15.02.2016
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Einleitung: 

Der Mangel an Demokratie sei schuld am ökonomischen Desaster der EU, so Varoufakis. In den USA wäre eine Regierung bei einer anhaltenden Arbeitslosigkeit von 11 bis12 Prozent längst gestürzt und die Bürokraten gefeuert worden. In der EU geschehe nichts. Die "Komödie an Verfehlungen" gehe weiter wie zuvor. Denn die eigentlichen Entscheidungen würden in Hinterzimmer von demokratisch nicht legitimierten und kontrollierten Akteuren getroffen, wie der Euro-Arbeitsgruppe. Das dahinter stehende Interessenkartell müsse gestoppt werden. Sonst breche die EU zusammen. "Der Grund, warum wir in Deutschland, in Großbritannien, in Griechenland oder in den Vereinigten Staaten eine Demokratie haben, ist darin begründet, dass Kapitalismus ohne Demokratie ein sehr unzivilisiertes System ist, in dem das Leben gemein, brutal und kurz ist."

Gäste: 

Yanis Varoufakis: Ehemaliger Finanzminister Griechenlands und Mitbegründer von "Democracy in Europe Movement 2025" (DiEM25)

Transkript: 

David Goeßmann: Willkommen bei Kontext TV. Unser heutiger Gast ist Yanis Varoufakis. Yanis Varoufakis ist früherer Finanzminister Griechenlands und Mitbegründer von DiEM, Democracy in Europe Movement 2025. Willkommen bei Kontext TV, Yanis Varoufakis!

Yanis Varoufakis: Es ist eine große Freude, hier zu sein.

David Goeßmann: Yanis Varoufakis, DiEM25 will ein demokratisiertes Europa. Zunächst einmal: Warum benötigen wir überhaupt eine Demokratisierung Europas? Ich meine, wir besitzen bereits einige Institutionen wie den EU-Rat und das EU-Parlament, warum brauchen wir eine Demokratisierung? Und zweitens: Was bedeutet in diesem Falle  „Demokratie“? Wir haben demokratische Nationalstaaten; wir haben demokratische Institutionen hier in Deutschland. Aber auf der anderen Seite sehen wir wie Großkonzerne die politische und die öffentliche Sphäre dominieren. Warum also brauchen wir die Demokratie und welche Art von Demokratie ist nötig auf europäischer Ebene?

Yanis Varoufakis: Demokratie ist immer notwendig. Denn ohne sie erhält man eine extrem schlechte Wirtschaftspolitik. Das ist auch der Grund dafür, dass die Europäische Union nun der kranke Patient der Weltwirtschaft ist. Daher geht es Europa von allen Regionen der Welt heute am Schlechtesten – siehe die Finanzkrise von 2008. Die Ursache dahinter ist der Mangel an Demokratie. Um es auf den Punkt zu bringen: Wenn die Wirtschaftsleistung der Vereinigten Staaten so schlecht wäre, wie sie es hier ist, wenn es dort eine durchschnittliche Arbeitslosenquote von 11-12% gäbe, dann hätte man die Regierung gestürzt, dann wären die Bürokraten gefeuert worden. Hier können sie einen Fehler nach dem anderen machen. Es ist eine Komödie an Verfehlungen, es ist ein Debakel. Sie sind inkompetent. Doch niemand kann sie entlassen. So können sie die gleiche Sache immer wieder tun. Sie haben nach Demokratie gefragt. Worum geht es im Kern? In Demokratien haben die Menschen das Recht, vier Fragen zu stellen an diejenigen, die in ihrem Namen die Entscheidungen treffen. Es geht um die wichtigen Entscheidungen – nicht darum, wer den Müll zu entsorgt und so weiter, was auch wichtig ist. Aber ich meine jene Entscheidungen, die unser Geld, unsere Arbeitsbedingungen, unsere Umwelt, unseren Wohlstand betreffen. Wir sollten vier Fragen stellen können. Erstens: Welche Befugnisse haben Sie? Definieren Sie sie. Sagen Sie uns genau, für was Sie in Europa zuständig sind. Die Realität ist, dass sie sich ihre Zuständigkeit einfach so zurechtlegen, wie es ihnen gerade passt. Zweitens: Wer hat Ihnen diese Befugnisse erteilt? Das werden sie ihnen nicht genau sagen können. Ein Beispiel: Wussten Sie, dass ein Großteil der europäischen Politik durch die sogenannte Euro-Arbeitsgruppe diktiert wird, mit einem gewissen Herrn Thomas Wieser als Vorsitzenden? Er hat mehr Macht als die meisten EU-Minister. Drittens: Wie nutzen Sie Ihre Befugnisse? Was genau tun Sie? Alle Entscheidungen werden in Europa hinter verschlossenen Türen gemacht. Die Akteure wissen nicht einmal selber, was die Entscheidungen sind. Vor allem in der Peripherie Europas, regiert durch die völlig undurchsichtige Troika. Und schließlich: Wie können wir euch loswerden? Sie erhalten darauf keine Antwort. Man kann die Euro-Arbeitsgruppe nicht loswerden. Es ist eine Gruppe, die alle wichtigen Entscheidungen trifft. Aber es gibt keine Institution wie z. B. ein Parlament, die sie absetzen könnte. In der Bundesrepublik kann die Regierung durch den Bundestag abgesetzt werden. In Europa gibt es keinen derartighen Mechanismus. Nicht mal ansatzweise. Dementsprechend gibt es auch kein Demokratiedefizit in Europa. Es geht nicht darum, dass die Europäische Union nicht ausreichend demokratisch ist. Stellen Sie sich einen Mann bzw. eine Frau auf dem Mond in einem Raumanzug vor. Er oder sie nimmt den Helm ab. "Oh, es gibt ein Sauerstoffdefizit". Nein, es gibt kein Defizit, Sauerstoff ist schlicht nicht vorhanden. Gleiches gilt für die Europäische Union. Es gibt keine Demokratie – sondern das Gegenteil: Verachtung für Demokratie. Demokratie wird als Feigenblatt benutzt, um zu legitimieren, was sie tun. Warum brauchen wir Demokratie überhaupt? Der Grund, warum wir in Deutschland, in Großbritannien, in Griechenland oder in den Vereinigten Staaten eine Demokratie haben, ist darin begründet, dass Kapitalismus ohne Demokratie ein sehr unzivilisiertes System ist, in dem das Leben gemein, brutal und kurz ist.

