16.10.2015
Share: mp3 | Embed video
Einleitung: 

Für die Massenüberwachung nach 9.11. gäbe es keine Rechtfertigung. Sie verstoße gegen die US-Verfassung. Dass die Deutschen, die die Stasi kennen, ihre eigene Ausspähung so gleichgültig hinnähmen, besorgt McGovern. Das Argument, man habe nichts zu verbergen, sei naiv. Die Behörden entschieden über die Verwendung der gesammelten Daten; Erpressung sei nur eine von vielen Möglichkeiten. Auch in Deutschland bräuchte es Whistleblower wie Edward Snowdens, das zeige nicht zuletzt der Netzpolitik-Skandal, so Murray. In den USA wären diese Journalisten bereits längst hintern Gittern, man lebe dort gegenwärtig in einem neu aufgelegten „Stasi-Staat“. Auch die deutschen Medien würden das Thema Massenüberwachung klein halten. Es sei jedoch sehr wichtig, dass Journalisten auf die Gefahren des Überwachungsstaats hinwiesen. „Sie ist eine Bedrohung für uns alle“.
 

Gäste: 
Elizabeth Murray, ehem. Analystin mit Schwerpunkt Naher Osten beim "National Intelligence Council" der US-Regierung; Mitglied beim "Veteran Intelligence Professionals for Sanity".
Ray McGovern, ehem. CIA-Analyst mit Schwerpunkt russische Außenpolitik, verantwortlich für die tägliche Lagebesprechung beim US-Präsidenten und die "National Intelligence Estimates"; Mitglied des Lenkungsausschusses der "Veteran Intelligence Professionals for Sanity".
Transkript: 

Theresia Reinhold: Als ehemalige Analysten der Geheimdienste und US-Bürger: Wie nehmen Sie die deutsche Debatte über die Massenüberwachung durch Geheimdienste wahr? Und wie unterscheidet sich diese von der US-amerikanischen Art, darüber zu diskutieren?

Ray McGovern: Nun, ich würde ganz einfach sagen, dass das, was nach 9.11. passiert ist, absolut gegen unsere Verfassung verstoßen hat. Die meisten wissen das auch. Der vierte Zusatzartikel zur Verfassung verbietet illegale Durchsuchungen und Beschlagnahmungen. Man muss dafür im Besitz einer gültigen Genehmigung mit glaubhaftem Anlass sein. Es gibt keine Rechtfertigung für das, was die USA getan haben – es sei denn, wir sind alle mutmaßliche Terroristen. Mich wundert, dass es den Deutschen, die ja die Stasi kennen und zum Großteil den Film „Das Leben der Anderen“ gesehen haben, heutzutage so gleichgültig zu sein scheint. Manche sagen: „Ich habe ja nichts zu verbergen.“ Nach Edward Snowdens Enthüllungen fragte jemand den Ex-Stasi-Oberst Wolfgang Schmidt: „Was denken Sie über diese Leute, die nichts zu verbergen haben?“ Er antwortete: „Das ist unfassbar naiv. Genau deshalb werden die ganzen Daten gesammelt. Wer nicht will, dass Daten gegen ihn verwendet werden, darf nicht zulassen, dass man diese Daten erhebt.“ Und er liegt damit absolut richtig. Sie werden nicht darüber entscheiden können, wie Ihre Daten genutzt werden. Das entscheiden die Behörden oder Stasi-ähnliche Organisationen. Und Erpressung ist nur eine von vielen Möglichkeiten.

Elizabeth Murray: Ich war sehr interessiert am Ausgang des Netzpolitik-Skandals in Deutschland. Ich finde es wunderbar, dass die beiden Journalisten, die aufdeckten, wie der deutsche Geheimdienst seine Überwachsungsmaßnahmen gegenüber der deutschen Bevölkerung hochfährt, sich weiter frei in Deutschland bewegen können. Ich fürchte, dass wenn dasselbe in den USA passiert wäre, diese Journalisten jetzt wahrscheinlich hinter Gitter wären – aufgrund des National Defense Authorization Act und anderer Gesetze, die nach 9/11 erlassen wurden. Diese haben die US-Bürgerrechte beschädigt. Viele Menschen in den USA fühlen sich seit 9.11. nicht mehr frei genug, um offen über alles reden zu können. Sie machen sich Sorgen, dass sie ihren Arbeitsplatz verlieren oder dass sie auf irgendeine Weise kompromittiert werden könnten. Leider gibt es in den USA diese verhängnisvolle Selbstgefälligkeit: „Ich habe ja nichts zu verbergen.“ Aber: Eine große Rolle hierbei spielen auch die Massenmedien, sowohl in den USA als auch in Deutschland. Ich denke, dass sie das Thema klein halten. Es gab nach den Enthüllungen Edward Snowdens eine Zeit, in der das Thema stark diskutiert wurde. Zu der Zeit bestand auch eine reale Chance, dass Edward Snowden nach Deutschland geholt werden würde. Aber auf einmal verebbte das Thema plötzlich und ich glaube nicht, dass heutzutage noch jemand darüber spricht, Edward Snowden nach Deutschland zu holen. Es wurde nicht zugelassen, „Wir wollen unsere Verbündeten, die USA, ja nicht vor den Kopf stoßen.“ Ich mache mir Sorgen um die Bürgerrechte der Deutschen. Ich dachte zuerst, dass es sich nur um eine US-amerikanische Irrfahrt nach 9.11. handle, aber es weitet sich aus. Ein wichtiger Faktor ist meines Erachtens die untergeordnete Rolle des Themas in den Medien. Es ist nicht so präsent im Bewusstsein der Deutschen wie es sein sollte. Ich hoffe, dass es auch in Deutschland Whistleblower wie Snowden geben wird. Ich hoffe, dass wir noch mehr der Wahrheit verpflichtete Journalisten wie jene von Netzpolitik erleben werden. Uns muss klar sein, dass sonst der Überwachungsstaat Überhand gewinnen wird. In den USA leben wir gegenwärtig in einem Stasi-Staat. Das kann man nur so sagen. Deswegen: Bitte setzen Sie Ihre Arbeit als Journalisten fort, berichten Sie den Deutschen, dass sie sich der Gefahr der Überwachung bewusst sein müssen. Sie ist eine Bedrohung für uns alle.