Der Blick einer Radikaldemokratin: Daniela Dahns Vermessung des kapitalistisch umgepflügten Ostens
Es gibt zwei Weisen, eine Landschaft zu betrachten. Dem von Erinnerungen gesättigten Blick auf die Heimat scheint alles nah und vertraut. Anders der Blick von Fremden. Er durchmisst einen Landstrich aus der Distanz, würdigt oder missbilligt. Daniela Dahn vereint in ihrer Rückschau auf dreißig Jahre Einheit, auf die versprochenen „blühenden Landschaften“, beide Haltungen. Sie weiß um die Eigenarten der Menschen, ihrer Wünsche und Sorgen. Doch sie erzählt keine melancholisch-klagenden Heimatgeschichten. Vielmehr erkundet sie die Bodenerosionen an den sozialen Abhängen, durchschreitet die Ebenen nationaler Politik, entdeckt die Sturmschäden im Blätterwald, kartografiert die Propagandasümpfe und wilden Strömungen der Anfeindungen und führt zu überwucherten Wegmarken des Protests sowie verschwiegenen Blütenteppichen der Gegeninformation. Es ist der kritische Blick einer Radikaldemokratin, die als einstiges Gründungsmitglied des Demokratischen Aufbruchs viele damalige Forderungen als unerfüllt betrachtet. Und die andererseits bei aller Dringlichkeit von Perestroika und Glasnost darauf beharrt, dass selbst der gescheiterte Realsozialismus emanzipatorische Ansätze hatte, die sie vor allem am Gemeineigentum festmacht.
Mancher mag hier stutzen und fragen: War nicht nach der Wende im Osten alles grau in grau, drohte nicht einigen Innenstädten der Zusammenbruch? Wer heute dagegen in Ostsee-Kurbädern, im barocken Dresden, in der Messestadt Leipzig oder in der Lausitzperle Görlitz Urlaub macht, über neue Autobahnen in den Harz fährt oder in Weimar die deutsche Klassik bewundert, sieht er nicht statt Abbruch Aufbruch, Verbesserungen, Aufblühen gar?
Daniela Dahn leugnet in ihrem Buch „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ nicht, dass manches besser ist dreißig Jahre nach der Wende. Sie will aber nicht „hundertmal Gesagtes“ wiederholen, sondern „hundertmal Verschwiegenes“ zur Kenntnis bringen. Das ist ihr großes Verdienst. Denn was in großen Teilen der Öffentlichkeit weiter unter den Teppich gekehrt wird, ist, dass die Einheit ein skandalöser Enteignungsakt gewesen ist. Das ist so offensichtlich, dass es fast schon peinlich ist, daran erinnern zu müssen. Dahn bringt es mit einer Zahl auf den Punkt: 95 Prozent des volkseigenen Wirtschaftsvermögens sind in westliche Hände übergegangen. Sicherlich legal beziehungsweise legalisiert, was nur den alten Spruch bestätigt, dass man die Frösche nicht fragt, wenn man den Sumpf austrocknet.
Die Auswirkungen sind, wie Dahn bilanziert: „Die Zahl der bundesdeutschen Millionäre verdoppelte sich auf über eine Million, während im Osten mit der ersehnten D-Mark die Zahl der Arbeitslosen von null auf vier Millionen stieg. Die Konstrukteure des wirtschaftlichen Desasters haben es laut Experten fertiggebracht, dem Staat, also den Bürgern, für die Kosten dieser Einheit zwei Billionen Euro in Rechnung zu stellen.“ Man könnte so weiter machen. Im Schnitt verdient heute ein Vollbeschäftigter monatlich immer noch 1000 Euro weniger als im Westen. Das Vermögen ostdeutscher Eltern ist halb so groß wie das der Westeltern. Viele Ostrenten wurden entwertet. Ganze Landstriche sind heute deindustrialisiert und ohne wirtschaftliche Perspektive. Viele Menschen sind Richtung alte Bundesländer abgewandert. „Die Bevölkerungszahl in Ostdeutschland entspricht heute der von 1905. Vorindustriell“, schreibt Dahn.
