Eine alternative Wirtschaftsweise in Betrieben umzusetzen stoße notwendiger Weise auf eine Reihe von Problemen, sagt Albert. Das könne man sehr gut an den hunderten Betriebsübernamen in Argentinien im Zuge der Wirtschaftskrise im Jahr 2001 sehen. Albert schildert Begegnungen mit argentinischen Arbeitern, die bankrotte Firmen übernahmen, die von ihren Besitzern und Koodinierern aus Managern, Ingenieuren und Buchhaltern verlassen wurden. Während man es schaffte, die Betriebe wieder zum Laufen zu bringen, scheiterten die „Take Overs“ gleichzeitig, eine alternative Wirtschaftsweise aufzubauen. In nur wenigen Jahren herrschten wieder Hierarchien und Entfremdungen, nun ohne Eigentümer, so die Klagen vieler Arbeiter. Der Grund dafür sei jedoch nicht, so Albert, dass die Menschen keine Alternative zuließen, sondern dass die Übernahmen weiter an Arbeitsteilung und Märkte gebunden blieben. Es gäbe zwar keine Besitzer mehr, aber eine neue Koodiniererklasse hätte das Ruder übernommen und erzeugte wieder Hierarchien, während Märkte die Ungleichheiten verstärkten. Um eine nachhaltige Änderung zu bewirken, müssten auch diese Institutionen durch Alternativen ersetzt werden, während die partizipatorischen Projekte sich gleichzeitig miteinander vernetzen und koodinieren sollten.
Michael Albert, Publizist, Aktivist und Ökonom, Mitbegründer von ZMag und ZNet, Autor von "Realizing Hope. Life Beyond Capitalism" und "Parecon" ("Participatory Economics" / "Partizipative Ökonomie")
David Goessmann: In einer sicherlich begrenzten Form sind die Prinzipien der partizipatorischen Ökonomie bereits in den heutigen Gesellschaften aufzufinden. Es gibt Kooperativen, Genossenschaften, von den Arbeiter verwaltete und besessene Betriebe in Lateinamerika, in Europa und in den USA. Es gibt zum Beispiel Mondrogan in Spanien. Welche Erfahrungen wurden da gemacht und was sind ihre eigenen? Sie haben mit dem Verlag South End Press und Zcommunications eigene Organisationen gegründet.
Michael Albert: Es gibt eine Reihe von Problemen, wenn man eine Institution gründet, zum Beispiel einen kleinen Verlag, es könnte auch etwas größeres sein wie eine Autofabrik. Stellen wir uns vor, eine Fabrik wird von seinen Besitzern verlassen und die Menschen fangen in einem Betrieb von vorne an. In Argentinien ist das in vielen Betrieben passiert. Die Wirtschaft ging nach unten, die Eigentümer beschlossen ihre Unternehmen aufzugeben. Sobald die Besitzer gingen, und das ist interessant, ging die Koordinierer-Klasse aus Ingenieuren und Managern mit. Sie denken, dass nun alles auseinanderfällt. Die Arbeiter in Argentinien blieben zurück und wollten ihre Jobs erhalten. Deswegen übernahmen sie den Betrieb, was in Argentinien häufig geschehen ist. Nicht in allen, aber in vielen Firmen, hunderten. Es könnte auch anderswo geschehen, dass Arbeiter einen Betrieb übernehmen. Es ist eine gute Sache und man bewegte sich in eine Richtung, die man partizipatorisch nennen könnte. Aber es gab dabei eine Reihe von Gefahren. Eine war, dass man die Neugründung vollzog, jedoch die alte Form der Arbeitsteilung beibehielt. Und dann entstand etwas, dass zwar kein Kapitalismus im üblichen Sinne war, weil die Eigentümer weg waren. Aber was dabei herauskam konnte schrecklich sein und dem ähneln, wie es in der DDR oder der Sowjetunion lief. Anders gesagt, man kann Institutionen gründen, die keine Eigentümer haben, jedoch bestimmen in ihnen weiter wenige, nun 20 Prozent über 80 Prozent. Und das ist schwer zu vermeiden. Wenn man innerhalb eines Marktsystems agiert, mit Banken arbeitet, mit verschiedenen Institutionen und kulturellen Ideologien in einer Gesellschaft, die schlicht voraussetzen, dass es einige wenige Führungsmächte gibt, die die Verantwortung tragen, während andere gehorsam sind, dass es große Einkommensunterschiede gibt usw., dann werden keine grundsätzlichen Veränderungen stattfinden. Denken wir an non-profit Institutionen wie die Ford-Foundation, sie sind nicht in Privatbesitz. Aber sie unterscheiden sich oft kaum von Organisation in Privatbesitz sehr ähnlich, weil die Arbeitsteilung usw. beibehalten wurde. Ich finde