Heute gibt es keine hundert al-Qaida Mitglieder in Afghanistan mehr, sagt Phyllis Bennis. demgegenüber insgesamt 250.000 Soldaten und Söldner der USA und NATO. Der Krieg werde aus strategischen Interessen geführt. Eigentliche Zielscheibe sei Pakistan. Angesichts der Schuldenkrise in den USA müsse die Forderung nun sein, die eine Billion Dollar, die die Amerikaner in diesem Jahr für Krieg - vor allem für Afghanistan - ausgeben, ins Land zurück zu holen. Die Truppen müssten abgezogen, Reparationen von den Besatzern gezahlt und eine regionale Diplomatie in Gang gesetzt werden.
Phyllis Bennis, Institute for Policy Studies, Washington D.C.
Fabian Scheidler: Umfragen in den USA zeigen, dass eine Mehrheit der Amerikaner seit Jahren den Krieg in Afghanistan ablehnt. Nach einer aktuellen Erhebung der Washington Post und des Senders ABC halten Zweidrittel der US-Bürger den Krieg für nicht kämpfenswert. Sie verlangen von Präsident Barack Obama, große Teile der Truppen noch diesen Sommer aus Afghanistan zu holen. Obama hatte im Juni angekündigt, 10.000 Soldaten dieses Jahr abzuziehen. Nächstes Jahr sollen 23.000 Soldaten folgen. Es werden dann 70.000 US-Soldaten in Afghanistan sein. Dazu kommen zehntausende von den USA bezahlte Söldner. Die amerikanische Truppenstärke wird nach dieser Reduzierung immer noch höher sein als vor Obamas Amtsantritt.
David Goeßmann: Unser nächster Gast ist Phyllis Bennis. Sie ist Mitglied am Institute for Policy Studies in Washington D.C. und Autorin des Buches "Ending the US War in Afghanistan: A Primer", übersetzt: "Den Krieg in Afghanistan beenden: Eine Einführung".
David Goeßmann: Phyllis Bennis, die offizielle Begründung für den Einmarsch in Afghanistan und die Besetzung des Landes war und ist die Bekämpfung des Terrorismus. Wie plausibel ist diese Rechtfertigung etwa angesichts der Tatsache, dass keiner der 9/11 Täter aus Afghanistan stammte. Die meisten von ihnen kamen aus Saudi Arabien. Bis heute ist kein Afghane im Zusammenhang mit den Ereignissen vom 11. September verurteilt worden. Warum hat man sich für Afghanistan entschieden und nicht für Saudi Arabien?
Phyllis Bennis: Ich bin der Meinung, dass die Entscheidung, Afghanistan anzugreifen, politisch und nicht strategisch begründet war. Es war eine Vorbereitung auf das eigentliche Ziel, Krieg gegen den Irak zu führen. Aber Afghanistan war, wenn Sie so wollen, das leichtere Ziel. Es wurde behauptet, dass die Attentäter von jemandem in Afghanistan inspiriert worden seien und es daher legitim wäre, die gesamte Bevölkerung Afghanistans mit einem massiven Krieg zu überziehen. Wie Sie schon gesagt haben, stammten die Attentäter nicht aus Afghanistan, sondern sie kamen aus Ägypten und Saudi Arabien. Sie lebten auch nicht in Afghanistan, sie kamen aus Hamburg. Sie wurden auch nicht in Afghanistan ausgebildet, sondern in Florida. Nicht einmal die Flugausbildung haben sie in Afghanistan absolviert – das war in Minnesota. Es gab also weder eine legitime Begründung, noch war es ein Akt der Selbstverteidigung. Die Attentäter wurden getötet und es gab keinen Hinweis, dass weitere Attentäter auftauchen würden. Der Grundgedanke der Rechtfertigung bestand darin, dass SIE uns angegriffen haben und daher WIR das Recht haben, einen jeden von ihnen zu töten – wie auch immer wir das Wort WIR definieren wollen. Dabei war die Unterscheidung von „wir“ und „sie“ die zentrale ideologische Grundlage der ganzen Rechtfertigungsstrategie. Die derzeitige Begründung für die Besatzung, den Krieg, ist sehr konkret. Es geht darum, al-Quaida zu jagen. Nun ist das Problem der US-Regierung, dass sie eingeräumt hat, dass es nur noch 50 bis 75 al-Quaida-Mitglieder in Afghanistan gibt. Gleichzeitig sind dort über 100.000 US-Soldaten sowie 40.000 bis 50.000 Nato-Truppen