„Die Zukunft der Euro-Zone sieht ziemlich düster aus, wenn Deutschland seine Haltung nicht ändert“, sagt Noam Chomsky. Dabei sei die BRD nach dem zweiten Weltkrieg gerade durch den Schuldenerlass europäischer Staaten erst zu Wachstum und Wohlstand gekommen. Jetzt verhindere die deutsche Regierung unter Merkel genau diese Politik. Das Kürzen von Staatsausgaben sei zudem vollkommen ungeeignet, um aus der Krise heraus zu kommen. „Austerität macht alles noch viel schlimmer“. Selbst der Internationale Währungsfond nehme Abstand davon. Es stellte sich zudem heraus, dass das intellektuelle Fundament der Austeritätsprogramme, der Artikel der Harvard-Ökonomen Rogoff und Reinhart, arithmetische Fehler enthalte. „Defizite stimulieren die Nachfrage. (…) Sie sind auch kein wirkliches Problem. Es ist ein Problem für die Banken und nur deshalb ist es im Zentrum der politischen Debatte, da die Banken großen politischen Einfluss haben.“ Für die Bevölkerung bestehe das Problem in fehlenden Arbeitsplätzen, das zeigten Umfragen, so Chomsky. „Das Fehlen von Jobs zerstört eine ganze Generation einschließlich aller Konsequenzen für die Zukunft. In Europa findet das noch verheerender statt als in den USA. Es schädigt auch die Wirtschaft. Ein großer Teil des Wachstums wird zerstört, weil gesagt wird, dass wir uns um eine Inflationsgefahr sorgen müssen, die gar nicht existiert.“ Die Öffentlichkeit habe immer weniger zu sagen, das gelte auch bei Sozialkürzungen und Freihandel. „Es gibt jede Menge Proteste, die möglicherweise zu sozialen und politischen Bewegungen werden, die ernsthafte Veränderungen vorantreiben können. Aber es ist noch ein langer Weg, der vor uns liegt. Deutschland ist wegen seiner Machtposition im Zentrum dieser Entwicklungen.“
Noam Chomsky, Linguist, Aktivist und Buchautor (u.a. "Manufacturing Consent", "Profit over People" und "Occupy"). Chomsky ist offizieller Unterstützer von Kontext TV.
David Goeßmann: Willkommen bei Kontext TV. Zu Gast ist heute bei uns der Linguist, US-Dissident und Aktivist Noam Chomsky. Chomsky ist offizieller Unterstützer von Kontext TV. Drei Jahre nach seinem letzten Interview mit Kontext TV haben wir erneut die Möglichkeit erhalten, mit ihm ein ausführliches Interview zu führen.
Fabian Scheidler: Noam Chomsky wurde mit seinen Untersuchungen zur „Universalgrammatik“, die allen Sprachen zugrunde liegen soll, weltbekannt. Er gilt heute als Vater der modernen Linguistik. Anfang der 60er Jahre opponierte Chomsky gegen den Indochinakrieg der USA gegen Vietnam, Kambodscha und Laos. Seitdem hat er dutzende Bücher geschrieben zur US-Außenpolitik mit Schwerpunkten auf Lateinamerika, Südostasien und den Nahen Osten, zum Staatskapitalismus und über die Massenmedien.
David Goeßmann: Eines seiner populärsten Bücher ist „Manufacturing Consent. The Political Economy of the Mass Media“, übersetzt: „Die Konsensfabrik. Die Politische Ökonomie der Massenmedien“, in dem er 1988 zusammen mit dem Politikwissenschaftler Edward Herman ein Modell über die Funktionsweise moderner Propaganda entwickelte. Weitere Bücher Chomskys sind u.a. „Hegemony or Survival“, „Profit over People“, „9-11“ und die im letzten Jahr veröffentlichte Schrift “Occupy”.
Fabian Scheidler: Auch mit 85 Jahren gibt Chomsky weiter unermüdlich Interviews, kommentiert das Tagesgeschehen, hält Vorträge auf der ganzen Welt und unterstützt Bewegungen und Aktivisten. In den US-Mainstreammedien taucht er so gut wie nicht auf.
Wir haben Noam Chomsky Ende April in seinem Büro am Massachusetts Institute of Technology in Boston besucht.
David Goeßmann: Willkommen bei Kontext TV, Noam Chomsky.
Noam Chomsky: Danke.