jedoch die Existenz von Kooperativen, von denen es in den USA sehr viele gibt, gemeinnützigen Organisationen und Institutionen, die einen alternativen Weg auf die ein oder andere Weise anstreben, eine sehr gute Sache ist. Aber wirkungsvoll werden diese unabhängig operierenden Organisationen erst, wenn sie sich zusammenschließen und dieser Zusammenschluss sich an einem Verständnis über das orientiert, was man erreichen möchte. Das Ziel sollte Klassenlosigkeit sein, nicht nur die Aufwertung der 20 Prozent. Wenn dieses Verständnis erreicht wird, dann kann sich tatsächlich etwas bewegen. In Argentinien habe ich eine Glas Manufaktur besucht. Ich habe dort mit einigen Menschen gesprochen und gefragt, wer sich nun um die Finanzen kümmert, weil die Eigentümer, Ingenieure und Buchhalter das Unternehmen verlassen hatten. Nicht nur die Besitzer waren gegangen, sondern auch die 20 Prozent der Koordinierer. Geblieben sind nur die Menschen, die in der Produktion als Arbeiter tätig waren. Das waren 80 Prozent des Personals, ausgestattet mit sehr wenig Bildung und mit wenig Selbstbewusstsein und Wissen vom Geschäft und vom Charakter der Firma. Sie mussten die Produktion aber am Laufen halten. Sie schafften es und waren tatsächlich erfolgreicher als vorher. Ich fragte sie, wie sie die Buchhaltung machten und sie zeigten auf eine Frau und sagten, dass sie es nun mache. Es war zwar kein riesiges Unternehmen, aber auch kein winziges. Die Frau bekam es hin. Als ich sie fragte, was ihr früherer Job gewesen sei, antwortete sie, dass sie an den Öfen gearbeitet habe. Sie zeigte mir, wo sie vor dem offenen Feuer jeden Tag gearbeitet hatte. Ich hielt es keine zehn Minuten dort aus. Es war eine enorme Hitze. Es war eine unglaublich schreckliche Arbeit, dort den ganzen Tag lang zu verbringen. Solche Arbeit machte es unmöglich, über irgendetwas nachzudenken oder am Ende des Tages noch Energie für andere Sachen aufzubringen. Es war eine sehr kräftezerrende Aufgabe. Wie auch immer, sie wurde die neue Buchhalterin. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich nicht viel Bildung hatte, ich fragte sie daher, was am schwierigsten zu erlernen gewesen sei. Sie wollte nicht antworten, sie wirkte gehemmt und verlegen. Aber ich fragte weiter, aber sie wollte nicht antworten. Also fragte ich: “War es etwa schwer zu lernen, wie man die Buchhaltung macht“? Sie sagte nein, und ich fragte ob es der Computer und die Software war und sie sagte nein. War es die Interaktion mit Menschen, die Entscheidungen treffen usw. Sie sagte nein. Ich sagte, dass ich es nicht verstehe, was war es denn? Und sie antwortete “Zuerst musste ich lesen lernen.”
Die Idee, dass Arbeiter nicht in der Lage sind eigenverantwortliche Arbeit zu leisten, die Planung, Denken und Interaktion mit anderen usw. beinhalten und sie nur zu einfachen Tätigkeiten zu gebrauchen seien, ist schlicht unbegreiflich. Es ist genauso unsinnig, wie es vor 50, 60 Jahren unsinnig war zu denken, dass Frauen nicht wie Männer arbeiten können. Frauen konnten keine Ärzte sein, so die allgemein verbreitete Ansicht damals. Wie sah es nun in den von Arbeitern übernommenen Betrieben aus? Wurde dort mit dem Unsinn aufgeräumt? Wenn man näher hinschaute entdeckte man ein Problem. Die Firma hat eine neue Buchhalterin. Richtig. Aber gleichzeitig hieß das auch, dass nun jemand anderes am Ofen arbeitete. Der gleiche Job, den die Frau früher gemacht hatte. Es kann nun folgendes geschehen: Die Frau ist nun Buchhalterin und für eine Weile ist sie eine wundervolle und menschliche Person. Aber nach einer Weile ändert sich die Lage, während sie keine der harten Arbeiten mehr erledigen muss, sondern entspannt und komfortabel im Büro sitzt. Das führt dazu, dass die Lücke zwischen den Arbeitern und ihr größer wird. Sie weiß in den demokratischen Betriebsversammlungen mehr als die anderen. Sie erhält auf diese Weise mehr Möglichkeiten mitzureden, hat mehr Wissen über den Betrieb, kann selbstbewusster ihre Sichtweise formulieren, während die anderen weniger mitentscheiden können. Langsam aber sicher wird sie es leid mit den anderen überhaupt zu diskutieren