24.03.2022
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Einleitung: 

Der Staat gebe grundsätzlich die Struktur des Marktes vor, so Noam Chomsky. Kapitalgesellschaften würden außerdem von Staaten privilegierte Rechte bekommen. Die neoliberale Wende habe diese Strukturen aber tiefgreifend verändert. Seit den 1980 Jahren seien der Arbeiter- und Mittelschicht durch Änderungen im Steuer- und Konzernrecht jährlich rund 1000 Milliarden Dollar gestohlen worden. Der Staatskapitalismus könne sehr verschiedene Ausprägungen annehmen. Da die Klimakrise in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren gelöst werden müsse, sei dies nur im Rahmen eines reformierten Staatskapitalismus möglich, ein grundsätzlicher Systemwechsel sei zwar notwendig, brauche aber mehr Zeit. Chomsky plädiert für einen ehrgeizigen Green New Deal, wie er ihn mit Robert Pollin in dem gleichnamigen Buch entworfen hat. "Wenn wir eine Erwärmung von 3 oder 4 Grad Celsius erreichen, sind wir wahrscheinlich am Ende. Kein organisiertes menschliches Leben wird auf diesem Niveau überleben." Die Regierungen sollten die Öl-, Gas- und Kohleindustrie aufkaufen, sie der Belegschaft übergeben und auf erneuerbare Energien umstellen: "Das ist morgen durchaus machbar". Allerdings sei selbst der unzureichende Green New Deal-Plan von Joe Biden  vom Clinton-Flügel der Demokratischen Partei gekippt worden. Die Klimakrise sei ein Klassenkonflikt von "kolossalem Ausmaß", die Klimabewegung stehe vor gewaltigen Herausforderungen. Der Kampf dürfe nicht jungen Menschen und indigenen Gemeinschaften allein aufgebürdet werden, Menschen mit Macht und Prestige müssen sich anschließen.

 

Gäste: 

Noam Chomsky, Prof. em. für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).

Nermeen Shaikh, Moderatorin beim US-Fernsehsender Democracynow

Transkript: 

Nermeen Shaikh: Professor Chomsky, wie würden Sie das sehen? Sie bezeichneten die aktuelle Ordnung als neoliberale Seuche. Was meinen Sie zu der von Fabian Scheidler beschriebenen trügerischen Freiheit der Märkte und dem Verhältnis von Staat und Märkten?

Noam Chomsky: Die Staaten geben die Struktur des Marktes vor, sie bestimmen die Art und Weise, wie Unternehmen geführt werden und weisen den Märkten ihren Platz in einem von Staaten gestalteten System zu. In gewissen Grenzen operieren die Märkte eigenständig und es findet freier Handel statt, aber diese Grenzen setzen die Regierungen. 

Das System geistiger Eigentumsrechte etwa steht, wie gesagt, im eklatanten Widerspruch zu freien Märkten und sichert den großen Unternehmen praktisch ein Preismonopol. Das Gleiche gilt für innere Struktur der Unternehmen und ihre Führungsgremien. Unternehmen verdanken ihr Dasein dem Staat. Wer eine Kapitalgesellschaft gründet, bekommt quasi ein Geschenk vom Staat, der sagt: „Wir gewähren Euch den Schutz der beschränkten Haftung.“ Das geht auf die Ursprünge der Kapital­gesellschaften vor Hunderten von Jahren zurück. Man bekommt also ein Geschenk vom Staat und im Gegenzug entscheidet der Staat, nach welchem System Unternehmen geführt werden.

Durch den Neoliberalismus kam es dabei zu einem regelrechten Bruch. Eine der Veränderungen, die er mit sich brachte, war die Einführung neuer Regeln für die Unternehmensführung. Sie erlaubte es den Firmenchefs, den Verwaltungsrat, der über ihre Vergütung entscheidet, selbst zu wählen. Die Vergütung besteht zum Teil aus dem Gehalt, zum Teil aus Aktienoptionen und allen möglichen anderen Bestandteilen. Sie wird vom Verwaltungsrat festgelegt. Nach den neuen Regeln durften die Vorstandsvorsitzenden sich die Mitglieder des Rats aussuchen. Den Rest können Sie sich denken: Die Managementvergütung ist natürlich durch die Decke gegangen. Einer der Hauptgründe für die extreme Verschärfung sozialer Ungleichheit im neoliberalen Zeitalter ist schlicht und einfach die sukzessive Anhebung der Vergütungen bei einem winzigen Anteil der Bevölkerung. Mit den Einkommen der CEOs und anderer Manager gingen auch die Gehälter von Universitätsrektoren und anderen Eliten steil nach oben.

