02.03.2011
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Einleitung: 

Angesichts eines rasant fortschreitenden Klimawandels und einer Krise des Kapitalismus sind die sozialen Bewegungen und das WSF mit großen Herausforderungen konfrontiert. Kontext TV sprach mit Susan George, Mitbegründerin von Attac, Immanuel Wallerstein, Weltsystemtheoretiker an der Yale University, Samir Amin vom Third World Forum, Dakar, Pat Mooney von der ETC Group, Kanada, sowie Jai Sen über Zukunftsperspektiven für soziale Bewegungen und das Forum.

Gäste: 
Jai Sen, CACIM, Indien
Samir Amin, Third World Forum, Dakar
Winni Overbeck, Global Rainforest Movement, Paraguay
Susan George, Transnational Institute/Attac France
Pat Mooney, ETC Group, Kanada
Azril Bacal, Paulo Freire Institut, Brasilien/Schweden
Immanuel Wallerstein, Yale University, USA
Transkript: 

Fabian Scheidler: Jenseis der praktischen Probleme wurde aber auch – bereits seit Beginn des Forumsprozesses vor 10 Jahren – intensiv darüber diskutiert, welche Herausforderungen das Forum und die sozialen Bewegungen in der Gegenwart und Zukunft zu meistern haben.

Jai Sen: Es ist eine Tatsache, dass das Forum in Brasilien, eine multiethnische Gesellschaft, in den ersten fünf Jahren überwältigend weiß war. Warum? Die gemischten Ethnien, die indigenen Bevölkerungen und die Schwarzen wurden außen vor gelassen. Es war nicht ihr Forum. Und das brasilianische Forum hatte zu kämpfen, um es zu einem multi-ethnischen Forum zu machen. Die Leute bekamen einen Schock, als sie nach Indien kamen und sahen, dass die Unterdrückten in Indien, die Dalits, teilnahmen. Das indische Forum im Jahr 2004 veränderte das Weltsozialforum. Es wurde plötzlich klar wahrgenommen. Die Organisatoren erkannten den Rassismus des Forums. Sie veränderten darauf hin das Forum. Sie brachten Menschen verschiedener Hautfarben hinein. Die bisher unterdrückten Menschen kamen zu ihrem Recht im Forum. Das ist der größte Wandel in den letzten Jahren. Seit 1994 mit dem Aufstand der Zapatisten-Bewegung in Chiapas, Mexiko, gegen die Nordamerikanische Freihandelspolitik ging die Botschaft durch viele indigene Völker in Lateinamerika, dass eine andere Welt möglich ist. Vorher hatte das niemand gesagt. Eine Welt, in die viele Welten passen. Die Arbeiterklasse und die indigenen Völker erleben zur Zeit einen weltweiten Aufschwung, sie erheben sich. Das ist die größte Herausforderung für das Forum. Es ist nicht ihr Forum bisher. Die Vordenker des existierenden Forums denken, dass es so ist, sie geben sich Mühe, aber wir müssen feststellen, dass die Codes und Weltsichten, in denen sich indigene Völker und andere Gruppen bewegen, sehr anders sind als unsere. Nicht radikal anders, es mag eine gemeinsame Basis geben, aber es braucht auch einen Wandel im Forum, in der Grundlagencharta.

Samir Amin: Die Bewegungen, die sich auf dem Weltsozialforum treffen, sind nicht unbedingt die großen Bewegungen, die sich in Kämpfen befinden. Sie sind beschäftigt. Es ist nicht das Weltsozialforum, das die Welt verändert. Es sind die Kämpfe der Menschen. Dass die Kämpfe ein Echo in den Foren finden, ist sehr gut. Aber nicht mehr. Man sollte auf dem Teppich bleiben. Die Hauptbewegungen, auch die Bewegungen in Lateinamerika, die Regierungen veränderten in gigantischen Kämpfen, waren nicht die dominierenden Bewegungen auf den Weltsozialforen. Zum Beispiel die indigenen Bewegungen, die Bergarbeitergewerkschaften, die Kokabauern in Bolivien. Sie waren nicht anwesend. Und so weiter. Man sieht auch, dass die ägyptischen Demonstranten nicht hier sind. Natürlich sind sie im Moment gerade woanders beschäftigt. Aber die Revolution startete nicht gestern. Sie wurde über viele Jahre vorbereitet. Sie waren niemals auf den Foren. Als ich mit neuen unabhängigen Gewerkschaftern sprach, die aus den Streiks in Ägypten vor drei Jahren entstanden, stellte ich fest, dass niemand von ihnen jemals vom Weltsozialforum gehört hatte. Wir sollten also sehr bescheiden sein. Aber trotzdem ist diese Treffen sehr wichtig und nützlich.