David Goeßmann: Ich möchte über die Eurokrise sprechen. Austeritäts- bzw. Sparpolitik-Maßnahmen sind in einigen Ländern wie Griechenland, Portugal oder Spanien angewendet worden. Die deutsche Regierung hat eine Führungsrolle inne bei dieser Politik, die Gehaltskürzungen, Sozialabbau und Privatisierungen beinhaltet. Wie ist Ihre Einschätzung dieser Politik und wie sehen Sie die Zukunft des Euro?
Noam Chomsky: Die Zukunft der Euro-Zone sieht ziemlich düster aus, wenn Deutschland seine Haltung nicht ändert. Deutschland hat eine Führungsrolle inne bei der Durchsetzung von Austerität in südlichen Euro-Ländern und Irland. Das ist schon eine Ironie der Geschichte. Nach dem zweiten Weltkrieg hatte Deutschland riesige Schulden, doch sie wurden erlassen. Deutschland konnte sich so wirtschaftlich wieder erholen. Europa strich letztlich Deutschlands Schulden. Die Bundesrepublik drohte 1953 zu kollabieren. Die Deutschen baten die Europäer um Hilfe und erhielten daraufhin erhebliche Unterstützung, um sich zu restrukturieren und ihre Schulden abzubauen. Danach war es Deutschland erst möglich, aus der Krise heraus zu wachsen und zu einem industriellen europäischen Zentrum zu werden. Heute ist Deutschland in einer Führungsposition, genau diese politischen Entscheidungen zu verhindern in Ländern, die sehr von der spezifischen Art, wie die Euro-Zone konstruiert wurde, geschädigt wurden, insbesondere durch deutsche Banken. Die Probleme im Süden wurzeln hauptsächlich in einer Bankenkrise. In Spanien zum Beispiel war der öffentliche Haushalt in guter Verfassung. Dann kam der Kollaps in 2007, was im Prinzip ein Bankenskandal war. Dasselbe gilt für Irland. Der Bankenskandal hat zwei Seiten, die irischen und spanischen Banken auf der einen, und die Geldverleiher wie die Bundesbank und die deutsche Bank und so weiter auf der anderen Seite. Die Geschichte hat zwei Seiten und es ist im Prinzip eine Bankenkrise und nicht eine Staats- und Regierungskrise. Und die Konsequenzen sind so, wie sie es beschrieben haben. Mario Draghi, Präsident der Europäischen Zentralbank, sagte in einem Interview mit dem Wall Street Journal ganz offen, dass der Sozialvertrag tot sei. Das ist die Konsequenz von Austerität, von öffentlicher Sparpolitik. Auf rein ökonomischer Ebene ist Austerität vollkommen ungeeignet, die Krise zu überwinden. Austerität macht alles noch viel schlimmer. Die letzten Jahre haben das gezeigt. Selbst die Europäische Zentralbank und der Internationale Währungsfond nehmen nun davon Abstand. Sie haben vielleicht den in den USA unter den Teppich gekehrten Skandal um den berühmten Artikel der Harvard-Ökonomen Reinhard und Rogoff mitbekommen. Dieser Artikel bildete das intellektuelle Fundament für die Austeritätsprogramme. Es stellte sich heraus, dass sie einige arithmetische Fehler gemacht haben und wenn man sie berichtigt …
David Goeßmann: Ein Student hat sie berichtigt.