stationiert. Dazu kommen noch einmal etwa 100.000 von den USA bezahlte Söldner. Und die alle sollen 75 al-Quaida-Mitglieder jagen? Wohl kaum. Es geht vielmehr um die Weiterführung des politischen Krieges. Man will sicherstellen, dass die USA irgendwann einmal in der Lage sein werden, einen irgendwie gearteten Sieg auszurufen - auch wenn das in Wirklichkeit niemals der Fall sein wird. Strategisch geht es um die günstige Lage Afghanistans. Eigentlich möchten die USA Pakistan besetzen, aber sie können das nicht. Die USA würden lieber heute als morgen Pakistan den Krieg erklären, aber sie sind dazu einfach nicht in der Lage. Stattdessen sagt man, dass man Krieg in Afghanistan führe. Man nutzt das Land, um von dort Drohnen gegen Pakistan einzusetzen. Das ist ein Krieg ohne Kriegserklärung. Daneben gibt es noch den Aspekt der Gas- und Öl-Pipelines, die durch Afghanistan verlaufen. Aber im Wesentlichen ist der Krieg in Afghanistan kein Krieg um Öl. Es geht vielmehr um eine strategische Positionierung. Dadurch unterscheidet sich dieser Krieg und seine Funktion vom Irakkrieg.
David Goeßmann: Hunderte Milliarden Dollar werden für den Krieg in Afghanistan ausgegeben. Gleichzeitig befinden sich die USA in einer schweren Schuldenkrise. Wie beurteilen Sie die Kosten des Krieges und das amerikanische Militärbudget im allgemeinen?
Phyllis Bennis: Die US-Amerikaner zahlen zur Zeit einen ernormen Preis. Und dieser Preis hängt sehr direkt und unmittelbar mit der Finanzierung des Afghanistan-Krieg zusammen. Während man uns sagt, dass es kein Geld für Jobs, für die Gesundheitsversorgung und für Schulen gäbe, ist die US-Regierung hingegen bereit, allein in diesem Jahr 122 Milliarden Dollar für den Krieg in Afghanistan aufzubringen. Doch das ist bei weitem nicht die ganze Summe. Weitere Ausgaben kommen hinzu: 47 Milliarden für den Krieg im Irak und insgesamt 553 Milliarden Dollar – das ist eine halbe Billionen – allein in diesem Jahr für den Haushalt des Pentagon. Das Pentagonbudget schließt nicht einmal die Kosten für den aktuellen Krieg ein. Wenn Sie all die anderen Militärausgaben hinzurechnen, sprechen wir von mehr als einer Billionen Dollar amerikanischer Steuern, die für den Krieg ausgegeben werden. Und das in einem Augenblick, in dem man uns erzählt, jeder habe Opfer zu bringen, jeder müsse auf etwas verzichten. Die Ärmsten im Land sind gezwungen, Teile des sozialen Netzes abzugeben. Die Arbeiter müssen auf Teile ihrer Rente verzichten. Alten Menschen wird die staatlichen Krankenversicherung und die medizinische Versorgung beschnitten. Die soziale Situation in den USA ist erschreckend. Während die Afghanen einen entsetzlichen Blutzoll entrichten, zahlen die US-Bürger einen enormen Preis wegen der Wirtschaftskrise. Aber die Kriegskosten werden hier in Washington offiziell nicht auf die Tagesordnung gesetzt, obwohl die Bürger und Bewegungen im Land das wollen. Schauen wir einmal in den US-Bundesstaat Wisconsin, wo sich in diesem Jahr der erste wirkliche Aufstand gegen die massiven sozialen Einschnitte ereignete. Das Haushaltsdefizit wurde dort von der Regierung benutzt, um Angestellte des öffentlichen Dienstes massenweise zu entlassen. Gleichzeitig attackierte man die Gewerkschaften, drohte ihnen, alle Verhandlungsrechte zu entziehen. Das Staatsdefizit in Wisconsin betrug 1,8 Milliarden Dollar – das ist eine Menge Geld! Fast exakt die gleiche Summe, nämlich 1,7 Milliarden Dollar, mußten die Steuerzahlern in Wisconsin zur selben Zeit für den Afghanistankrieg bezahlen. Ihr Anteil am Krieg. Das Staatsdefizit entspricht also ziemlich genau den aktuellen Kriegssteuern in Wisconsin. Die Verbindung ist ganz unmittelbar und äußerst direkt. Die Amerikaner sollten von ihrer Regierung fordern, die Kriegsdollar wieder ins Land zurück zu holen.
