18.08.2011
Share: mp3 | Embed video
Einleitung: 

Die Besatzungstruppen in Afghanistan begingen Massaker und Kriegsverbrechen gegen das afghanische Volk, sagt die afghanische Politikerin und Aktivistin Malalai Joya. Die Nato und die USA töteten Tausende von Zivilisten wie zum Beispiel in Kunduz und hätten ein Warlord-System in Afghanistan installiert. Die afghanische Bevölkerung protestiere dagegen, doch niemand höre den Menschen zu. Die Karzai-Regierung in Kabul lasse die Verbrechen zu. Es sei ein korruptes Marionetten-Regime der Besatzer. Gleichzeitig werde das Parlament beherrscht von Warlords, Drogenbaronen und Taliban. Ein Abzug der Besatzungstruppen, so Joya, würde zumindest das Rückgrat der fudamentalistischen Warlords brechen und den Bürgerkrieg im Land stoppen helfen.

Gäste: 

Malalai Joya, afghanische Politikerin und Bürgerrechtlerin, Kabul

Transkript: 

Fabian Scheilder: In den letzten zwei Jahren sind 250.000 Afghanen aufgrund der Kämpfe aus ihren Dörfern geflohen. Das geht aus einem aktuellen Bericht von Refugee International hervor. Die Nichtregierungorganisation kritisiert die Militäroperationen der USA und der Nato. Zitat: "Der zunehmende Zahl von Luftschlägen der ISAF und der afghanischen Sicherheitskräfte wie auch die nächtlichen Überfälle von US-Spezialkräften zerstören Häuser, Ernten und elementare Infrastruktur. Sie traumatisieren Zivilisten und vertreiben zehntausende Menschen." Laut Refugee International hat sich die Zahl der Menschen in Afghanistan, die von ihrem Wohnort fliehen müssen, im letzten Jahr verdoppelt.

David Goeßmann: Wir wollen nun einen kurzen Ausschnitt aus dem Dokumentarfilm "Kabul Daily Life" des spanischen Filmemachers Alberto Arce zeigen. Er hat im letzten Sommer ein Flüchtlingslager in Helmand aufgesucht und mit den Menschen dort gesprochen.

Filmausschnitt: Dort bomben sie auf uns und hier hilft uns niemand. Unsere Führer hören nicht auf uns. Die Situation ist nun schon seit drei Jahren so. Jeder weiß, dass Afghanistan brennt."
"Was haben die Amerikaner uns gebracht? Haben sie uns Häuser mitgebracht? Haben sie uns Geld gegeben? Haben wir durch sie Erziehung? Sagen Sie mir eine gute Sache, die sie gebracht haben! Wir waren vorher arm und sind es heute."
"Wir, die Armen, wir sind immer die Opfer. Optionen haben nur die reichen Leute. Die Amerikaner werfen wie damals die Russen Bomben auf uns. Und diese Regierung bombt auch auf uns. Wir wollen nur Frieden und eine stabile Situation. Als gute Muslime haben wir diesen Krieg satt.

Fabian Scheidler: Das war ein Ausschnitt aus "Kabul Daily Life" von Alberto Arce. Den Link zu dem Dokumentarfilm finden Sie auf unserer Homepage unter www.kontext-tv.de.

David Goeßmann: Wir wollen jetzt nach Kabul schalten, um mit Malalai Joya zu sprechen. Malalai Joya ist ehemaliges Mitglied des afghanischen Parlaments und scharfe Kritikerin der Warlords, Fundamentalisten, Taliban sowie der US- und Nato- Besatzung von Afghanistan. Sie wurde 2007 für den Rest ihrer Amtszeit suspendiert, weil sie öffentlich das afghanische Parlament kritisiert hatte. 2009 erschien in Deutsch ihr Buch:  "Ich erhebe meine Stimme - Eine Frau kämpft gegen den Krieg in Afghanistan." Die BBC beschrieb Joya einmal als die "mutigste Frau in Afghanistan". In 2010 ernannte sie das Time Magazine zu einer der hundert einflußreichsten Menschen in der Welt. Joya hat zahlreiche Mordanschläge überlebt und muss im Untergrund leben. Aus Sicherheitsgründen konnten wir sie nur auf einem Handy in Kabul erreichen.

Fabian Scheidler: Malalai Joya, Sie müssen im Untergrund leben, Bodyguards beschützen Sie. Warum?