Winni Overbeck: Man sollte das Forum nicht überschätzen. Ich habe einige afrikanische Organisationen kontaktiert. Sie wussten nicht einmal von dem Forum. Als sie dann davon erfuhren, waren sie interessiert, daran teilzunehmen. Was wir hier haben, ist nur ein kleiner Teil der Bewegungen, von lokalen Gemeinschaften und NGOs, die gegen die Konzerne arbeiten. Wir finden relativ wenig Leute aus den lokalen Gemeinschaften. Bei den großen Problemen wie der Klimakrise oder dem Landraub müssen wir größere Teile der Bevölkerung erreichen, um ein Bewusstsein zu bilden und tatsächlich eine Gegenbewegung zu formen. Wir sind nur eine kleine Handvoll Leute, die zu oft zu sehr beschäftgt sind mit den großen internationalen Vorgängen, bei denen wir feststellen müssen, dass wir nur wenig Einfluss haben. Wir versuchen also möglichst nah an der Basis zu arbeiten und darüber zu berichten, was stattfindet. Bei der Klimakrise geht es zum Beispiel um die so genannten “falschen Lösungen”: Es gibt viele Agrotreibstoff- und Biomasse-Plantagen. Wir gehen dort vor Ort. Reden mit den Leuten, schreiben darüber und lassen die Menschen wissen, was um sie herum vorgeht und was die Auswirkungen von diesen falschen Lösungen sind. Wir versuchen das auch zu stoppen. Wir müssen einen größeren Wandel hinbekommen: Das bedeutet, dass jeder in seine lokalen Gemeinschaften gehen sollte, in die Schulen zum Beispiel. Man sollte versuchen mit den Medien zusammenzuarbeiten. Es ist ein schwerer Kampf. Und das Forum ist ein wichtiges Ereignis.

Susan George: Was könnte man besser machen? Ich denke wir sind nicht sichtbar genug. Ich bringe schon seit Jahren vor, dass man sich auf einen Tag einigt, an dem alle zu einem großen Thema etwas machen und an die Öffentlichkeit gehen. Egal was. Es könnte zum Klima, zu Gewalt gegen Frauen, Schulden oder was auch immer sein. Wichtig ist, dass alle an die Öffentlichkeit gehen. Das heißt nicht, dass man seine tägliche Arbeit aufgibt oder das Thema, das uns beschäftgt, niederlegt, an dem wir am meisten interessiert sind. Die Leute hier haben ja meist ein bis zwei Hauptthemen, um die sich ihr Interesse dreht. Aber es würde bedeuten, dass wir einmal im Jahr zusammen etwas machen würden, und den Rest der Zeit bilden wir nationale, regionale und grenzüberschreitende Allianzen. Ich hoffe, dass das einmal geschehen wird. Wir werden sehen. Am Anfang war das Forum eine Neuheit. Die Presse war sehr interessiert. In Porto Alegre waren viele Franzosen involviert und die französische Presse kam in Massen. Das ist nicht mehr der Fall. Heute ist es Routine. Die Presse geht lieber nach Davos – weil es näher ist und man dort reiche statt arme Leute trifft. Aber Leute, die interessiert sind, was armen Menschen geschieht, findet man dort wohl kaum.

Pat Mooney: Für mich ist es wichtig, die Kapazitäten des Sozialforums zu stärken, um auf nationaler und regionaler Ebene besser arbeiten zu können. Ich würde sagen, man sollte das Weltsozialforum selbst alle drei Jahre stattfinden lassen. Zugleich sollte man mehr Energien in die nationalen und regionalen Aktivitäten stecken, die auf die globalen Diskussionen hin arbeiten. Wir sollten diese Aktivitäten stärken und lebendig halten. Wir sollten die Debatten möglichst offen halten in einer progressiven linken Perspektive.

Azril Bacal: Das Weltsozialforum ist ein Prozess, der den Menschen noch immer Hoffnung macht. Und Hoffnung ist ein sehr wichtiges politisches Gut. Menschen, die die Hoffnung verloren haben – auch aus unseren eigenen Reihen –, werden leicht zu Komplizen des hegemonialen Projekts, welches nicht nachhaltig, destruktiv, gierig, kurzsichtig und selbstmörderisch ist.