Noam Chomsky: Ein Student fand den Fehler und eine Reihe von Fakultätsmitgliedern machte dann mit. Sie veröffentlichten eine Studie darüber. Aber die allgemeine Reaktion darauf ist, dass es weiter richtig ist, dass Schulden Wachstum schädigen. Ja, das stimmt, in langer Zeitperspektive. Aber wie Keynes sagte: Auf lange Sicht sind wir alle tot. Doch kurzfristig belasten Schulden nicht das Wachstum, sie sind sogar eine gute Sache. Defizite sind eine Weise, Nachfrage zu stimulieren in einer Zeit, wo niemand sonst es kann. In den USA sind die Banken und Konzerne, die wahren Verursacher der Krise, heute größer und reicher als jemals zuvor. Sie haben so viel Geld, dass sie nicht wissen, was sie damit tun sollen. Sie investieren aber nicht - aus verschiedenen Gründen. Zuerst einmal gibt es nicht genügend Nachfrage. Warum sollen sie sich also plagen. Verbraucher können keine Nachfrage herstellen. Sie kämpfen weiter mit Schulden, die angehäuft wurden während der durch Banken verursachten Krise. Also bleibt nur die Regierung übrig. Und tatsächlich: Defizite stimulieren die Nachfrage. Es gibt bessere Wege, aber es geht auch so. Defizite sind auch kein wirkliches Problem. Es ist ein Problem für die Banken und nur deshalb ist es im Zentrum der politischen Debatte, da die Banken großen politischen Einfluss haben. Aber für die Bevölkerung, das zeigen Umfragen sehr klar, besteht das Problem in fehlenden Arbeitsplätzen. Es ist ein realistischeres Bild. Das Fehlen von Jobs zerstört eine ganze Generation einschließlich aller Konsequenzen für die Zukunft. In Europa findet das noch verheerender statt als in den USA. Es schädigt auch die Wirtschaft. Ein großer Teil des Wachstums wird zerstört, weil gesagt wird, dass wir uns um eine Inflationsgefahr sorgen müssen, die gar nicht existiert. Banken mögen Inflation nicht - sollte sie denn jemals kommen. In den USA wurde seit März dieses Jahres eine Zwangsverwaltung für die Schulden eingerichtet. Nichts Ähnliches gibt es für Jobs, für die Arbeitsplätze. Diese Politik ist ein weiteres Indiz für die Fragmentierung der Demokratie unter der Herrschaft der neoliberalen Programme, die schon seit einiger Zeit in Kraft sind. Die Öffentlichkeit hat immer weniger zu sagen. Sie hatte zwar niemals viel zu sagen, aber heute hat sie zunehmend weniger politische Mitsprache. Das ist in den USA sehr genau untersucht worden. 70 Prozent der Menschen in den USA im unteren Einkommensbereich haben keinerlei Einfluss auf die Politik. Niemand schenkt ihnen Beachtung. Der Einfluss nimmt jedoch zu, je mehr man in die oberen gesellschaftlichen Schichten geht. An der Spitze schmeißen die Reichen und Einflussreichen mehr oder weniger den Laden, wie es Adam Smith vor langer Zeit beschrieben hat. Das alles geschieht vor unseren Augen. Es sind keine unumkehrbaren Vorgänge. Es gibt jede Menge Proteste, die möglicherweise zu sozialen und politischen Bewegungen werden, die ernsthafte Veränderungen vorantreiben können. Aber es ist noch ein langer Weg, der vor uns liegt. Deutschland ist wegen seiner Machtposition im Zentrum dieser Entwicklungen.
David Goeßmann: Obama will ebenfalls soziale Leistungen kürzen wie Medicare, die stattliche Krankenversicherung für Rentner in den USA.
Noam Chomsky: Gegen die überwältigende Opposition der Mehrheit der Menschen in den USA. Aber das gilt für alle möglichen politischen Entscheidungen heute. Nehmen Sie ein anderes Beispiel, Waffenkontrolle. 90 Prozent der Bevölkerung wollte eine Verschärfung. Sie wurde vom Kongress nieder geschlagen. Natürlich, die Standardansicht der Eliten ist, dass man sogenannte „Benefits“ oder „entitlements“, also staatliche Unterstützungsleistungen, kürzen muss. Doch diese Zahlungen sind für den Staat kaum nennenswert, sie sind kein steuerliches bzw. nur ein sehr geringes fiskalisches Problem, das mit der Zeit wieder aufgehoben werden kann. Nun, die Gesundheitsversorgung dagegen ist ein großes Problem. Die Ausgaben für Medicare werden weiter ansteigen und die Wirtschaft belasten. Aber den Grund dafür darf man nicht diskutieren. Er besteht in einem dysfunktionalen privatisierten System. Das privatisierte Gesundheitssystem, das praktisch nicht reguliert wird, ist extrem dysfunktional. Es kostet jeden Amerikaner im Durchschnitt doppelt so viel wie Bürger in anderen OECD-Staaten, es liefert zudem relativ schlechte Gesundheitsleistungen. Man kann diesen Missstand jeden Tag auf den Titelseiten der Zeitungen nachlesen, aber er wird praktisch nicht eingeordnet in diesen Zusammenhang. Nehmen wir die Gesundheitsreform von Obama. Eines der Elemente von „Obamacare“ war es, lokale Organisationen dazu zu bringen, Hilfe für Behinderte anzubieten. Aber wir sind in den USA. Also wurde die Aufgabe an private Unternehmen weiter gegeben. Sie machen nun das, worauf Unternehmen ausgerichtet sind: Geld verdienen. Das Programm wird daher teuer, es wird ein großer Skandal daraus gemacht. Man sagt uns: Schuld seien die Leute. Menschen, denen es eigentlich gut gehe, würden die Dienstleistungen missbrauchen. Die Kostenexplosion wird also diesen „schlechten Menschen“ angelastet. Aber es hat nicht mit „schlechten Menschen“ zu tun. So etwas geschieht, wenn man Aufgaben in private Unternehmerhände legt. Es ist ihr Job, alles raus zu holen. Auch die Unternehmer sind keine schlechten Menschen. Die Aufgabe eines Vorstandsvorsitzenden ist es, Profite zu machen. Wenn man das erreichen kann, indem man die Regierung abzockt, umso besser. Es gibt ziemlich gute Studien von Ökonomen, die zeigen, dass, wenn in den USA die Ausgaben für die Gesundheitsversorgung zumindest auf die Ebene europäischer Staaten bringen könnten – also kein utopisches Ziel, dann hätte Amerika kein Defizit-Problem. Vielleicht gäbe es sogar einen Überschuss.
