24.03.2022
Share: mp3 | Embed video
Einleitung: 

In vielen Teilen der Welt zerfallen nationalstaatliche Strukturen. Laut Noam Chomsky könnten die USA vor einem möglichen Bürgerkrieg stehen – ein Szenario, dass sich einige Monate nach dem Gespräch mit dem Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 fast bewahrheitet hätte. Hochrangige Militärs planen bereits Kriegsspiele für diesen Fall. Gleichzeitig zerfällt die EU aufgrund der "neoliberalen Pest" und ihrer internen Schwächen, insbesondere der antidemokratischen Konstruktion der Troika, die den Bevölkerungen erdrückende Sparprogramme auferlegt hat, was zu Wut, Ressentiments und dem Aufstieg rechter Demagogen geführt hat. Es bildet sich eine "reaktionäre Internationale", zu der Donald Trump, Bolsonaros Brasilien, osteuropäische Führer wie Orban, die Golfdiktaturen, das rechtsgerichtete Israel und Modis Indien gehören. Im Gegensatz dazu kämpft eine progressive Internationale für eine andere Welt nach der Pandemie.

Gäste: 

Noam Chomsky, Prof. em. für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).

Nermeen Shaikh, Moderatorin beim US-Fernsehsender Democracynow

Transkript: 

Nermeen Shaikh: Professor Chomsky, so wie ja auch Fabian Scheidler in seinem Buch, vertreten sie die Ansicht, dass das System des Nationalstaats zu nie dagewesenen Gewaltexzessen geführt hat. Die Europäische Union sehen Sie als Möglichkeit, die Grenzen des Nationalstaats in gewissem Sinne zu überwinden. Würden Sie angesichts des Brexits und anderer Entwicklungen die Einschätzung teilen, dass, dieses Modell der EU im Zerfall begriffen ist – dass es an Anziehungskraft verliert, anstatt sich universell durchzusetzen? Halten sie es für möglich, dass der Nationalstaat an Macht einbüßen könnte? Vielleicht nicht in den USA, wo es gar nicht danach aussieht, aber anderswo?

Noam Chomsky: Ich würde sagen, dass die USA viel mehr noch als die Europäische Union vor einem drohenden Zusammenbruch stehen. Ein Bürgerkrieg ist derzeit in den USA nicht ausgeschlossen – und das behaupten nicht nur Randgruppen.  Kürzlich haben zwei hochrangige Militärkommandanten, John Nagl und ein weiterer Oberstleutnant einen bemerkenswerten offenen Brief an General Milley geschrieben, den Vorsitzenden des Vereinigten Generalstabs der US-Streitkräfte. Es handelt sich dabei nicht um Randfiguren, sondern um hoch angesehene Persönlichkeiten aus dem Zentrum des militärischen Establishments. In dem Brief weisen sie Milley auf dessen verfassungsmäße Pflichten hin, denen er nachzukommen hätte, falls Trump sich weigern sollte, im Falle einer Wahlniederlage sein Amt abzugeben. Trump könnte sich mit paramili­tärischen Kräften umgeben, wie er sie auch nach Portland geschickt hat, um die Menschen dort zu terrorisieren. Er hat bewusst nicht die Armee entsandt, weil diese ihm wahrscheinlich nicht Folge geleistet hätte. Stattdessen hat er Sicherheitskräfte wie die taktischen Einheiten des Grenzschutzes geschickt, die in der Wüste, in Tucson, unmittelbar südlich von dort, wo ich wohne, Angst und Schrecken verbreitet haben. Was ist, wenn er sich mit solchen Einheiten oder mit Milizen umgibt? In seinem Brief schreibt Nagl an Milley, dass es in diesem Fall seine Pflicht sei, militärische Kräfte wie die 82. US-Luftlandedivision zu schicken, um Trump aus dem Amt zu befördern. Das wäre das erste Mal, dass in einer parlamentarischen Demokratie so etwas passiert. Der offene Brief ist nicht alles, es gibt auch ein sogenanntes Transition Integrity Project, auf sehr hoher Ebene, mit führenden Persönlichkeiten aus der demokratischen und der republikanischen Partei, renommierten Analysten und so weiter – alles Leute aus dem absoluten Mainstream. Sie haben militärische Planspiele entworfen, um durchzuspielen, was nach der Wahl passieren könnte. Vor kurzem haben sie ihre Ergebnisse vorgestellt. Sie kommen zu dem Schluss, dass jedes Szenario, außer ein Wahlsieg Trumps, zu einem Bürgerkrieg führen könnte, weil wir einen größenwahnsinnigen Psychopathen im Weißen Haus sitzen haben. Es ist nicht jemand wie Richard Nixon, der zwar nicht gerade der sympathischste aller Präsidenten war, aber immerhin ein Mensch. Die Wahl von 1960 hat Nixon vermutlich gewonnen, aber aufgrund von Machenschaften der demokratischen Parteiaktivisten in Chicago und anderswo wurde Kennedy zum Sieger erklärt. Nixon hätte die Wahl anfechten können, aber ihm war das Wohl des Landes an diesem Punkt wichtiger als sein eigener Aufstieg. Er akzeptierte daher die Niederlage, obwohl er wahrscheinlich gewonnen hatte. Dasselbe ist vierzig Jahre später mit Al Gore passiert, als die Wahl mit Sicherheit zu Unrecht für Bush entschieden wurde. Al Gore hat aufgegeben, weil er das Land nicht kaputt machen wollte. Aber diesmal ist es anders, weil wir einen Unmenschen im Amt haben, auch wenn er sich vielleicht als Mensch ausgibt. Die Spaltung, die sich in Europa vollzieht – und darauf komme ich gleich noch zurück – tritt in den USA in einem viel schlimmeren Maße auf. Sie ist äußerst akut.

