07.02.2014
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Einleitung: 

Bereits vor über 20 Jahren entwickelt Michael Albert ein alternatives ökonomisches System. Es stellt nicht nur eine Alternative zum Kapitalismus dar, sondern auch zu einem zentral geplanten Sozialismus und der Idee eines Bio-Regionalismus, in dem Regionen wirtschaftlich unabhängig voneinander funktionieren sollen. Das Konzept nennt sich „Participatory Economy“, partzipative Ökonomie. Anstatt Konkurrenz und Ungleichheit zu fördern stellt sie Solidarität und wechselseitige Hilfe ins Herz der Ökonomie. Um dieses Ziel zu erreichen sollten nach Albert vier alternative Institutionen geschaffen werden: Sich selbst verwaltende Arbeiter- und Konsumentenversammlungen, gleichmäßige Einkommensverteilung nach Intensität, Dauer und Belastungsgrad sozial wertvoller Arbeit, ausbalancierte Arbeitskomplexe und partizipatorische Planung. Das Ziel müsse Klassenlosigkeit sein. Partizipative Ökonomie will dabei nicht nur den Markt und die 2-Prozent-Besitzerklasse als treibende Kräfte der Wirtschaft auflösen, sondern auch die Arbeitsteilung. Die selbstverantwortlichen Tätigkeiten, auf die eine 20-Prozent-Koodiniererklasse aus Ingenieuren, Rechtsanwälten und Managern ein Monopol besäßen, müssten gleichmäßig auf die Bevölkerung verteilt werden.

Gäste: 

Michael Albert, Publizist, Aktivist und Ökonom, Mitbegründer von ZMag und ZNet, Autor von  "Realizing Hope. Life Beyond Capitalism" und "Parecon" ("Participatory Economics" / "Partizipative Ökonomie")

Transkript: 

Fabian Scheidler: Willkommen bei Kontext TV. Sowohl die Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa und den USA als auch die sozialen Proteste weltweit haben eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus sowie eine Diskussion über Alternativen wieder stärker in den Fokus gerückt.

David Goeßmann: Gleichzeitig sind große Teile der Bevölkerungen in Europa, aber auch in den USA unzufrieden mit dem ökonomischen System. 80 Prozent der Deutschen wünschen sich nach Umfragen ein anderes Wirtschaftssystem. 40 Prozent der US-Bevölkerung haben heute eine negative Einstellung dem Kapitalismus gegenüber. Eine Mehrheit junger Amerikaner zieht nach einer aktuellen Untersuchung des Pew Research Centers Sozialismus der Marktwirtschaft vor.

Fabian Scheidler: Wir wollen daher in dieser Sendung über Alternativen sprechen. Unsere Gast ist derr Publizist Michael Albert aus den USA. Er hat bereits vor mehr als 20 Jahren ein alternatives Wirtschaftsmodell entworfen, das er Participatory Economy – partizipatorische Ökonomie – kurz Parecon, nennt. Vor kurzem hat Albert zudem die „Internationale Organisation für eine partizipatorische Gesellschaft“, ins Leben gerufen. Damit soll ein globales Netzwerk für Bewegungen, Aktivisten und Dissidenten aufgebaut werden. Albert reist im Moment auch durch Europa, um nationale Verbände zu initiieren.

David Goeßmann: Michael Albert ist Mitbegründer des alternativen South End Press Verlags und Initiator von ZCommunications, einer der renommiertesten globalen Plattformen für linke Kritik, sozialen Wandel und Aktivismus, auf der Dissidenten wie Arundhati Roy, Noam Chomsky, John Pilger, Naomi Klein oder Tariq Ali regelmäßig publizieren. Albert ist Autor von zahlreichen Büchern, darunter: „Realizing Hope: Life beyond Capitalism“, „Leben nach dem Kapitalismus“. Kontext TV hat Michael Albert im August in seinem Haus in Woods Hole auf Cape Cod in Massachusetts besucht.

David Goeßmann: Sie haben ein alternatives ökonomisches System entwicktelt. Es stellt nicht nur eine Alternative zum Kapitalismus dar, sondern auch zu einem zentral geplanten Sozialismus und dem sogenannten Bio-Regionalismus, in dem Regionen wirtschaftlich unabhängig voneinander funktionieren. Sie sprechen von einer partzipativen Ökonomie. Was verstehen Sie darunter?

