29.06.2011
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Einleitung: 

Soziale Bewegungen haben für Wallerstein eine herausragende Rolle. Sie entschieden, ob es in Zukunft mehr Ausbeutung oder mehr Demokratie gäbe. Das Weltsozialforum sei dabei sehr wichtig. Denn es müßten Strategien und Taktiken entwickelt werden, die sowohl kurzfristig das Leiden der Menschen minimierten als auch mittelfristig die Welt veränderten. Beide Strategien müßten zusammen verfolgt werden.

Gäste: 

Immanuel Wallerstein, Yale University

Transkript: 

David Goeßmann: Welche Rolle können soziale Bewegungen angesichts des Niedergangs des Kapitalismus spielen, um die vielfachen Krisen zu überwinden?

Immanuel Wallerstein: Soziale Bewegungen haben eine herausragende Bedeutung. Zuerst einmal wird die Entscheidung, in welche Richtung wir in Zukunft gehen - eine Zunahme von Ausbeutung oder eine tatsächliche Demokratisierung der Gesellschaft -, ich nenne das die Gabelung – entschieden von der kollektiven Aktivität von allen. Daher scheint es mir, dass soziale Bewegungen vor allem analysieren müssen, was wirklich geschieht. Sie müssen verstehen, was in der Welt passiert. Das ist nicht einfach. Tatäschlich ist es sehr schwierig. Dann müssen sie sich entscheiden. Sie müssen ihr Gewicht auf eine Seite der Gabelung werfen. Und dann müssen sie darüber nachdenken, welche politischen Strategien in diese Richtung führen. Das sind keine einfachen Dinge. Das ist es auch, womit wir uns hier auf dem Weltsozialforum auseinandersetzen. Viele soziale Bewegungen in der ganzen Welt kämpfen darum. Und dann ist da ein zweites Problem. Es ist das Problem des richtigen Augenblicks, des Timings. Menschen leben auf kurze Sicht, damit meine ich maximal 3 Jahre, sie essen, sterben, sorgen sich um ihre Sicherheit kurzfristig. In dieser kurzen Zeitperspektive können wir in dieser Situation nur das Leiden minimieren. Man unterstützt eine Sache gegenüber einer anderen, weil sie das Leiden minimiert. Wenn man die Alternative genommen hätte, dann hätte das das Leiden verstärkt. Dabei handelt es sich noch nicht um eine Transformation, eine Veränderung. Das Leiden zu verringern ist ein Verteidigungsakt. Das verändert die Welt nicht grundsätzlich. Aber die Minimierung des Leidens ist wichtig. Die Menschen brauchen sie. Niemand will morgen sterben, weil die Straßen nicht mehr sicher sind, weil er kein Essen mehr bekommt oder keine Unterkunft. Daher müssen sich Bewegungen um diese kurzfristigen Bedürfnisse kümmern. Und dann gibt es die mittelfristige Perspektive. Darin finden die größeren Veränderungen statt. Die Bewegungen müssen also lernen, wie sie die kurzfristige Taktik zur Leidensverringerung mit einer mittelfristigen Strategie der Weltveränderungen verbinden können."