Immanuel Wallerstein: Soziale Bewegungen haben eine herausragende Bedeutung. Zuerst einmal wird die Entscheidung, in welche Richtung wir in Zukunft gehen - eine Zunahme von Ausbeutung oder eine tatsächliche Demokratisierung der Gesellschaft -, ich nenne das die Gabelung – entschieden von der kollektiven Aktivität von allen. Daher scheint es mir, dass soziale Bewegungen vor allem analysieren müssen, was wirklich geschieht. Sie müssen verstehen, was in der Welt passiert. Das ist nicht einfach. Tatäschlich ist es sehr schwierig. Dann müssen sie sich entscheiden. Sie müssen ihr Gewicht auf eine Seite der Gabelung werfen. Und dann müssen sie darüber nachdenken, welche politischen Strategien in diese Richtung führen. Das sind keine einfachen Dinge. Das ist es auch, womit wir uns hier auf dem Weltsozialforum auseinandersetzen. Einzelne soziale Bewegungen in der ganzen Welt kämpfen sich daran ab. Und dann ist da ein zweites Problem. Es ist das Problem des richtigen Augenblicks, des Timings. Menschen leben auf kurze Sicht, damit meine ich maximal 3 Jahre, sie essen, sterben, sorgen sich um ihre Sicherheit kurzfristig. In dieser kurzen Zeitperspektive können wir in dieser Situation nur das Leiden minimieren. Man unterstützt eine Sache gegenüber einer anderen, weil sie das Leiden minimiert. Wenn man die Alternative genommen hätte, dann hätte das das Leiden verstärkt. Dabei handelt es sich noch nicht um eine Transformation, eine Veränderung. Das Leiden zu verringern ist ein Verteidigungsakt. Das verändert die Welt nicht. Aber die Minimierung des Leidens ist wichtig. Die Menschen brauchen sie. Niemand will morgen sterben, weil die Straßen nicht mehr sicher sind, weil er kein Essen mehr bekommt oder keine Unterkunft. Daher müssen sich Bewegungen um diese kurzfristigen Bedürfnisse kümmern. Und dann gibt es die mittelfristige Perspektive. Darin finden die größeren Veränderungen statt. Die Bewegungen müssen also lernen, wie sie die kurzfristige Taktik zur Leidensverringerung mit einer mittelfristigen Strategie der Weltveränderungen verbinden können."

Jai Sen: Der zweite wesentliche Wandel in den letzten zehn Jahren ist, dass der Kapitalismus in der Krise steckt. Die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007 hat das klar gezeigt. Es ist eine interne Krise, der Kapitalismus erreicht seine Grenzen, und man war nicht in der Lage, diese Krise zu beherrschen – eine Krise der Überproduktion, des Überangebots, der Überkonsumption. Und die dritte Krise ist die Klimakrise, die uns alle bedroht und uns mit großer Wahrscheinlichkeit massiv zurückwerfen wird. Die Welt in 50 Jahren wird, wenn es so weiter geht, eine verwüstete sein. Weil wir nicht in der Lage gewesen sind, die nicht-linearen Vorgänge zu stoppen. Alle gesellschaftlichen Institutionen werden dann zusammengebrochen sein. Es wird eine Welt sein, in der Konzerne mit ihren eigenen Privatarmeen frei schalten und walten können, Warlords sich breit machen, wo der Staat sich auf einen sehr engen ethnisch-fundamentalistischen, nationalistischen Radius verengt – und Bewegungen sich neu formieren müssen. Ich denke wir müssen in die Zukunft vorausdenken, nicht nur zehn Jahre sondern wegen der Klimakrise auch 50 Jahre. Und nur Bewegungen können uns das Wissen geben, diesen Vorgang zu stoppen. Regierungen werden uns dieses Wissen nicht geben, auch nicht die Konzerne. Die Konzerne planen natürlich, sie haben ihre Think Tanks, in denen sie planen, wie sie die Erde vergewaltigen, bis sie tot ist, und auch noch danach, nachdem sie tot ist. Die Militärs planen. Und was machen die Bewegungen? Aber es ist nur das Wissen, das aus den sozialen Bewegungen, aus betroffenen gesellschaftlichen Akteuren kommt, das die Welt verändern und die Plünderung, die zur Zeit stattfindet, aufhalten kann.

David Goeßmann: Das war Kontext TV über das Weltsozialforum 2011 in Dakar, Senegal. In Kürze werden wir eine weitere Dakar-Sendung mit dem Schwerpunkt Afrika senden. Darin wird es vor allen Dingen um Land-Grabbing, die Folgen des Klimawandels, die Freihandelspolitik der EU und das People's Paliament in Nairobi gehen.

Fabian Scheidler: Zudem werden wir einige Interviews auskoppeln. Darin kommen insbesondere Pat Mooney, der bekannte Weltsystemtheoretiker Immanuel Wallerstein und Nnimmo Bassey ausführlicher zu Wort. Die Interviews und die Dakar-Sendungen werden Sie auch auf unserer Internetseite finden unter: www.kontext-tv.de.

David Goeßmann: Danke fürs Zuschauen und Zuhören und bis zum nächsten Mal. Es verabschieden sich David Goeßmann

Fabian Scheidler: ... und Fabian Scheidler.