Die Protestbewegungen in Wisconsin oder die Occupy-Bewegung seien eine Reaktion auf die wachsende Ungleichheit in den USA, sagt Goodman. "Unser Land wird von Tag zu Tag ungerechter und ist weltweit eines der Länder mit der geringsten Gleichbehandlung." Doch weder die Republikaner noch die Demokraten wollten daran etwas ändern. So habe Präsident Obama z.B. die Forderung der Mehrheit der Amerikaner nach einer öffentlichen Krankenversicherung mit seiner Reform blockiert. Gleichzeitig umgebe Obama sich mit Bankern, so dass sie vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt sind. "Es wird einen Wendepunkt geben, das werden wir erleben. Und ich glaube, die Occupy-Bewegung war erst der Anfang dieses Wendepunktes".
Amy Goodman: Gründerin, Produzentin und Moderatorin der globalen Graswurzel TV- u. Radio-Sendung Democracy Now, Trägerin des Alternativen Nobelpreises, Autorin von zahlreichen Büchern, darunter "The Silenced Majority. Stories of Uprisings, Occupations, Resistance, and Hope" (2012), New York City
David Goeßmann: Nach dem Ausbruch der Finanzkrise schienen die Menschen in den USA in einer Art Schock, während im arabischen Raum und in Europa die Bürger auf die Straße gingen. Dann kamen die Proteste in Wisconsin im letzten Jahren, gefolgt von der Occupy-Bewegung, die sich schnell über das ganze Land und darüber hinaus verbreitete. Was löste die Proteste aus, was ist ihre Bedeutung und was ist in Zukunft von ihr zu erwarten?
Amy Goodman: Zuerst erlebten wir den arabischen Frühling. Er hatte einen außerordentlichen Einfluss auf den Nahen Osten, aber auch weltweit. Es begann mit einem jungen Mann, Mohammed Bouazizi, der sich in Tunesien selbst verbrannte, weil er sich der Willkür der Behörden ausgesetzt sah und keine andere Perspektive hatte, als Gemüse zu verkaufen. Diese Frustration, die seine Selbstverbrennung auslöste, war der Funke, der die tunesische Revolution in Gang gesetzt hat. Dieser Funke ist auf Ägypten und den gesamten Nahen Osten übergesprungen. Und dann kam es zu den Ereignissen in Wisconsin. In Wisconsin wurde ein republikanischer Gouvaneur gewählt. Er erhielt die Mehrheit der Stimmen. Aber er tat nach der Wahl etwas, was er während des Wahlkampfs nicht angekündigt hatte. Er attackierte die öffentlichen Gewerkschaften. Er stellte sich gegen die Lehrer und Krankenschwestern. Sie sollten die Hauptlast des staatlichen Haushaltdefizits tragen. Er beruhigte die Polizisten und Feuerwehrleuten. Es gehe ihm nur um die Lehrer und Krankenschwestern. Aber die Polizisten und Feuerwehrleute sagten „Nein“. Wenn Gouvaneur Walker die Lehrer und die Krankenschwestern ins Visier nehme, dann attackiere er auch sie. Sie stellten sich an die Seite der Lehrer und Krankenschwestern. Ein Massenaufstand fand statt. Es kamen 150.000 Menschen in Madison, Wisconsin zusammen und besetzten das Kapitolgebäude. Sie übernachteten dort und die Polizei beschützte die Protestierenden. Wir haben so etwas noch nicht gesehen, es war ein außergewöhnliches Ereignis auch für Wisconsin. Wisconsin ist die Heimat der großen öffentlichen Gewerkschaften. Es ist auch Sitz der ultrakonservativen John Birch Gesellschaft, die mitbegründete wurde vom Großvater der Koch-Brüder, Charles and David Koch, die als Milliardäre die extreme Rechte, die Teaparty und andere Guppen im Land, finanzieren. Und das in einer Zeit, in der die Demokratie in den USA vom enormen Geldfluss quasi weggeschwemmt wird. Der Aufstand in Wisconsin traf einen Nerv der Zeit, die Menschen konnten sich überall im Land damit identifizieren. Und dann tauchte Occupy auf: Es begann am 17. September 2001 mit der Besetzung des Zuccotti-Parks in New York. Junge Menschen waren frustriert von der zunehmenden Ungleichheit im Land. Menschen aus allen Schichten und Lebensbereichen beteiligten sich, indem sie öffentliche Plätze in ihrer Umgebung besetzten und sagten: „Wir sind die 99%, wir brauchen eine Stimme“. Die Medien haben anfangs überhaupt nicht darüber berichtet und anschließend versucht, die Bewegung lächerlich zu machen. Aber wie sagte Ghandi: „Erst ignorieren sie dich, dann lachen sie dich aus, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.“ Genau das fand statt: Zu Beginn haben die Medien die Bewegung vollständig ignoriert, dann lächerlich gemacht: „Welche Botschaft haben diese Leute? Jeder hat eine andere.