David Goeßmann: Es sieht so aus, dass Freihandelsgespräche zwischen den USA und Europa im Juni dieses Jahres beginnen. Es wäre das größte Freihandelsabkommen, das jemals geschlossen wurde. Es gibt zahlreiche Freihandelszonen in den USA wie NAFTA. Es wird über eine Freihandelszone USA-Mittlere Osten gesprochen. Die EU hat vor kurzem Abkommen mit Peru und Kolumbien abgeschlossen und forciert ökonomische Partnerschaften mit afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten. Was ist die Strategie hinter Freihandel?
Noam Chomsky: Das erste, was man dazu sagen muss, ist, dass es keine Freihandelsabkommen sind. Wenn man sich die Gesetze und Regeln der Abkommen anschaut, die ähnlich den Regeln der Welthandelsorganisation sind, dann stellt man fest, dass sie extrem protektionistisch sind. Sie enthalten Element von Liberalisierungen neben Elemente von massivem Protektionismus. Der Protektionismus zeigt sich z.B. im beispiellosen Patent-Schutzsystem, das niemals zuvor in der Geschichte existierte, und so weiter. Vieles davon hat nicht mal etwas mit Handel zu tun. Es geht schlicht um Privilegien für Investoren. Es gibt ein wenig Liberalisierung. Nun, Zölle zwischen diesen Staaten spielen keine große Rolle. Sie sind sehr gering und haben keine großen Effekte. Es sind vor allen Dingen Abkommen, die die Rechte von Investoren garantieren. Diese Abkommen haben alle möglichen Auswirkungen. Man kann sie überall begutachten, Austerität ist zum Beispiel ein Effekt. Nehmen wir das North American Free Trade Agreement, kurz NAFTA. Eine offensichtliche Konsequenz war die Zerstörung der mexikanischen Landwirtschaft. Mexikanische Campesinos, Kleinbauern, arbeiten zwar sehr effizient, aber sie können natürlich nicht mit den massiv subventionierten Agrounternehmen in den USA konkurrieren. NAFTA vernichtete also die Bauern und kleinen Unternehmen, weil sie nicht mit multinationalen Konzernen mithalten können. Daraus folgte, dass die Menschen über die Grenzen in die USA flohen. Es entstand also eine „Immigrationskrise“ – man nennt sie so, auch wenn ich nicht denke, dass wir eine derartige Krise haben. Nun, welchen Anteil an dieser sogenannten Krise hatte die zielgerichtete und bewusste Herstellung einer ökonomischen Krise in Mexiko, der die Menschen nur durch Flucht entkommen konnten? Einer war sich zumindest über diesen Effekt im Klaren. Es war Bill Clinton. Als NAFTA 1994 verabschiedet wurde, begann er unmittelbar mit der Militarisierung der Grenze. Das macht Sinn. Man erzeugt einen Flüchtlingsstrom. Dann sollte man auch gerüstet sein, die Menschen an der Flucht zu hindern. Es sind schlicht und ergreifend keine Freihandelsabkommen. Wir können über sie reden. Aber nicht in Begriffen des Freihandels.