Die enorme Ausweitung des Überwachungsstaates sei auch eine Form des Ausschlusses, so Sassen: Bürger würden von elementaren Rechten ausgeschlossen und zu bloßen Objekten degradiert. Dabei sei das Überwachungs- und Spionagesystem extrem ineffektiv, wenn es etwa um die Verfolgung von Terrorismus ginge. Jüngst sei eine Geheimabteilung mit 4.000 Mitarbeitern innerhalb der NSA enthüllt worden, die nur für die Überwachung der eigenen Geheimdienstmitarbeiter zuständig sei. Profiteur dieses absurden Systems sei vor allem die Sicherheitsindustrie, die Milliardenumsätze macht. Die USA seien zwar noch kein faschistisches Land, aber es gebe eine Reihe von „räuberischen Formationen“, die sich zu einem „schlüsselfertigen Staat“ zusammensetzen ließen.
Saskia Sassen, Professor für Soziologie an der Columbia University, New York, Gastprofessorin an der London School of Economics, Autorin zahlreicher Bücher, darunter "The Global City"
Fabian Scheidler: Sie haben auch über die NSA und ihr Überwachungsprogramm geschrieben. Sie sagten, das sei keine rein nationale, sondern eine globale Angelegenheit, die auch Deutschland betreffe. Und sie bezeichneten auch das als Form von Ausschluss. Könnten Sie das erläutern?
Saskia Sassen: Auch hier hat Ausschluss eine komplexe Bedeutung. Die Washington Post, eine große Zeitung, hat 2010 eine Reihe von Karten voller Daten veröffentlicht, die zeigen, dass es mindestens 10.000 Gebäude im Land gibt, die der Überwachung dienen. Das hat die Menschen so überfordert, dass sie es nicht abgespeichert haben, es hat keine mentalen Spuren hinterlassen. Niemand konnte damit etwas anfangen. Schon damals hätten wir Bescheid wissen können, die Information war öffentlich. Aber wir standen vor diesen Gebäuden, ohne etwas zu merken. Unsere gewohnte Umgebung musste erst neu kodiert werden und das hat jetzt angefangen. Ich glaube zwei Denkmuster führen zusammen zu diesem merkwürdigen Ergebnis: Zum einen die Logik des Staates und des Kampfes gegen den Terror, dieser Kontrollwahn, der glaubt, wir könnten uns selbst schützen, wenn wir mehr über jedermann wissen. Aber zum anderen muss man sich wirklich fragen, warum wir diese ganze ausgeklügelte und umfassende Überwachung brauchen und all diese Daten sammeln, die nie analysiert werden, nur um zwei oder drei aktive Terroristen zu schnappen. Und ich glaube, ein Teil der Antwort auf die zweite Frage liegt im Techniksektor. Er hat ein riesiges Budget. Wir haben innerhalb des NSA-Haushalts gerade einen Etat entdeckt, der neue Techniken finanziert, um Angestellte mit Zugang zu besonders geheimen Informationen zu überwachen. Damit ist eine Überwachungs-Enklave innerhalb des Überwachungsstaates geschaffen. Und ich frage mich, wer profitiert davon? Der Techniksektor. Der Verteidigungs¬sektor. Wir kommen zurück zu dem alten Bild des militärisch-industriellen Komplexes, wie ihn Seymour Melman analysiert hat. Der Kerl war genial. Ich glaube er war Ingenieur und hatte darin gearbeitet und als erster darüber gesprochen. Ich glaube daher, dass die Ausweitung der Überwachungssysteme aus mehreren logischen Ketten folgt, nicht nur einer einzigen. Es kann nicht nur eine sein, denn sonst ergäbe es keinen Sinn. So weit sind wir also jetzt schon: Wir geben Unmengen von Steuergeldern für die Überwachung von 4000 Angestellten aus, die höchste Geheimnisträger sind. Die NSA mit ihren 40.000 Angestellten! Um sicher zu gehen, wegen Snowden. Es ist wie eine gigantische Struktur, an der ständig weitergebaut wird. Ich denke, es werden noch mehr Überraschungen kommen. Dieser Geheimetat, der gerade entdeckt wurde, hat uns schon etwas verblüfft. Klar, es gab Hinweise aber es ist so übertrieben, so überzogen. Da spielen auch Unternehmensinteressen mit. So wie auch bei den Kriegen – der Verteidigungssektor profitiert davon, kein Zweifel.
Fabian Scheidler: Und wie verläuft die Diskussion zum Überwachungsstaat in den USA? Sehen Sie einen schrittweisen Wandel?