Malalai Joya: Das gilt nicht nur für mich. Die meisten Afghanen sind durch die Präsenz von zehntausenden ausländischer Soldaten in Afghanistan in ihrem eigenen Land nicht mehr sicher. Millionen Afghanen leiden unter Ungerechtigkeit, Korruption, Armut, Arbeitslosigkeit. Sie leben in vielfachem Elend. Ich muss im Untergrund leben, weil ich die Wahrheit ausspreche. Ich habe den fundamentalistischen Warlords ihre Masken weggenommen und sie entlarvt. Sie sind genauso schlimm und unterdrückend wie die Taliban. Nur äußerlich geben sie sich anders. Diese Warlords wurden nach der Tragödie von 9/11 unserem Volk aufgezwungen. Ich habe meine Stimme auch gegen die Besatzungstruppen und die falsche Politik der westlichen Regierungen erhoben - gegen die USA, die Nato und die Geldgeber der Warlords und der Besatzung. Ich denke, dass das die Gründe sind, warum man mich auslöschen möchte. Darum muss ich vorsichtig sein. Ich trage deshalb eine Burka und habe Bodyguards. Meine Sicherheitslage hat sich verschlechtert. Man muss nur mein jetziges Leben vergleichen mit dem während der Gewaltherrschaft der Taliban. Damals war es gefährlich, sich für Frauenrechte und Menschenrechte aktiv einzusetzen. Auch damals trug ich die Burka. Ich arbeitete als Lehrerin im Untergrund. Aber heute ist es selbst mit Burka und Bodyguards nicht mehr sicher! Ich wechsle ständig meine Wohnungen und erhalte Todesdrohungen. Und trotzdem fühle ich mich nicht sicher. Tagtäglich verschlechtert sich die Situation, insbesondere die Sicherheitslage. Selbst in Kabul kann unser Volk nicht mehr sicher leben.

Fabian Scheidler: Beschreiben Sie für unsere Zuhörer und Zuschauer in Deutschland und Europa, wie die Situation im Moment in Afghanistan ist. Es ist fast zehn Jahre nach dem Einmarsch der U.S. und Nato Truppen in Afghanistan.

Malalai Joya: Mein Volk lebt wie in der Hölle. Wir werden zerrieben zwischen drei Arten von Feinden: den Warlords, den Taliban und den Besatzungstruppen. Die Besatzungstruppen bomben vom Himmel. Sie töten unschuldige Zivilsten. Die Nato und US Truppen haben während der zehn Jahre Besatzung zehntausende Unschuldige getötet. Darunter meistens Frauen und Kinder. Die ausländischen Truppen begehen Massaker in unserem Land. Und die Tragödie geht weiter und weiter. Die verbrecherischen Taliban und Warlords greifen unsere Männer und Frauen an. Ich will nur einige aktuelle Beispiele für das Leid unseres Volkes nennen. Am 26. Juli wurden drei unschuldige Zivilisten durch Luftschläge der Nato in der Provinz Kunar getötet. Sechs Zivilisten wurden am 14. Juli in der Provinz Khost getötet. Am gleichen Tag starben weitere 13 Zivilisten. Wiederum zum großen Teil Frauen und Kinder. Die Menschen protestierten, es fanden große Demonstrationen statt. Zehntausende Afghanen gingen gegen die Kriegsverbrechen auf die Straße. Aber keiner hört den unschuldigen Zivilisten zu, die ihre Stimme gegen die Besatzung erheben, gegen das mafiöse Marionetten-Regime Karzais. Die Situation für Frauen ist so schlimm wie nie zuvor. Vergewaltigungen und islamistische Gewalt gegen Mädchen an Schulen hat zugenommen. Und viele andere Gewaltarten sind rapide angestiegen. Vor kurzem, am 27. Juli, wurde ein Mädchen in der Provinz Takhar vergewaltigt. Und vielleicht haben Sie auch von dem offiziellen Bericht zur "Lage der Mütter in der Welt" gehört. Danach ist Afghanistan das Land in der Welt, in dem es den Müttern am schlechtesten geht. Afghanistan ist heute weltweit der Tophersteller von Opium. Afghanistan ist das korrupteste Land in der Welt. Es gibt viele andere Beispiele, an denen man ablesen kann, wie sich die Situation Tag für Tag verschlechtert. Indem die USA und die Nato die terroristischen Taliban und Kriegsverbrecher in die Regierung bringen, stoßen sie unser Land immer tiefer in den Krieg, in die Tragödie, ins Disaster und in einen hoffnungslosen geschichtlichen Zustand.