David Goeßmann: Wir können auch in den Nationalstaaten beobachten, dass es eine große Kluft zwischen der öffentlichen Meinung und der Politik gibt – obwohl wir, anders als in der EU, über demokratische Institutionen verfügen. Daher erneut meine Frage: Welche Demokratie brauchen wir auf europäischer Ebene? Es sollte eine bessere sein als jene, die wir schon haben.

Yanis Varoufakis: Nun, wir haben keine Demokratie in der Europäischen Union. Wir haben eine Demokratie, aber sie zählt nicht. In Nationalstaaten haben wir demokratische Prozesse, Institutionen und Verfassungen. Sehr demokratische sogar, weil sie sich in jahrhundertelangen demokratischen Kämpfen entwickelt haben. Aber durch die Schaffung der EU in ihrem jetzigen Zustand haben wir all das wieder annulliert. So haben wir Regierungen und politische Parteien, die sich in Frankreich, in Deutschland, in Griechenland, in Irland und so weiter zur Wahl stellen. Sie machen diverse Versprechen. Dann werden sie gewählt. Aber sie haben keine Handhabe, um ihre Versprechen umzusetzen. Das ist der Grund für die Kluft zwischen der Regierung und den Menschen. Und dann werden die Entscheidungen von denjenigen getroffen, die nie zur Rechenschaft gezogen werden, in Hinterzimmern irgendwo zwischen Frankfurt und Brüssel. Und diese Entscheidungen – die nie demokratische Prozesse durchlaufen haben – sind in der Regel äußerst schlecht. Denn sie stellen die falschen Fragen. Sie fragen nicht: "Wie können wir das Leben für die Europäer besser gestalten". Die Frage, die sie in der Regel in Brüssel und in Frankfurt stellen ist: "Wie können wir vortäuschen, dass unsere bisherige Politik nicht gescheitert ist". Das ist nicht ganz dasselbe. Das Ergebnis ist ein sich selbst verstärkender Mechanismus zwischen mehr Autoritarismus und immer schlechteren wirtschaftlichen Resultaten. Dies ist das Interessenkartell in Europa. Demokratisierung ist kein idealistisches Konzept. Sie ist notwendig, um Europa vor dem Zusammenbruch zu bewahren.

David Goeßmann: Sollten wir auch Unternehmen demokratisieren? Sie entscheiden schließlich über sehr wichtige Themen.

Yanis Varoufakis: Nun, zuerst einmal wäre es schon schön, wenn wir sie einschränken würden und ihnen Grenzen setzten. Sie müssen dazu gebracht werden, ihre Steuern zu zahlen. Dieser Wettlauf nach unten muss gestoppt werden, bei dem Unternehmen auf eine Insel ausweichen, wo sie nur 12% Körperschaftsteuer zahlen, nur um die deutsche Steuer zu vermeiden. Selbst diese 12 % zahlen sie dann nicht einmal, weil sie ein Abkommen mit den Niederlanden haben, durch welche das Geld fließt, bevor es in die Karibik geht. Am Ende zahlen sie nur 1% Steuer. Also, wie wäre es, wenn – bevor wir sie demokratisieren – wir sie dazu verpflichteten, ihre Steuern dort zu zahlen, wo sie ihre Umsätze erzielen.