Saskia Sassen: Das Problem in den USA mit dieser Art von Debatte sind die „chattering classes“, die tratschenden Intellektuellen. Sie müssen immer über irgendetwas debattieren, denn sonst hätten sie nichts zu tun. Und auch in den USA passiert nicht immer so viel Spannendes. Also wird das Thema breit getreten, so breit, dass für die allgemeine Öffentlichkeit etwas dabei ist, mit dem sie sich identifizieren kann. In diesem Fall: „Hilfe, die lesen meine Mails.“ da geht es dann vor allem um den Schutz der „Privatsphäre. Aber mich interessiert eher eine andere Art von Systematik: Ein komplexes Gefüge von Elementen, die in eine Richtung zusammenwirken, bis ein Stück weit die Kontrolle verloren geht. In meinem Buch nenne ich das die predatory formations, die „räuberische Gebilde“. Sie sind wirklich räuberisch. Ich beobachte einige davon und die Überwachungssysteme sind ein Beispiel. Es bewegt sich in eine bestimmte Richtung und zwar weit über meine Emails und Telefonanrufe hinaus und auch über das Aufspüren von Terroristen. Es verselbständigt sich. Sogar den Finanzsektor betrifft das: Einige der von mir identifizierten räuber¬ischen Gebilde entziehen sich der Kontrolle der mächtigsten Finanzfirmen. Sie sind wirklich Gebilde, weil sie nicht von einem Einzelnen oder eine Gruppe von Individuen oder Firmen abhängig sind. Aber in der öffentlichen Debatte ist das Problem, dass die Nachrichtenkanäle und die tratschenden Intellektuellen rund um die Uhr aktiv sind und schließlich alles mit hinein gezogen wird, bis hin zu Ihrer Großmutter. Doch dadurch wird die öffentliche Diskussion in die Komfortzone verlagert. „Mein Recht auf Privatsphäre.“ Es wird eine Diskussion über den Schutz des Privaten, was in den USA ein altes Thema ist. Was tatsächlich passiert, will ihnen nicht in den Kopf, nämlich, dass ein staatliches Gebilde sich nicht völlig unter Kontrolle hat.
Fabian Scheidler: Sie erwähnten in Ihrem Vortrag…
Saskia Sassen: ... dass mein Mann meint, die USA seien bereits faschistisch. Meinten Sie das?
Fabian Scheidler: Ja. Aber sie sagten zugleich, dass es soweit noch nicht sei, es gebe aber Elemente, die sich irgendwann zusammenfügen lassen.
Saskia Sassen: Julian Assange nannte es den „schlüsselfertigen Staat“. Ich denke das trifft es besser. Ich kann hier frei sagen, was ich möchte. Noch ist es also nicht soweit. Es gibt aber diese Maschinerie, die alle möglichen Informationen sammelt. Meine Universität dürfte zum Beispiel jetzt alle meine Emails lesen. Aber das machen sie nicht, sie haben besseres zu tun. Erst wenn ich aus Gründen, die vielleicht mit der ganzen Überwachung nichts zu tun haben, wirklich verdächtig werde, setzt sich das System in Gang. Das ist die Logik. Und dafür müssen wir auch alle Verdächtige sein, damit sie Daten über uns haben, und wenn etwas passiert, sagen können: „Hier die da, such die mal heraus aus den Millionen, die wir bespitzeln.“ – und dann können sie eine Kette herstellen. Ich veranstalte immer wieder Diskussionsrunden mit Leuten, deren Verwandte wegen Terrorverdacht im Gefängnis sind. Wenn sie mich unter die Lupe nehmen werden sie also diverse Verbindungen sehen und sich sagen: „Die ist eine Terroristin.“ Völlig haltlos. Und dann kommt es zu einem teuren Prozess, der von Steuergeldern bezahlt wird. Am Ende stellt sich heraus, dass ich nur eine Diskussionsrunde bei einer langweiligen Soziologenkonferenz organisiert habe. Es wird nur Unwissen produziert. Was in den USA wirklich fehlt, ist altmodische Geheimdienstarbeit, das heißt hart arbeiten, vor Ort sein, Sprache und Kultur kennen. Ich sage immer die USA können keine Diplomatie, sie holen nur die dicken Waffen raus und nennen das dann Diplomatie. Und sie haben die gute alte Spionage verlernt, bei der man wirklich Dinge herausfindet. Dabei können Agenten doch heute von zuhause aus arbeiten, aber nicht mal das tun sie. Stattdessen haben sie diesen Zwischenbereich, der mit den Unternehmen verflochten ist und das ist etwas ganz anderes. Vielen Dank, Saskia Sassen.