David Goeßmann: Wie ist die Lage für Flüchtlinge in Afghanistan?

Malalai Joya: Die Situation für die meisten Afghanen ist nicht gut. Darum versuchen so viele Afghanistan zu verlassen. Sie gehen in benachbarte Länder wie Iran oder Pakistan. Besonders das faschistische Regime, die Diktatur im Iran, begeht viele Verbrechen gegen die Afghanen. Sie töten sie an der Grenze oder im Iran. Sie bestrafen sie hart. Und keiner stellt Fragen. Denn unsere Regierung ist eine Marionettenregierung. Sie ist ein korruptes Mafiaregime. Der Iran hat seine Leute in Hamid Karzais Regime. Sie haben Blut an den Händen.

Fabian Scheidler: Was denken die Afghanen über die ausländischen Truppen in ihrem Land? Was denken sie über die ISAF und das US-Militär?

Malalai Joya: Unser Land wird okkupiert. Und die Verachtung der Menschen dafür steigt täglich. Unglücklicherweise bomben die Truppen vom Himmel und töten Zivilisten. All das sind Kriegsverbrechen und Massaker. Das Weiße Haus in Washington sagt dann immer lapidar: "Enschuldigung". Das Marionettenregime Karzais bedankt sich noch dafür. Und dann ist die Sache für sie erledigt. Die US- und Nato-Truppen werfen sogar die international geächteten Phosphor- und Splitterbomben auf die afghanische Bevölkerung ab. Man errichtet keine Demokratie mit solchen Bomben. In zehn Jahren Besatzung haben die USA und die Nato dem afghanischen Volk eine Karrikatur von Demokratie aufgezwungen. Es ist ein blutiges Herrschaftssystem. Es ist schlimm: Unser Parlament ist absolut undemokratisch. Die meisten Mitglieder sind Warlords, Drogenbarone, Taliban, die schwere Verbrechen begangen haben. Und die bekämpfen und terrorisieren nun Parlamentarier, die Klage erheben gegen die, die Blut an den Händen haben. Die Afghanen hassen Leute wie Rhabbani, Mohaqiq und so weiter. Es sind Verbrecher, Warlords, die im Parlament sitzen. Das war auch im vorherigen Parlament so. So konnten sie für sich selbst ein Amnestiegesetz in Kraft setzen. Die Verbrecher haben sich quasi selbst vergeben. Es war ja ganz einfach, das Gesetz durchzubringen, da die Mehrheit der Sitze im Parlament den Warlords gehört. Die Wahlen sind reine Fassade, haben nichts mit Demokratie zu tun. Die Afghanen sprechen von Betrug und Pfründenwirtschaft. Die Warlords sind in der zehnjährigen Besatzungszeit überaus mächtig geworden. Jetzt ist es sehr leicht für sie, die Ergebnisse der Wahlen so zu manipulieren, wie sie sie haben wollen. Sie haben die Demokratie in Geiselhaft genommen. Wir haben einen bekannten Spruch in Afghanistan: "Es ist nicht wichtig, wer wählt, sondern wer auszählt." Das ist das Problem der afghanischen Menschen. Millionen Afghanen boykottieren daher die Wahlen. Insbesondere gebildete Leute, Schauspieler, freiheitsliebende, demokratisch gesinnte Afghanen tun das. Auch ich boykottiere die Wahlen. Wahlen unter der Herrschaft von Warlords, Drogenbaronen, Korruption und Besatzungstruppen hat keinerlei Legitimität. Wahlen sind sicherlich ein zentrales Element im demokratischen Prozess. Aber leider sind sie zu einem Instrument in den Händen der Besatzungmächte USA, Nato und ihren afghanischen Marionetten geworden. Damit wollen sie dem Marionettenregime den Anschein von Legitimtät geben. Das Parlament ist heute kein Ort der afghanischen Nation. Es ist das Haus der Feinde der Afghaninnen und Afghanen. Demokratisch gesinnte Parlamentarier kann man an einer Hand abzählen. Sie sind eine verschwindende Minderheit.