und alles zu besprechen, zu verhandeln, da sie ja doch alles besser begreift, ebenso wie ihre Kollegen, die in vergleichbaren Positionen sind. Der Job, die Funktion, wird schleichend einen neuen Menschen aus ihr machen. Natürlich nicht genetisch. Es ist vielmehr so, als würde sie einen Job als Gefängniswärterin bekommen. Der netteste Mensch in der Welt bekommt einen Job als Gefängniswärter und zwei Jahre später ist dieser Mensch vielleicht eine andere Person, aufgrund des ganzen Drucks, der Einschränkungen und weil er bestimmte Pflichten erfüllen muss. Es ist einfach unvermeidlich. Was die Geschichte zeigt, ist, dass die Übernahme eines Unternehmens durch die Arbeiter, der Neuaufbau einer Firma von unten, nicht reicht, um etwas anderes herzustellen, das ein Modell für die Zukunft sein kann. Man muss nicht nur die Eigentümerschaft loswerden, sondern auch die Arbeitsteilung. Sie korrumpiert die Menschen. Das gleiche gilt für die Märkte. Wir müssen damit sehr bewusst und offen umgehen und die Krankheiten angehen anstatt sie zu preisen. Eine andere kurze Geschichte. Während desselben Aufenthalts in Argentinien saß ich zusammen mit über 50 Repräsentanten verschiedener argentinischer Unternehmen, die von Arbeitern übernommen wurden. Sie wollten also über partizipative Wirtschaft sprechen. Das war der Grund für das Treffen mit mir. Anfangs war jeder lebhaft und voller Energie, weil man Menschen aus Betrieben in ganz Argentinien traf, die das gleiche taten wie man selbst: Eine Fabrik besetzen, um etwas zu aufzubauen, dass menschlicher und gerechter sein sollte. Aber nach einer Weile fing es an deprimierend zu werden. Und nach und nach begannen die Menschen zu weinen. Das lag daran, dass die Menschen sehr ehrlich waren. Sie erzählten die Wahrheit. Einer sagte, dass er nie gedacht hätte, dass er so etwas sagen würde, aber er befürchte, dass Margaret Thatcher Recht gehabt habe. Die britische Premierministerin hatte die Formel geprägt, dass es keine Alternative zum Kapitalismus gäbe. Und dann begann der Mann zu erzählen. Nun, man habe den bankrotten Betrieb übernommen. Die Löhne wurden angeglichen, eine demokratische Versammlung der Arbeiter wurde ins Leben gerufen, auf der die Entscheidungen gefällt wurden. Man sei unglaublich energiegeladen und optimistisch gewesen. Man habe den Betrieb wieder zum Laufen gebracht. Aber jetzt, zwei Jahre später, scheint es, dass die alten Ungleichheiten, Hierarchien, Feindschaften und Entfremdungen, die Klassen-Trennung, wieder auftauchten, obwohl die Besitzer verschwunden seien. Es begänne sich so anzufühlen wie vorher. Es scheint einfach in uns eingebaut zu sein, sagte der Mann. Nach einer Weile begann ich über ausbalancierte Arbeitskomplexe zu sprechen und über Märkte. Ich sagt: Ich glaube nicht, dass die menschliche Natur an dem ganzen Schuld ist. Der Grund für die Rückschläge liege vielmehr darin, dass sie weiter an alten Institutionen hingen, der traditionellen gesellschaftlichen Arbeitsteilung. Zudem seien sie abhängig von den Märkten. Diese beiden alten Institutionen belasteten die demokratische Ausrichtung des Betriebs und zerstörten, was erreicht wurde. Das bedeutet nicht, dass es unmöglich ist. Es zeige nur, dass, Der Unterschied zwischen der derzeitigen Krise und der Dauerkrise ist, dass die aktuelle Krise auch die Mächtigen und Reichen trifft. Daher wird darüber geredet und öffentlich debattiert. Daher müssen Lösungen gefunden werden. Vor dem Finanzchaos starben jedes Jahr zehn Millionen Menschen weltweit, wahrscheinlich sogar hundert Millionen an vermeidbaren Krankheiten und Hunger, obwohl das vermeidbar war. Ich denke, dass es sehr gut ist, dass alle möglichen Experimente unternommen werden, von Kooperationen zu partizipatorischer Finanzplanung, ein Aspekt partizipativer Planung, und vieles mehr. Damit sich die Umgestaltung der Wirtschaft in eine humane Richtung nachhaltig entwickeln kann, ist es aber sehr wichtig, diese Anstrengungen zu bündeln und auf ein gemeinsames Ziel hin ausrichten. Das gibt den Bemühungen schließlich die Kraft, weiterzugehen und all die Hindernisse auf ihrem Weg zu überwinden.