David Goeßmann: Phyllis, Ihr jüngstes Buch heißt: “Ending the U.S. War in Afghanistan. A Primer”. Darin schreiben Sie, dass der Abzug der Truppen aus Afghanistan nicht ausreiche. Wie sollte Ihrer Meinung nach eine richtige Rückzugsstrategie aussehen?
Phyllis Bennis: Eine richtige Rückzugsstrategie beginnt lediglich mit dem Abzug der Truppen. Das ist Schritt Eins. Aber das reicht nicht aus. Wir befinden uns gegenüber dem afghanischen Volk in tiefer Schuld. Seit 30 Jahren ist die US-Regierung verantwortlich für die Zerstörung des Landes. Wir sind nicht der einzige Akteur dort, aber wir sind bei weitem der größte. Wir haben in diesen Ländern Kriege ausgelöst, gefördert, Waffen geliefert und Kriegsparteien finanziert. Und wie ist die Situation heute? Man hört immer wieder: „Wir müssen unsere Truppen in Afghanistan lassen, um die Frauen zu schützen“. Schauen wir uns ihre Lage an. Frauen in Afghanistan sterben heute viel zu jung. Die Sterblichkeitsrate ist hoch. Aber Afghaninnen sterben nicht, weil sie von den Taliban getötet werden. Das kommt nur sehr selten vor. Viele von ihnen sterben bei der Entbindung, weil es an medizinischer Versorgung fehlt. Während der Talibanherrschaft im Jahr 2000 rangierte Afghanistan im UN-Ranking in Sachen Müttersterblichkeit weltweit auf dem letzten Platz. Wo steht Afghanistan heute? Es ist für eine Frau immer noch der schlimmste Ort in der Welt, ein Kind zu gebären. Mein Land kann darauf nicht stolz sein. Wir befinden uns gegenüber Afghanistan in tiefer Schuld. Diese Schuld muss beglichen werden: mit Geld, mit Zugang zu Ausbildung usw. Die Kontrolle der USA dabei muss jedoch aufhören. Denn heute verbleibt der größte Teil der US-Hilfsgelder in den Vereinigten Staaten. Sie fließen in die Taschen amerikanischer Bauunternehmer, Agenturen, Produktionsfirmen oder Waffenhändler, die ihren Sitz in den USA haben. Das müssen wir beenden, damit das Geld direkt an die Afghanen geht. Wird die jetzige Regierung in Afghanistan den Abzug der US-Truppen überstehen? Ich bin mir nicht sicher, wahrscheinlich nicht. Denn die Regierung ist nicht unabhängig und vom afghanischen Volk legitimiert, so dass sie ohne die Unterstützung der USA nicht überleben wird. Was bedeutet das? Wird Chaos in Afghanistan ausbrechen? Ich fürchte, das wird für einige Zeit der Fall sein. Afghanistan wird kein netter Ort sein, wenn die USA das Land verlassen. Aber das wird sich so der so ereignen, egal ob die USA heute abziehen – wie ich es befürworte – oder ob es in fünf oder zehn Jahren geschieht, wie es sich einige Leute in Washington vorstellen. Wir müssen uns sehr klar darüber sein, welche Bedeutung die Region hat. Wie müssen eine regionale Diplomatie unterstützen. Die gesamte Region muss einbezogen werden, nicht nur Länder, die die USA mag. Jedes Land in der Region muß eine Rolle bei dieser Art Diplomatie spielen. Und innerhalb von Afghanistan muss der Verhandlungsprozess regional und global unterstützt werden. Ich wünsche mir, dass die USA, deren Militär als größte Miliz in Afghanistan agiert, wie alle anderen Milizen im Land, ihre zerstörerische Rolle beenden. Sobald das passiert, wird es möglich, eine friedliche Lösung für Afghanistan durch Verhandlungen und Diplomatie zu erzielen.
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