Die Gebietsverluste für die Ostdeutschen und Gebietsgewinne für Kapitaleigner und Privilegierte aus dem Westen sind dabei nicht Resultat einer alternativlosen Wiedervereinigungspolitik gewesen, unter schwierigen Bedingungen mit schmerzlichen Einschnitten für alle vollzogen, so die beliebte Sichtweise im Westen. Sie war nicht einmal eine Pannenshow unter Führung von halb- und viertelkompetenten Politikern und Bürokraten. Wie Dahn an zahlreichen Beispielen verdeutlicht, war es eine „feindliche Übernahme auf Wunsch der Übernommenen“, planmäßig und überfallartig vollzogen. Die Revolution wurde gegenrevolutionär abgewickelt. Die Verantwortlichen beschleu-nigten dabei auf destruktive Weise den Übernahmeprozess, wo sie nur konnten. Die „unsichtbare Hand des Marktes“ übernahm die Geschäftsführung in den neu gewonnenen Territorien. Nach dem Motto: The winner takes it all.
Auch hier muss eine Auflistung genügen: Harakiri-Währungsunion, gegen den Rat von westdeutschen Bankern schockartig eingeführt. Gesamtdeutsche Wahlen und Hauruck-Integration der DDR ins BRD-System, angetrieben mit Bankrottgerüchten und dem Versprechen von „blühenden Landschaften“. Treuhand-Privatisierungswalze, die Betriebe im Wert von mehreren Hunderten Milliarden D-Mark planierte. (So wurden aus einem Betriebsbestand, taxiert auf bis zu 1 Billion D-Mark, am Ende minus 330 Milliarden D-Mark.) Austausch von ostdeutschen durch westdeutsche Professoren an den Universitäten. Und so weiter. Immer lief es darauf hinaus, den Interessen von westdeutschen Bankern, Unternehmern, Agrarinvestoren, Managern, Politikern und Kultureliten Vorrang vor den Bedürfnissen der Bürger im Osten einzuräumen. Und als ob das nicht schon genug wäre, wurde den Profitmachern der Weg in den Schnäppchen-Osten noch mit deutschen Steuerzahler-Billionen geebnet. Wobei die „Ossis“ mit ihren Solidaritätsbeiträgen ihre eigene Enteignung mitfinanzierten.
Dahns Buch schildert dabei auf eindrückliche Weise, wie die Feinmechanik, das System der Übernahme, konkret ablief. Sie beschreibt Prozess und Produkt der "Vereinheitung" zugleich, benennt Akteure und Täter, Ideengeber und Mitläufer, aber auch die zum Schweigen gebrachten BürgerInnen und Mehrheiten. Die ungenutzten Chancen, wie es hätte anders, besser kommen können. Und warum nicht. Die manipulativen Tricks, um politisch Gewünschtes durchzusetzen.
Ihr Augenmerk liegt dabei nicht nur auf der materiellen Enteignung (die schlimm genug ist), sondern auch auf der kulturellen Abwertung und Delegitimierung. Schon kurz nach der Wende machten sich Teile der westdeutschen Meinungselite daran, die DDR sowie ihre Bürger pauschal zu diffamieren und abzukanzeln. So beklagte der Historiker Hans-Ulrich Wehler, dass alle „falschen Weichenstellungen, die in Ostdeutschland vor-genommen worden sind“, nun „nach dem Vorbild des westdeutschen Modells in einem mühseligen Prozess“ wieder korrigiert werden müssten. Das sei „die Bürde der neuen Bundesrepublik nach 1990.“ Arnulf Baring sprach von der Verzwergung von Menschen über ein halbes Jahrhundert. Der Pädagogik-Experte Johannes Niermann schwadroniert in einem Gutachten für den Bundestag (ohne jegliche Analyse oder Belege zu liefern), dass die gesamte „Intelligenzia“ beim Aufbau des „Lügengebäudes“ teilgenommen hätte, alle Arbeiten von Forschern in der DDR daher wissenschaftlich das „Papier nicht wert“ seien, den Schülern in „Zuchtanstalten“ das Rückgrat gebrochen und ihre Persönlichkeit systematisch verändert worden sei. Seine Empfehlung für die Nach-wendezeit: eine Art Umerziehungsprogramm für die Ostdeutschen, angeleitet von „Lehrern aus den alten Ländern“. Dahns berechtigte Gegenfrage: Wie bewerkstelligen Zwerge eigentlich eine Revolution?
