet. Ich denke, das kann noch viel weiter gehen. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass der Weg zur Rettung der Menschheit und des Planeten darin besteht, Staat und Großkapital voneinander zu trennen. Das ist eine kolossale Aufgabe, denn besonders in den USA werden viele Abgeordnete von den großen Konzernen finanziert, es ist eine Art gekaufte Demokratie. In der Europäischen Union haben wir ebenfalls das Problem, dass nicht gewählte Gremien und die Lobby der Großindustrie den Kurs vorgeben. Aber wir können das ändern, und deshalb sind Medien wie Democracy Now, wo Sie, Nermeen Shaikh, arbeiten, so wichtig. Zum Beispiel um den Menschen zu zeigen, dass das System, in dem wir leben, keine echte Marktwirtschaft ist, sondern auf der Verflechtung von Staat und Wirtschaft beruht.