Trotz ihrer überlegenen militärischen Stärke schwinde die Hegemonialmacht der USA zusehends. Afghanistan und Irak hätten diese Ohnmacht offenbart, so Wallerstein. Da der Einsatz größerer Bodentruppen in den USA politisch nicht durchsetzbar sei, könne das US-Militär nur Bomben werfen. Die Bombardierungen würden aber lediglich dazu führen, dass immer mehr Menschen weltweit die USA als Feind sehen. Auch Bündnispartner seien zusehends unwillig, für US-Interessen Krieg zu führen. Daher sei der mit Abstand größte Militärapparat der Welt für die USA politisch nutzlos. Mit Investitions- und Freihandelsabkommen wie TTIP und TPP versuchten die USA zwar, die Position von US-Firmen zu stärken, aber diese Verträge würden wegen des enormen Widerstandes - sowohl in den USA als auch in Europa und im Pazifischen Raum - scheitern.
Immanuel Wallerstein, Senior Research Scholar an der Yale University, USA. Mitbegründer der Weltsystem-Theorie, von 1994-1998 Präsident der International Sociological Association und Autor zahlreicher Bücher
Fabian Scheidler: Sie haben über den Niedergang der US-Hegemonie in der Welt geschrieben. Allerdings haben die USA immer noch die Herrschaft über die Weltmeere, es gibt Militärbasen auf der ganzen Welt und sie verfügen über Geheimdienste, die so gut wie alles durchdringen. Warum denken Sie also, dass die US-Hegemonie abbröckelt? Und was kommt danach? Eine wahrhaft multipolare Welt oder ein von China dominiertes Jahrhundert?
Immanuel Wallerstein: Die USA verfügen über die beeindruckendste Militärstruktur der heutigen Welt. Niemand könnte der USA den Krieg erklären, ohne auch nur die kleinste Hoffnung auf Sieg zu haben. Doch das ist irrelevant, denn die USA können dies Militär nicht wirklich nutzen. Das mussten sie im Irak und in Afghanistan erkennen, und das beängstigt Obama, wenn es darum geht, Bodentruppen einzusetzen. Die USA können diese Streitkräfte nicht einsetzen und deshalb nehmen die Leute sie auch nicht ernst. Es handelt sich um das stärkste Militär der Welt und es ist dennoch ein unwichtiger Faktor in der Welt, so wie sie ist. Alles, was wir können, ist bombardieren. Das funktioniert zwar ganz gut, aber nur wenn man die Tatsache außer acht lässt, dass man sich damit Menschen überall auf der Welt zum Feind macht und die Situation noch verschlimmert. Also muss man eben noch mehr Bomben abwerfen und eine andere Macht dazu bringen, Bodentruppen einzusetzen. Deshalb werden mittlerweile andere Staaten gebeten, Truppen bereitzustellen, die Amerika nicht bereitstellen kann. Allerdings antworten die: Warum sollten wir das tun? Dann bekommen wir doch genau die gleichen Probleme, die ihr gerade habt. Man kann also sagen, dass die USA zwar über ein starkes Militär verfügen, aber trotzdem kein starkes Militär haben, denn zuhause will niemand mehr Bodentruppen einsetzen. Die Leute wollen definitiv keine amerikanischen Bodentruppen, das würde jeden Präsidenten in den Staaten vor gewaltige Schwierigkeiten stellen. Andere wollen, dass man für sie Bomben wirft, und danach wollen sie sich auch noch darüber aufregen, dass man für sie Bomben geworfen hat und sich gar darüber empören. Das ist eine hoffnungslose Lage für die Vereinigten Staaten. Sie haben keine echten Optionen: So sind sie zugleich mächtig und ohnmächtig, und die Bevölkerung will von dieser wachsenden Ohnmacht nichts hören.
Fabian Scheidler: Welche Rolle spielt in dieser Hinsicht der Handel? Es werden gerade einige wichtige Handelsabkommen verhandelt, TTIP zwischen der EU und den USA; TPP mit pazifischen Staaten. Ist dies ein Versuch, die Vorherrschaft Amerikas wiederherzustellen?
Immanuel Wallerstein: Nun, es ist sicher der Versuch, eine gewisse privilegierte Stellung für US-Firmen durchzusetzen, aber diese Handelsabkommen werden nicht durchkommen, lassen Sie mich das hier und heute vorhersagen. Die USA würden diese Handelsabkommen gerne umsetzen, und es gibt einige Partner, die sie ebenfalls wünschen, aber der Widerstand dagegen ist so stark, dass sie nicht abgeschlossen werden können, weder das pazifische noch das atlantische. Die USA versuchen das, aber sie werden keinen Erfolg haben. Wenn wir uns in zwei oder drei Jahren zum nächsten Interview treffen werden, dann sind diese Handelsabkommen tot. Betrachtet man frühere Vorstöße in diese Richtung, also zum Beispiel bei dem WTO-Gipfel in Seattle im Jahre 1999, als man versucht hatte, international bestimmte Eigentumsansprüche für das Kapital durchzusetzen, ist das schließlich auch gescheitert. Und seither wurde immer wieder versucht, diese Sache wiederzubeleben, und keine davon war erfolgreich, noch wird sie je erfolgreich sein. Die WTO zum Beispiel ist heute eine völlig irrelevante Institution. Sie existiert zwar auf dem Papier, aber sie tut nichts, und sie kann nichts tun.
[Übersetzung aus dem Englischen von Michael Krämer]