02.12.2016
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Einleitung: 

Der Krieg beinhaltet eine ganze Reihe regionaler und globaler Stellvertreterkriege, die sich auf beide Lager des syrischen Bürgerkrieges schlagen. „Aber wir sollten uns keine Illusionen machen, dass die USA die syrischen Rebellen im Kampf gegen das Regime unterstützen, weil sie besorgt sind wegen der Menschenrechtsverletzungen von Assad“, sagt Bennis. Die USA hätten sich immer auf die Menschenrechtsverletzungen des syrischen Regimes verlassen können, wie bei den Folterverhören im Krieg gegen den Terror. Russland sei demgegenüber besorgt um seinen einzigen verbliebenen Partner in der Region und den Militärstützpunkt im syrischen Tartus. Im Moment fänden die schlimmsten Kriegsverbrechen in Aleppo durch russische und syrische Bombardierungen statt. Davor seien es die USA gewesen. „Jeder in diesem Krieg hat Verbrechen begangen.“ Die Kämpfe verhinderten die einzige Alternative: „Diplomatie“. Niemand könne den Krieg jedoch „gewinnen“. Die Militarisierung des Konflikts mache das unmöglich. Auch der syrische Widerstand werde aus dem Krieg nicht das erhalten, „was ihm eigentlich zusteht“.

Gäste: 

Phyllis Bennis: Institute for Policy Studies, Washington D.C.

Transkript: 

David Goeßmann: Die Situation in Syrien ist sehr komplex, mit vielen internen und externen Akteuren, rivalisierende Interessen, Konflikten und Lagern. Wer kämpft für was in Syrien?

Phyllis Bennis: Wer für was kämpft in Syrien ist eine sehr komplizierte Frage. Am besten und klarsten, wenn auch nicht unbedingt am einfachsten, ist es, wenn man sich das Ganze als zwei parallele Kriegsschauplätze vorstellt. Einerseits der Bürgerkrieg. Er besteht aus Kämpfen zwischen einem repressiven Regime und diversen syrischen Lagern, manche davon progressiv, viele heldenhaft, manche nicht so heldenhaft. Das ist die eine Seite. Dann gibt es die Stellvertreterkriege. Davon gibt es etwa neun oder zehn. Sie kämpfen letztlich auf einer der Seiten der Bürgerkriegsparteien, jedoch für ihre eigenen Interessen. Es sind Kämpfe, die bis zum letzten Syrier ausgetragen werden. Denn sterben müssen die Syrier. Sie zahlen den Preis für diese Kriege: Für einen Krieg um regionale Vorherrschaft, der zwischen dem Iran und Saudi Arabien ausgefochten wird, bis der letzte Syrier tot ist. Es ist Konfessionskrieg zwischen sunnitischem und schiitischem Islam, im Wesentlichen ein Kampf zwischen dem Iran und Saudi Arabien. Es ist ein Krieg zwischen den USA und Russland — auch hier: die Syrer sind die Opfer. Dann kämpfen die USA mit Israel gegen den Iran. Der Krieg in Syrien ist auch ein Krieg, der die Türkei gegen Russland, Saudi Arabien gegen Russland, Saudi Arabien gegen Katar und Jordanien stellt. Die Türkei bekriegt die Kurden in Syrien. Der Krieg beinhaltet also eine ganze Reihe regionaler und globaler Stellvertreterkriege, die sich auf beide Lager des syrischen Bürgerkrieges schlagen. Aber wir sollten uns keine Illusionen machen, dass die USA die syrischen Rebellen im Kampf gegen das Regime unterstützen, weil sie besorgt sind wegen der Menschenrechtsverletzungen von Assad. Keineswegs. Die USA konnten sich immer auf die Menschenrechtsverletzungen des syrischen Regimes verlassen. Sie haben z.B. die Verhöre und Folter im sogenannten Krieg gegen den Terror auch nach Syrien ausgelagert. Es sind also Kämpfe von vielen Akteuren um ihre ureigenen Interessen, die eher zufällig nun in Syrien aufeinanderprallen.

David Goeßmann: Warum ist dieses Chaos insbesondere in Syrien entstanden? Warum nicht etwa im Irak oder anderswo?

Phyllis Bennis: Es hat auch im Irak zum Teil stattgefunden, aber nicht in dem Ausmaß wie in Syrien. Der Krieg in Syrien ist Teil eines Vorgangs, den wir arabischen Frühling nennen. Es begann als ein friedlicher, mutiger Aufstand der Syrier gegen ein schreckliches Regime. Sie kämpften für demokratische Rechte, Bürger- und Grundrechte. Das Regime antwortete sofort mit Gewalt. Als Gegenreaktion griffen wiederum Teile der Opposition zu den Waffen. Viele von ihnen waren Überläufer der Armee, die also eine militärische Ausbildung und Zugang zu Waffen hatten. Daraus erwuchs der Bürgerkrieg. Mit dem Eintritt des IS usw. drangen immer mehr religiöse Kräfte nach Syrien. Nicht nur Syrer, sondern auch ausländische Kämpfer, die sich verschiedenen dschihadistischen Organisationen anschlossen, bekriegten sich nun. Als sich der IS von seiner Mutterorganisation Al-Kaida ablöste, verblieben die Al-Kaida-Kämpfer in Syrien. Sie bildeten die Al-Nusra-Front, die heute unter einem anderen Namen weiter kämpft. Auch das ist eine komplexe Gemengelage verschiedener Kämpfer. Jeder von ihnen weiß, dass Syrien eines der wichtigsten Länder in der arabischen Welt, im Nahen Osten ist.