Statt sich fair mit der Geschichte beider Staaten, der BRD und der DDR, auseinanderzusetzen, wie Dahn zu Recht fordert, wurde nur der „Verliererstaat“ vors Tribunal gestellt und schließlich in den Orkus der Geschichte geworfen. Selbstkritik des Westens, Balance bei der historischen Aufarbeitung? Fehlanzeige. Vielmehr wurde maßlos und einseitig übertrieben. Unbesehen wurde die DDR unter dem Label „Unrechtstaat“ in einen Topf mit totalitären, faschistischen Regimen geworfen. Die Stasi-Mammutbehörde mit 3000 Mitarbeitern erzeugte am Fließband allgemeine Verdachtskultur. Hysterische Stasi-Jagden in der Öffentlichkeit, die sich in der Sache in 94 Prozent der Fälle als falsch herausstellten, „sorgten aber zu 100 Prozent für Aufregung“. Während man von einer „Durchherrschung“ von oben nach unten und flächendeckender Observation des Staates sprach, war niemand an konkreten Fakten zur Dimension der Überwachung interessiert. Frage: Wie viele Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi (IM) hat es denn eigentlich gegeben? Antwort: Gut 100.000, so die valideste Zahl, die Dahn bei der Behörde herausbekam, 0,6 Prozent der Bevölkerung. Paranoid sicherlich, aber wie paranoid, so Dahn, müsste ein Vergleich mit anderen Geheimdiensten ergeben. Oder: Und wie viele Opferakten durch operative Observation gibt es wirklich? Auch hier hakte Dahn jahrelang nach bei der Pressestelle der Behörde. Schließlich bekam sie eine Zahl. An einem beliebigen Stichtag wurden von „etwa 41 500 Menschen“ Berichte gefertigt, also „zu keinem Zeitpunkt mehr als 0,5 Prozent der 17 Millionen DDR-Bürger“. Überwacht wurden überwiegend Oppositionelle, Künstler, Kirchenleute und Ausreisewillige. Schlimm, keine Frage. Aber flächendeckend? Und was ist mit westlichen Geheimdiensten, NSA-Staat und den Undercover-Infiltrationen von Protestbewegungen weltweit durch westliche Staatsorganen?
Die Wende hätte eine Wende sein können, sich auch mit der BRD kritisch auseinanderzusetzen. Wie konnte zum Beispiel der juristische Wegbereiter des Holocaust Hans Globke Chef des Kanzleramts unter Konrad Adenauer werden? Dahn schildert, wie unter dessen Leitung die BRD renazifiziert wurde und belegt, dass in den 50er und 60er Jahren etwa zwei Drittel der bundesdeutschen Richter, Staatsanwälte, Geheimdienstler, Juristen und Kriminalisten schon unter Hitler gedient hatten. Sicherlich, auch in der DDR konnte nicht ganz auf die alten Eliten verzichtet werden. Aber es waren deutlich weniger Übernahmen und eher aus den niederen Rängen beziehungsweise nominelle NSDAP-Mitglieder, keine schwer Belasteten wie in der BRD, die in Spitzenämter gehievt wurden. Gleichzeitig sendeten die staatlichen Institutionen nach dem Mauerfall den Neu-BRD-Bürgern immer wieder „rechtslastige Signale“. Von der Polizei und dem Auswärtigen Amt über die Geheimdienste und Justiz zu den Universitäten und der Bundeswehr. Solche Botschaften kamen bei den Abgekoppelten und Frustrierten im Osten an und nährten immer wieder die dann beklagten Rechtsentwicklungen.