Michael Albert: Es steht für eine Alternative zum Kapitalismus, ein System, wie es in den USA und Deutschland existiert. Es ist eine Alternative auch zu einer zentral geplanten Ökonomie. Sie wird üblicher Weise sozialistische Planwirtschaft genannt, wie sie z.B. in der DDR und in der Sowjetunion vorherrschte. Ich nenne sie zentral geplante Koodinierer-Ökonomie. Dazu später mehr. Partizipatorische Ökonomie ist wie Sie schon andeuteten auch eine Alternative zu der Idee - bisher ist sie noch nicht umgesetzt worden -  einer regional basierten Ökonomie, die davon ausgeht, dass Regionen sich wirtschaftlich selbst versorgen und autonom von einander funktionieren sollten. Zuerst einmal: Partizipatorische Ökonomie ist keine Blaupause. Sie steht vielmehr für einige grundlegende institutionelle Verpflichtungen im Herzen der Ökonomie. Wenn die erfüllt sind, hat man, so die These, eine wünschenswerte Wirtschaft. Es ist eine Wirtschaft ohne Klassen. Es gibt dann keine Gruppe von Menschen mehr, die andere dominieren und ihnen die Regeln vorschreiben, sich auf deren Kosten bereichern. Die partizipative Wirtschaft wird hingegen den Menschen helfen, ihr eigenes Leben zu bestimmen, sich zu organisieren und selbst zu verwalten. Der produktive Output dieser Wirtschaftsform wird zudem von Vielfalt geprägt sein. Es wird Solidarität unter den Menschen geben. Anders als beim Markt wird ein Kontext geschaffen, in dem es nicht darum geht, auf anderen herum zu trampeln, um vorwärts zu kommen. Vielmehr geht es nun um gegenseitige Hilfe, die im Zentrum dieser Wirtschaftsform steht. Die Frage ist, welche Institutionen diese Ziele verwirklichen können, also eine gleichmäßige Verteilung der Einkommen befördern, die fair ist. Eine partizipative Wirtschaft beinhaltet lediglich ein paar einfache institutionelle Einrichtungen. Eine davon ist Arbeiter- und Konsumentenversammlungen bzw. Räte. Diese Räte verwalten sich selbst. Was bedeutet das? Es bedeutet, dass zum Beispiel am Arbeitsplatz alle Mitarbeiter einen Rat für den entsprechenden Arbeitsbereich bilden. Diese Versammlung wäre dann für diesen Bereich das Entscheidungsorgan. Sie trifft die Entscheidungen nach dem Prinzip der Selbstverwaltung. Das Prinzip lautet:  Mein Mitbestimmungsrecht bei Entscheidungen bestimmt sich danach, wie ich davon betroffen bin. Dieses Prinzip gilt natürlich für alle anderen auch. Es gibt daher niemanden, der unverhältnismäßig viel zu sagen hat gegenüber anderen, die weniger entscheiden können. Die zweite Institution einer partizipatorischen Wirtschaft hängt mit der Einkommensverteilung zusammen. Die Gesellschaft und die Industrie produzieren jede Menge Güter und Dienstleistungen. Es ist wie ein riesiger Kuchen. Wenn wir über Einkommensverteilung sprechen, geht es darum, welches Stück vom Kuchen jeder bekommt, dabei geht es nicht nur um die Menge sondern auch um die Qualität jedes Stücks. Es geht technisch gesprochen um den Anteil am sozialen Output, dem, was insgesamt in einer Gesellschaft hergestellt wird. Diese Verteilung des Kuchens kann sich an verschiedenen Normen orientieren. Man kann zum Beispiel die Regel aufstellen, dass jedem das Stück zusteht, das proportional zu seinem Produktionsvermögen und -mitteln ist, die er besitzt. In diesem Falle wäre Bill Gates mehr wert als die Bevölkerung Norwegens oder die einer Reihe von Ländern Zentralamerikas. Deswegen finde ich diese Option nicht richtig und lehne sie ab. Die Verteilungsnormen sind ja keine Naturgesetze, sondern von uns gesetzte Werte. Es ist nicht wie in der Mathematik: Zwei plus Zwei gleich Vier. Es geht hier nicht um wahr oder falsch. Die Frage ist also, ob wir damit einverstanden sind oder nicht. Ich kann an dieser Art der Verteilung nichts Gutes finden. Sie behandelt Menschen ungleich, sie ist nicht fair, gerecht und menschlich. Eine andere Norm der Verteilung wäre, dass das Einkommen je nach der Machtstellung der Menschen verteilt wird. Hat jemand mehr Macht, kann er sich mehr nehmen. Es handelt sich um Verhandlungsmacht. Diese bestimmt dann die Verteilung von Einkommen. Diese Verhandlungsmacht ist tatsächlich wirksam in Märkten. Solch eine Norm