David Goeßmann: Am 4. September 2009 befahl ein deutscher Offizier einen Luftanschlag auf Tanklaster in der Nähe von Kunduz. Die Nato spricht von bis zu 142 Toten. Darunter viele Zivilisten, Kinder. Es war der blutigste Militärschlag der Bundeswehr nach dem zweiten Weltkrieg. Ihr Kommentar.

Malalai Joya:  Das war wirklich zuviel für die afghanischen Menschen. Wir finden kein anderes Wort dafür als "Kriegsverbrechen". Es war schlicht ein Massaker. Aber es ist nicht neu für die Afghanen. Es war leider nicht das einzige Massaker, das einzige Kriegsverbrechen, das wir beobachten müssen. Es gab viele andere Massaker. In der Farah Provinz zum Beispiel haben die amerikanischen Besatzungstruppen gebombt. 150 Zivilisten starben in der Sar-i-Pul Provinz. Das sind mehr als beim Kunduz Luftschlag. Die USA und die Nato Truppen bombardieren selbst unsere Hochzeitsfeiern wie im Fall Nangarhar in Nooristan. Die Verbrechen gehen immer weiter. Es gibt Bilder von den getöteten unschuldigen Zivilisten. Auch hier wieder überwiegend Frauen und Kinder. Sie haben vielleicht von den sogenannten Kill-Teams gehört. Diese Kill-Teams der Besatzungstruppen ließen sich fotografieren, wie sie sich mit toten Körpern von Afghanen einen Spaß machten. Die Afghanen nehmen das wahr; sie sind verletzt und getroffen. Keiner von ihnen wird ruhig bleiben. Sie erheben ihre Stimme gegen diese Verbrechen. Und wieder sehen wir, wie die US-Regierung die Verantwortung für diese Verbrechen abschieben will und sie auf die Schultern von einigen Soldaten abwälzt. Die amerikanische Regierung sagt, dass man die Missetäter vor Gericht bringen werde. Das ist bedeutungslos, ein heuchlerisches Ablenkungs- und Täuschungsmanöver. Sie sollten alle ihre Soldaten so schnell wie möglich aus Afghanistan abziehen.

Fabian Scheidler: In Europa und in den USA wird oft argumentiert, dass, wenn die Truppen aus Afghanistan abgezogen würden, es Bürgerkrieg geben würde und die Taliban mit ihrem unterdrückerischen Regime wieder an die Macht kämen. Wie schätzen Sie die Situation ein? 
 
Malalai Joya: Ich höre das immer wieder in den Mainstreammedien. Neben der militärischen Gewalt gibt es eben leider auch den Propadandakrieg. Die Mainstreammedien sind ein Instrument in den Händen der Besatzer. Diese Kriegstreiber manipulieren die Einstellungen der Leute nach ihren Vorstellungen. Sie versuchen sie in eine falsche Richtung zu bringen. Tatsächlich wollen die Medien den Menschen in der Welt weis machen, dass der Afghanistankrieg ein guter Krieg ist. Und jetzt propagieren sie, dass, wenn die Truppen abgezogen würden, ein Bürgerkrieg ausbrechen würde. Aber keiner redet über den tagtäglichen Bürgerkrieg heute. Je länger die Truppen hier sind und von oben bomben und unschuldige Zivilisten im Namen der Taliban töten, umso mehr Bürgerkrieg wird es geben. Die Besatzung hat unsere Probleme und unser Elend verdreifacht. Wenn die Soldaten der USA und Nato tatsächlich einmal das Land verlassen würden, dann würde zumindest das Rückgrat dieser fundamentalistischen Warlords gebrochen. Wenn das nicht geschieht, dann werden die Warlords und Verbrecher immer mächtiger. Dann wird es für sie einfacher, demkratisch gesinnte Kräfte zu eliminieren. Es gibt einige Parteien und Intellektuelle in Afghanistan, die sich im Untergrund befinden und die sehr große Risiken eingehen. Die Besatzungspolitik hilft den Feinden der Demokratie, solche Kämpfer für Demokratie und Freiheit auszulöschen. Wir sollten hingegen die unterstützen, die ehrlich für eine bessere Zukunft Afghanistan arbeiten. Die USA und die Nato halten die Lage in Afghanistan bewußt gesetzlos und unsicher -  wie im Moment. So haben sie eine eine Ausrede, hier länger zu bleiben, um ihre eigenen Interessen zu verfolgen.

David Goeßmann: Das war Malalai Joya aus Kabul.