Aber zurück zu Europa: Ja, die EU ist brüchig geworden, und dafür gibt es Gründe, die wir uns anschauen sollten. Im Prinzip sind es zweierlei Gründe: Zum einen, die Art und Weise, wie die EU konstruiert wurde, hauptsächlich unter dem Einfluss Deutschlands und deutscher Banken. Das Wirtschaftssystem ist von der politischen Struktur losgelöst. Es wird größtenteils von einer nichtgewählten Troika aus Brüsseler Bürokraten betrieben: Die europäische Kommission ist nicht demokratisch gewählt, ebenso wenig wie der IWF und die Europäische Zentralbank. Trotzdem fällen sie die grundlegenden Entscheidungen. Die Entscheidungen liegen nicht in den Händen der Menschen in den Mitgliedstaaten. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen. Und die Seuche, die in den letzten 40 Jahren einen Großteil der Welt erfasst hat, die Seuche des Neoliberalismus, hat es noch viel schlimmer gemacht. Das wichtigste Prinzip des Neoliberalismus ist, dass Entscheidungen nicht Regierungen überlassen werden dürfen, denn Regierungen haben den Nachteil, dass ihre Entscheidungen zumindest teilweise von Bevölkerungen beeinflusst werden. Daher sollen Entscheidungen in die Hände von Institutionen gelegt werden, die niemandem Rechenschaft schuldig sind – eine privatisierte Macht, die sich der Öffentlichkeit gegenüber nicht zu verantworten braucht. Sie folgt einzig der Maxime der Selbstbereicherung. Dieses Hauptcredo stammt vom Vordenker des Neoliberalismus, dem Ökonomen Milton Friedman, der es der Welt genau zur selben Zeit verkündet hat, als Ronald Reagan erklärte, die Regierung sei das Problem, und Margaret Thatcher behauptete, es gebe keine Gesellschaft. Deshalb sollen wir alle Entscheidungen einer völlig ungebundenen privaten Macht überlassen, die im Prinzip nur auf Selbstbereicherung ausgerichtet ist. Man muss kein Genie sein, um sich auszumalen, wozu das führt. Die Folgen sehen wir heute. Weltweit macht sich Wut, Enttäuschung und Verbitterung breit – zu Recht – und die Menschen werden empfänglich für Demagogen wie Trump, Bolsonaro oder Orban, die ihnen versprechen: Ich bin euer Retter. Mit der einen Hand ramme ich euch das Messer in den Rücken und mit der anderen Hand befreie ich euch aus dieser ganzen Misere. Und das ist natürlich eine hochgefährliche Situation. Dies sind meiner Meinung nach die  beiden Hauptgründe.

Was aber sind die Gründe für den Brexit? Es ist vor allem die Deindustrialisierung Englands, an der die großen politischen Parteien beide mitgewirkt haben. Die Labour-Partei hat die Arbeiterklasse aufgegeben, so wie die Demokraten hier in den USA. Was folgt ist: Wut, Verbitterung, und die Suche nach einem Ausweg. Nur ist der Ausweg, der gerade genommen wird, blanker Selbstmord. Großbritannien macht sich dadurch nur noch mehr zum Vasallen der USA. Die Entscheidung für den Brexit ist aber nachvollziehbar. Man hat sich gesagt „Irgendjemand muss schuld an alledem sein. Ich war es nicht. Also steigen wir aus und fangen nochmal von vorne an.“ Ähnliche Prozesse finden auch anderswo in Europa statt, was man verstehen kann, und wir müssen die Ursachen erkennen: zum einen die neoliberale Seuche, zum anderen die besondere Struktur der EU, die zutiefst undemokratisch ist und die Menschen einer rücksichtslosen Kürzungspolitik ausgesetzt hat. Allerdings hatte diese Politik in Kontinentaleuropa nicht ganz so gravierende Folgen wie in den USA, weil es immer noch Überreste eines Wohlfahrtsstaates gibt, die den Menschen einen gewissen Schutz bieten. Aber diese Strukturen sind geschwächt.