wirkt zum Beispiel in Deutschland und den USA. In diesen Ländern dominiert die Wirtschaft Besitz und Verhandlungsmacht. Es gibt noch eine andere Verteilungsvariante, deren Rolle viele anerkennen. Viele Sozialdemokraten oder Planwirtschafts-Sozialisten halten sie für gerecht, ich nicht. Diese Norm sagt, dass jeder das mengenmäßig zurückbekommen soll, was er beigesteuert hat. Die Menge, die ich durch meine Leistung und Arbeit am sozialen Produkt produziert habe, sollte ich mehr oder weniger am Ende als Äquivalent erhalten. Nicht genau die gleichen Güter. Wenn ich Fahrräder herstelle, bekomme ich nicht nur Fahrräder zurück. Es geht um die Wertmenge im Vergleich zu dem, was ich produziert habe. Das würde bedeuten, dass der berühmte Basketball-Spieler Michael Jordan nicht angemessen bezahlt wurde. Er verdiente 20 bis 30 Millionen Dollar im Jahr. Aber der Wert seines Sozialprodukts, also die Geldsumme, die Menschen, bereit waren zu zahlen, um ihn spielen zu sehen, war weit höher als 20 Millionen Dollar. Wer bekam also das restliche Geld? Es waren Menschen mit Besitz. Die Besitzer von Nike, des Basketball-Vereins, bei dem er spielte, der TV-Networks, die die Spiele übertrugen. Jede Menge Besitzer profitierten, also Leute, die weit mehr Macht als Michael Jordan besaßen. Er hatte nicht die Macht, sich mehr zu nehmen. Aber hätte man ihn danach bezahlt, was er erwirtschaftete, hätte er weitaus mehr bekommen müssen. Ich finde das nicht okay. Menschen sollten nicht zusätzlich zu ihrem Glück, mit einem unglaublichen Talent geboren worden zu sein, auch noch mit Geld überschüttet werden. Talente wie Frank Sinatras Stimme, Michael Jordans athletische Fähigkeiten, Chomskys Gehirn usw. sollten nicht noch belohnt werden. Das macht für mich keinen Sinn. Man sollte keinen Preis dafür bekommen, dass man in der genetischen Lotterie gewonnen hat. Also wenn man nicht für Macht, Produktionskraft, Besitz bezahlt wird, wofür wird man dann bezahlt? Die zweite institutionelle Verpflichtung partizipatorischer Wirtschaft neben den Räten ist, dafür bezahlt zu werden wie lange, wie hart und wie intensiv man arbeitet. Entscheidend sind Dauer, Intensität, aber auch Belastungsgrad und Bedingungen der Arbeit. Anders gesagt, wenn ich mehr arbeite, bekomme ich mehr, wenn ich härter arbeite, bekomme ich mehr, wenn ich unter schlechteren Bedingungen arbeite, bekomme ich mehr. Natürlich nur so lange ich etwas von Nutzen produziere. Ich kann keinen Müll produzieren und dafür bezahlt werden. Ich kann nicht erwarten, als Maskottchen für die deutsche Fußball-Nationalmannschaft bezahlt zu werden, weil es wertlos ist. Das, was ich leisten kann, dafür sollte ich je nachdem, wie hart und unter welchen Bedingungen ich arbeite bezahlt werden. Das ist die zweite institutionelle Verpflichtung. Die  dritte behandelt ausbalancierte Arbeitskomplexe. Das ist etwas schwieriger, aber nicht viel. In zeitgenössischen Wirtschaftssystemen, wie Deutschland und den USA, gibt es eine besitzende Klasse. Die Occupy Bewegung nennt es das eine Prozent. Tatsächlich sind es eher zwei Prozent, die das Produktionskapital der Gesellschaft besitzen und sich einen großen Anteil der Profite verschaffen. Sie sind unglaublich mächtig und reich. Und dann gibt es die arbeitende Bevölkerung, die nichts zu sagen hat, keine Macht besitzt und sich nicht in der Lage befindet, die es ihr erlaubt, sich ein entsprechendes Einkommen zu verschaffen. Dazwischen gibt es noch eine andere Gruppe, die man Koordinierer-Klasse nennen kann. Sie hat tatsächlich etwas. Die Kapitalisten haben ein Monopol auf Besitz. Die Koordinierer-Klasse hat ein Monopol auf eigenverantwortliche Aufgaben und mächtige Positionen in der Wirtschaft. Dazu zählen Rechtsanwälte, Ärzte, Ingenieure, Buchhalter oder Manager, die durch ihre Arbeit das nötige Selbstbewusstsein und die Macht erhalten, sich vom Sozialprodukt ihren Einkommensanteil zu nehmen und bei der Ausrichtung der Wirtschaft mitzureden. Diese Klasse zwischen Kapital und Arbeit, die Koordinierer-Klasse, könnte die neue herrschende Klasse werden. Solch ein System wird zentral geplanter Sozialismus oder Markt-Sozialismus