“ Jeder Werbemanager auf der Madison Avenue würde sich um den Slogan „Wir sind die 99%“ reißen. Das hat die Leute parteiübergreifend angesprochen. Viele Menschen sagten sich „Ja, das trifft auf mich zu“. Ich habe landesweit Occupy-Lager besucht, von Oakland, Kalifornien, bis Louisville, Kentucky. In Louisville befand sich das Lager unmittelbar neben dem Gefängnis. Als ich gegen Mitternacht dort ankam, krochen die Leute aus ihren Zelten und der Erste, dem ich begegnete, war ein Golfkriegsveteran. Und der nächste hatte im Irakkrieg gedient. Ich fragte ihn: "Wieso sind Sie hier?", und er sagte: „Ich habe meinem Land im Irak gedient und jetzt diene ich meinem Land hier.“ Als ich diese Geschichte einmal erzählte, sagte jemand zu mir: „Er hätte sagen sollen: Ich habe dem einen Prozent im Irak gedient, jetzt diene ich hier den neunundneunzig Prozent“. Die Leute sind so frustriert, dass der Wohlstand immer schneller von unten nach oben umverteilt wird. Unser Land wird von Tag zu Tag ungerechter und ist weltweit eines der Länder mit der geringsten Gleichbehandlung. Das ist sehr ernst und es stellt sich die Frage: Haben die Demokraten im Vergleich zu den Republikanern eine andere Position? Präsident Obama hat soziale Gleichheit damals zum Wahlkampfthema gemacht und trotzdem hat er sich mit Bankern und deren Unterstützern umgeben, genau wie Präsident Bush es gemacht hat. Sie stehen unter besonderem Schutz, während sie massive Verbrechen begehen, wer weiß wie viele Milliarden Dollar den Menschen stehlen, die es am wenigsten verkraften können. Wer wird dafür zur Rechenschaft gezogen? Stattdessen bewegen sie sich frei in den Machtzentralen in Washington und lassen weiter Geld fließen, um nicht im Gefängnis zu landen. Sie bestimmen, wie die Gesetze geschrieben oder nicht geschrieben werden. Und so ist das nicht gedacht, das muss sich ändern. Daher brauchen wir Medien, die die Ansichten der Mehrheit der Menschen in diesem Land widerspiegeln und nicht die einer kleinen Elite.
David Goeßmann: Wenn man sich Umfragen anschaut dann sind die Amerikaner gegen Steuervergünstigungen für Reiche. Sie wollen eine öffentliche Krankenversicherung. Die Menschen in den USA fordern eine nachhaltige Regulierung der Banken und sind besorgt wegen des Klimawandels. Was sind ihrer Meinung nach die politischen Anliegen der US-Bürger?
Amy Goodman: Es gibt die Forderung, dass es ein allgemeines Sozialversicherungssystem, ein universelles öffentliches Gesundheitssystem in den USA geben sollte. Aber Obama hat das mit seiner Gesundheitsreform auf keinen Fall umgesetzt. Das frustriert sehr viele Menschen, denn Umfragen haben gezeigt, dass die meisten Leute für ein öffentliches Gesundheitssystem sind, wenn es ihnen erklärt wird. In den USA gibt es ein Gesetz, das allen Bürgern über 65 Jahren eine dem europäischen System vergleichbare, medizinische Versorgung gewährleistet. Eine im Prinzip vom Staat garantierte Krankenversicherung. Das einzige was getan werden müßte, ist diese zwei Worte - über 65 – aus dem Gesetz zu streichen, und alle hätten Zugang zu medizinischer Versorgung. Aber das wurde von den Demokraten nicht vorgeschlagen. Sie haben einfach gesagt, eine allgemeine Gesundheitsversorgung kommt nicht in Frage. Letztlich ist dabei ein Flickwerk herausgekommen, das Unmengen Geld in die Kassen der Privatversicherer und Pharmakonzerne spült und auch sehr leicht unterlaufen werden kann. Auf der anderen Seite stehen die Republikaner, die das, was in den 50 Jahren nach der Weltwirtschaftskrise unter Franklin Delano Roosevelt erreicht wurde, revidieren möchten. Es handelt sich um die Sozialversicherung, die Krankenversicherung, auch die für Senioren, also Medicare, sowie die Gesundheitsfürsorge für Arme, genannt Medicaid. Das wird von den Republikanern in Frage gestellt mit dem Argument „Diese Mittel wären an den Aktienmärkten besser aufgehoben“. Aber wir sehen ja, was an den Aktienmärkten los ist. Es geht hier um das Leben von Menschen. Diejenigen, die es sich am wenigsten leisten können, sollen gezwungen, nach Investitionsmöglichkeiten Ausschau halten. Nein, die Älteren, die Armen sollten vielmehr Geld vom Staat erhalten, um Versicherungsschutz für sie zu gewährleisten. Es gibt für viele progressive politische Reformen eine Mehrheit in der Bevölkerung: Die Trennung von Geschäfts- und Investmentbanken, um die Sparguthaben nicht in riskante Papiere zu investieren; ein dem Bildungssystem vergleichbares Gesundheitssystem, in dem allen eine Grundversorgung zusteht. Sollte jemand zusätzliche Wünsche haben, so ist das eine persönliche Entscheidung. Doch das wird durch die Großkonzerne in Frage gestellt, die die ganze Welt privatisieren wollen. Und durch die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes haben sie in den Vereinigten Staaten die Oberhand. Aber die Menschen sind zutiefst besorgt und es wird einen Wendepunkt geben - das werden wir erleben. Und ich glaube, die Occupy-Bewegung war erst der Anfang dieses Wendepunktes.