Es gibt jedoch durchaus Antworten auf diese Entwicklung. Eine solche Antwort war die Eröffnungssitzung der Progressiven Internationale in Island. Das ist eine internationalen Initiative, die aus der Bernie-Sanders-Bewegung, einer progressiven Massenbewegung in den USA, und ihrem europäisches Gegenstück DiEM25, entstanden ist. DiEM25 wurde von Yannis Varoufakis ins Leben gerufen und ist eine länderübergreifende europäische Bewegung, die versucht, einerseits das zu bewahren, was in der Europäischen Union gut funktioniert, und andererseits ihre schwerwiegenden Mängel zu beseitigen. Diese internationale Konferenz, die erste ihrer Art, auf der auch viele Stimmen aus dem globalen Süden vertreten waren, stellt einen möglichen Weg dar, uns vor diesen Katastrophen zu bewahren.

Wir befinden uns mitten in einer Art internationalem Klassenkrieg von immensem Ausmaß. Auf der anderen Seite gibt es Bestrebungen, eine reaktionäre Internationale mit Sitz im Weißen Haus zu schaffen. Darum geht es auch bei den Vereinbarungen zwischen Israel und den arabischen Diktaturen: im Nahen Osten eine Bastion der reaktionären Internationale zu errichten, und zwar mit den rückschrittlichsten Staaten – den Golfdiktaturen, den Familiendiktaturen, der ägyptischen Diktatur und Israel, das sehr weit nach rechts gerückt ist. Inoffizielle Allianzen sollen unter der Schirmherrschaft der USA formalisiert werden.

Zu dieser reaktionären Internationalen wird auch Indien gehören, wo Premierminister Narendra Modi im Begriff ist, die säkulare Demokratie zu zerstören und das Land in eine rechte, hindunationalistische Ethnokratie zu verwandeln – inklusive der Unterdrückung Kashmirs. Ungarn unter Viktor Orban gehört auch dazu.

Wir haben also auf der einen Seite die reaktionäre Internationale unter der Führung des Weißen Hauses, wo Mike Pompeo der Welt erklären kann: „Mir ist egal was ihr wollt – wir boxen die UN-Sanktionen durch und ihr haltet den Mund.“ Auf der anderen Seite gibt es die progressive Internationale. Die erste versucht, das neoliberale System, das diese Krise verursacht hat, noch unerbittlicher und autokratischer zu machen: mehr Überwachung, mehr zentralisierte Macht, insbesondere zentralisierte wirtschaftliche Macht unter der Kontrolle des Weißen Hauses. Die progressive Internationale hingegen wird von zivilgesellschaftlichen Kräften getragen, die sich weltweit mobilisieren. Und diese beiden Lager kämpfen darum, wie die Welt nach der Pandemie aussehen soll. Natürlich sind das nur zwei der wichtigsten Kräfte, nicht die ganze Welt. Daneben gibt es auch China und dessen regionalen Raum. Aber es sind immerhin zwei der Hauptkräfte. Sie haben alle mit dem zu tun, worüber Fabian gesprochen hat: das Wesen des Nationalstaates, die Gewalt, die damit einhergeht, die Möglichkeiten, ihr ein Ende zu setzen, die strukturelle Gewalt, die dazu dient, die Eigentumsverhältnisse der Superreichen zu schützen und den Rest der Welt in die Stagnation oder Rückentwicklung zu zwingen.

Wir müssen uns vor Augen führen, dass all diese Probleme ihren Ursprung gerade in den Staaten haben, die einst Vorreiter der Demokratie waren. Man schaue sich die Verfassung der Vereinigten Staaten an. Im 18. Jahrhundert war das ein Dokument, das Fortschritt verkörperte. Heute nicht mehr – heute erscheint es uns abgrundtief rückständig. Aber damals war es wegweisend. Was aber war der Geist dieser Verfassung? James Madison, der Hauptautor, erklärte vor dem Verfassungskonvent mit deutlichen Worten, dass eine der Hauptaufgaben der Regierung darin bestand – ich zitiere – „die Minderheit der Wohlhabenden gegen die Mehrheit zu verteidigen“. Die Eigentumsrechte der Wohlhabenden vor der Mehrheit zu schützen. Das Standardwerk über die Geschichte des Verfassungskonvents, wo die Verfassung beschlossen wurde, stammt von Michael Klarman und gilt als Goldstandard der Forschung. Es trägt den Titel „The Framers Coup“ und damit ist der Staatsstreich der reichen, größtenteils Sklaven besitzenden Verfassungsväter gemeint, der sich gegen die Bevölkerung und deren Verlangen nach mehr Demokratie richtete. Die Autoren der Verfassung wollten weniger Demokratie und konzipierten die Verfassung entsprechend, weil sie die wohlhabende Minderheit vor der Mehrheit zu schützen suchten. So sah die demokratische Großtat des 18. Jahrhunderts aus. Klar ist die Geschichte seitdem weitergegangen, aber es hilft, die Anfänge zu verstehen.

Nermeen Shaikh: Fabian Scheidler und Professor Chomsky, vielen Dank für dieses Gespräch.