genannt. Darin gibt es keine Besitzer und auch keine Kapitalisten. Die 20 Prozent-Elite an Koordinierern übernimmt hingegen das Ruder. Eine partizipatorische Ökonomie lehnt das ab. Sie will Klassenlosigkeit. Sie will nicht nur den Privatbesitz von Arbeitsplätzen und Ressourcen in den Händen von 2 Prozent der Bevölkerung überwinden, sondern auch das Monopol auf eigenverantwortliche, machtvolle Arbeit der 20 Prozent-Koordiniererklasse auflösen. Die einzige Lösung ist: Die koordinierende Arbeit muss auf die ganze Bevölkerung aufgeteilt werden. Das ist nicht kompliziert. Deswegen braucht man ausbalancierte Arbeitskomplexe, so nenne ich das. Jeder, der arbeitet und arbeiten kann, wird also verschiedene Dinge tun, die sowohl Verantwortlichkeiten, die Erledigung von Aufgaben und andere Aktivitäten einschließt. Jeder bekommt also in diesem Mix einen vergleichbaren Anteil an selbstverantwortlichen Tätigkeiten, nicht nur einige wenige, die ein Monopol darauf haben. Es wird natürlich weiter Leute geben, die als Chirurgen Operationen durchführen oder Kalkulationen in Betrieben erstellen. Aber auch die müssen nun Arbeiten durchführen, die nicht mit dem Anwachsen von Macht, Wissen und Selbstbewusstsein verbunden sind. So werden die Menschen in dieser Wirtschaftsform durch ihre Arbeit gleichmäßig gefördert. Es partizipieren nun alle durch ihre Arbeit an der Gesellschaft, nicht nur einige, die entscheiden, während die anderen ausgebrannt und innerlich erschöpft von der Arbeit sind, keinen Zugang zu Informationen und Wissen erlagen, und so kein Selbstbewusstsein aufbauen können, um ihre Stimme zu erheben. Solche Missstände sollen ausbalancierte Arbeitskomplexe beheben. Schließlich ist es wichtig, dass Märkte und Zentralplanung überwunden werden. Der Grund dafür ist, dass ihre Destruktivität tief in die Dynamiken der Märkte und der zentralen Planwirtschaft eingewoben ist. Märkte und Zentralplanung arbeiten exakt so, wie sie sollen. Sie werden nicht korrumpiert von schlechten Menschen. Märkte und Zentralplanung funktionieren ihren eigenen Gesetzen gemäß und sind dabei sehr zerstörerisch. Sie zerstören die Selbstverwaltung, sie zerstören Solidarität, Gleichheit und so weiter. Sie zerstören all die Werte, von denen wir inspiriert werden. Partizipative Wirtschaft schlägt demgegenüber eine partizipatorische Planung vor, über die man länger sprechen müsste. Die Idee ist grob gesagt, dass Arbeiter und Konsumenten Räte bilden, miteinander verhandeln und gemeinsam beraten über Input und Output der Wirtschaft, Investitionen und Produktion. Zentrale Planwirtschaft bestimmt Investition und Produktion, Input und Output der Wirtschaft durch eine Folge von Befehl, Reaktionen, Befehl, Gehorsam. Märkte erreichen die Abstimmung durch Wettbewerb, ausgerichtet auf die Interessen von Mächtigen und Besitzenden. Partizipatorische Planung steuert die Resultate der Wirtschaft, also was produziert und konsumiert wird, im Endeffekt durch Verhandlungen zwischen den Akteuren. Sie ist im Einklang mit der Selbstverwaltung und den anderen Institutionen der partizipatorischen Ökonomie.
Das sind also zusammengefasst die zentralen Merkmale einer alternativen Wirtschaftsform: Sich selbst verwaltende Arbeiter- und Konsumentenversammlungen, gleichmäßige Einkommensverteilung nach Intensität, Dauer und Belastungsgrad sozial wertvoller Arbeit, ausbalancierte Arbeitskomplexe und partizipatorische Planung. Diese institutionellen Vorrichtungen variieren natürlich von Ort zu Ort, nach Zeit, Region oder Land. Selbst die Umsetzung dieser vier Aspekte wird verschiedene Ausformungen erhalten. Aber ich denke, dass die grundsätzlichen Vorrichtungen der partizipatorischen Ökonomie dabei gleich bleiben. Damit wird der Wirtschaft erlaubt, klassenlos zu sein. Eine partizipatorische Ökonomie wird auf dieses Ziel zusteuern und Gleichheit befördern. Sie wird Menschen wie Menschen behandeln und nicht als Instrumente in den Händen einer Gruppen von einigen wenigen, die sich mit diesen Instrumenten Macht, Privilegien und Reichtum verschaffen. So sieht grob gesprochen eine partizipatorische Wirtschaft aus, die eine Alternative darstellt.