All das, was Dahn überzeugend vorbringt, wäre Grund genug, einen Nachdenkprozess einzuleiten. Doch die großen Medien reagieren immer noch ignorant bis beleidigt, selbst wenn die Kritik von faktischer Genauigkeit ist. Diejenigen, die in den letzten Jahrzehnten tatkräftig mithalfen beim Ausverkauf ostdeutscher Landstriche, die den Einsatz von Gülle, Pestiziden und Herbiziden als ökonomisches Blüh-Programm vermarkteten und die Bürger der ehemaligen DDR immer wieder herablassend behandelten, reagieren weiter allergisch, wenn ihnen die realexistierende Einheit unter die Nase gerieben wird. Da heute niemand mehr ernsthaft den schamlosen Beutezug der privatisierenden Treuhand, das Gesundstoßen westdeutscher Unternehmen im Osten auf Kosten der Übernommenen, den damit geschaffenen Nährboden für Frust sowie die Brüche zwischen Ost und West schönreden kann, bleiben nur bösartige Unterstellungen.
So zeigt sich die Süddeutsche Zeitung besorgt über den „schrillen Ton einer sonst so klugen und scharfsichtigen Publizistin“, ihre „wutschnaubende Abrechnung“. Alles werde zusammengemischt und dem „westdeutschen Raubtier-Kapitalismus“ angehängt, so der SZ-Kommentar. Es sei „kein gutes Zeichen für den Stand der Debatte“, wenn „Zwischentöne und Widersprüchlichkeiten des Vereinigungsprozesses“ nicht mehr gewürdigt würden. Demokratische Institutionen wie Parteien, oder „Systeme sozialer Sicherheit“ erschienen „beinahe ausschließlich als Überwältigungsmaschinen“. Im Tagesspiegel heißt der Vorwurf kurz und bündig: „verschwörungstheoretisches Geraune“. Dem ostdeutschen Journalisten Matthias Krauß erging es ähnlich bei seiner Bilanzierung. Solche Kommentierungen westdeutscher Leitmedien sind nicht nur arrogant und ignorant, sondern tatsächlich zum Fremdschämen.
Das Buch von Dahn liest sich nämlich nicht nur spannend wie ein Krimi, angefüllt mit dem Reichtum von Geschichten und mitverfolgter Geschichte, sondern es entwirft zugleich eine deutsch-deutsche Tragödie in mehreren Akten vor dem Weltpanorama. Wie ein Bauer, der nach langem Arbeitstag auf dem Feldweg innehält, um das Lichtspiel und Wolkentreiben überm Tal zu studieren, schaut sie in die Niederungen des wiedervereinigten Deutschlands vor den kapitalistischen Weltläufen. Sie beschreibt, wie der Fall der Mauer zugleich der Startschuss für eine Befreiung ganz anderer Art gewesen ist: forcierte neoliberale Wirtschaftspolitik, Ausweitung der Macht transnational operierender Konzerne, aggressive Geopolitik des Westens (einschließlich einer Reihe von Angriffskriegen von Jugoslawien über Afghanistan und Irak bis Syrien, mit deutscher Beteiligung und Komplizenschaft) sowie ein vom Zaun gebrochener neuer kalten Krieg mit Russland. Die versprochene globale Friedens- und Freiheitsdividende wurde im Handumdrehen in eine Kriegs- und Ausbeutungslizenz des Westens umgemünzt. Ob der Planet den entfesselten Kapitalismus angesichts der eskalierende Klimakrise überlebe, sei letztlich eine Frage, welche Freiheit obsiege, so Dahn: die des profithungrigen Kapitals oder die von Menschen, die der Schurkenpolitik westlicher Regierungen Einhalt gebieten.
„Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ ist beharrlich in der Analyse, zornige Bilanzierung, aber nie dunkelschwarz. Manchmal sogar federleicht, humorvoll. Es ist ein historischer Aufriss, eine Art Gegenkompendium, voller Details und Sachkenntnis, auf das man sich beziehen und von dem man weiter vorangehen sollte. Kurz gesagt: Pflichtlektüre!