David Goeßmann: Warum?

Phyllis Bennis: Für Russland ist Syrien wichtig, weil es der einzige verbliebene Partner in der Region ist. Das russische Militär betreibt einen Stützpunkt im syrischen Tartus, der einzige Stützpunkt außerhalb der ehemaligen Sowjetunion. Russland wird seine Interessen nicht aufgeben. Ihnen ist dabei egal, ob Baschar al-Assad an der Macht bleibt oder nicht. Was Russland interessiert ist: Behalten wir den Marinestützpunkt? Wird Syrien unser wichtigster politischer Verbündeter im Nahen Osten bleiben? Bleibt Syrien ein Hauptkäufer russischer Waffen? Das sind die Sorgen Russlands. Es sind opportunistische Gründe. Ebenso geht es den USA nicht um die Menschen in Syrien, sondern um den Schutz ihrer Interessen und Verbündeten in der Region.

David Goeßmann: Seit letztem Jahr haben mindestens 10 Länder Syrien bombardiert: die USA, Russland, Großbritannien, Kanada, Frankreich, Australien, die Türkei, Israel, die Arabischen Emirate und Jordanien. Die USA haben bereits Bodenkräfte entsandt. Deutschland liefert Waffen und Knowhow an Kurden und militärische Ausrüstung an die Türkei und Frankreich, darunter Luftabwehrsysteme, eine Fregatte und Aufklärungstechnologie. Die UNO und das Rote Kreuz haben letztes Jahr gemeinsam erklärt, dass der Konflikt militärisch nicht gelöst werden kann.

Phyllis Bennis: Ironischerweise ist diese Aussage der UNO und des Roten Kreuzes nur die letzte Version eines allgemeinen Konsenses. Die aktivsten Kriegsparteien — Präsident Obama, diverse Kampfgruppen usw. – alle sagen sie: Es gibt keine militärische Lösung. Und trotzdem entsenden sie beim nächsten Atemzug mehr Truppen, mehr Kampfjets, mehr Kampfdrohnen und intensivieren die Angriffe. Denn sie verstehen nicht, oder wollen nicht verstehen, dass nur Diplomatie den Krieg beenden kann. Sie verstehen nicht, dass Diplomatie nicht nur schwierig, sondern unmöglich wird, wenn man weiter Krieg führt. Solange die USA und Russland beide Seiten mit Waffen beliefern, können noch so viele Waffenruhen erklärt werden. Sie werden nicht halten, solange nicht von allen Seiten ein Waffenembargo akzeptiert wird. Ohne anhaltende Waffenruhe kann es keine wirkliche Diplomatie geben. Solange man weiterkämpft, wird die einzige Alternative „Diplomatie“ unmöglich gemacht. Die Forderung ist daher: Der Krieg muss sofort beendet werden. Es geht schlicht darum, ihn zu beenden, nicht ihn zu „gewinnen“. Das heißt auch, dass keiner bekommen wird, was er will. Die mutigen Kämpfer der syrischen Revolution, der syrische Widerstand, werden aus diesem Krieg nicht erhalten, was ihnen eigentlich zusteht. Die Militarisierung des Konfliktes hat das unmöglich gemacht. Es muss Druck auf die Großmächte im Hintergrund ausgeübt werden, damit der Konflikt nicht mit noch mehr Waffen weiter befeuert werden kann. Die USA zum Beispiel verhalten sich scheinheilig. Jetzt, wo die Situation in Aleppo komplett aus dem Ruder gelaufen ist und Zivilisten, insbesondere Kinder, abgeschlachtet werden, im Moment überwiegend durch russische und syrische Streitkräfte, heißt es aus der US-Administration: „Ihr müsst damit aufhören. Wir verlangen einen Stopp von Waffenlieferungen an das Regime. Stoppt die Bombardierung“. Nun, das würde sicherlich überzeugen, wenn die USA nicht selber den Osten des Landes bombardieren würden — worüber wenig gesprochen wird. Das kostet gottseidank im Moment weniger zivile Opfer. Aber dennoch besitzen die USA keinerlei Glaubwürdigkeit, wenn sie Russlands auffordern, keine Waffen nach Syrien zu senden, wenn sie selbst jede Menge davon ihren Verbündeten Saudi Arabien, Türkei usw. liefern.

David Goeßmann: Also gibt es auf beiden Seiten Kriegsverbrechen?

Phyllis Bennis: Es gibt zweifelsfrei auf allen Seiten Kriegsverbrechen. Jeder begeht sie. Gegenwärtig geschehen die schlimmsten Kriegsverbrechen wohl in Aleppo, durch russische und syrische Luftstreitkräfte. Letzte Woche waren es die USA. Dann waren es wieder andere. Jeder in diesem Krieg hat Verbrechen begangen. Deswegen müssen wir ihn beenden.