Nur um Ihnen einen Eindruck davon zu geben: In den letzten 40 Jahren hat sich der Anteil, den 0,1 Prozent der Bevölkerung am Gesamtvermögen aller besitzen, von 10 auf 20 Prozent erhöht. In einer sehr aussagekräftigen Studie der Rand Corporation wird geschätzt, wie viel der Arbeiterklasse und der Mittelschicht gestohlen wurde, seit um 1980 die neoliberalen Grundprinzipien eingeführt wurden,, die die Regeln radikal änderten und unter anderem auch Steuerparadiese erlaubten. Die Gesamtkosten für die Arbeiterklasse und die Mittelschicht, die in der Studie als untere 90 % der Bevölkerung definiert werden, wurden auf 47 Billionen Dollar geschätzt. Das sind eine Billion Dollar pro Jahr, die der Arbeiterklasse und der Mittelschicht gestohlen werden, allein durch die Weichenstellungen hin zu einem neoliberalen System. Dadurch hat sich der Lauf der Dinge komplett verändert. Die Phase des reglementierten Kapitalismus, etwa vom Zweiten Weltkrieg bis in die späten 70er Jahre, war die größte Wachstumsperiode in der kapitalistischen Geschichte. Ökonomen sprechen auch vom goldenen Zeitalter des Kapitalismus, und es war ein egalitäres Wachstum, bei dem das untere Fünftel sogar ein wenig besser abschnitt als das Obere. Es gab keine Finanzkrisen, weil die Banken und die Finanzwirtschaft unter Kontrolle waren. Es gab keine Steuerparadiese, sie waren verboten, und das Finanzministerium sorgte für die Einhaltung des Verbots. Es war beileibe kein Paradies – alle von Fabian erwähnten Grundprobleme des Kapitalismus waren vorhanden. Aber sie traten anders in Erscheinung, genauso wie sie auch heute im sozialdemokratischen Norwegen andere Formen annehmen als im radikal neoliberalen Amerika. Staatskapitalismus ist immer Staatskapitalismus, aber er tritt in unterschiedlichen Formen auf.

Von den drängendsten Problemen unserer Zeit ist der Klimawandel das größte, wie Fabian schon sagte. Wenn die Erde drei oder vier Grad wärmer wird als vor der Industrialisierung, ist das wahrscheinlich das Aus. Es ist kaum vorstellbar, dass irgendeine Form organisierten menschlichen Lebens bei derartigen Temperaturen überleben kann. Die Experten sprechen von katastrophalen Folgen. Diese Gefahr rückt immer näher, also müssen wir etwas dagegen unternehmen. Die Klimarettung und die Überwindung des Kapitalismus können aber nicht im selben Zeitfenster stattfinden. Die Überwindung des Kapitalismus ist ein langwieriges Projekt. Dafür müssen erst die Voraussetzungen geschaffen werden, im öffentlichen Bewusstsein, in alternativen Institutionen, wie sie Fabian erwähnt hat, und so weiter. Um die Umweltkatastrophe aufzuhalten haben wir aber nur ein bis zwei Jahrzehnte. Das muss also größtenteils im Rahmen der heutigen staatskapitalistischen Institutionen geschehen. Zum Glück ist eine weitreichende Umbildung dieser Institutionen möglich, zum Beispiel im Rahmen eines Green New Deal. Die Version, die dem Kongress vorgelegt wurde, ist sehr vage und unbestimmt, aber es gibt viel konkretere Vorschläge. Einen davon hat der Wirtschafts­wissenschaftler Robert Pollin, ein Freund und Mitautor von mir, detailliert ausgearbeitet; unser gemeinsames Buch darüber ist kürzlich erschienen. Es handelt sich dabei um einen sehr detaillierten Plan, wie die wichtigsten Empfehlungen der Klima­forschung umgesetzt werden können: Senkung der Emissionen um etwa 50 Prozent in zehn Jahren, vollständige Nullemissionen bis 2050. Das lässt sich mit realistischen Maßnahmen und Methoden erreichen, die alle heute schon bekannt sind, und zwar mit einem Bruchteil der in der Pandemie ausbezahlten Staatshilfen, weit weniger als die Kosten des Zweiten Weltkriegs. Es ist alles verfügbar, alles möglich, mehr oder weniger im Rahmen der bestehenden staatskapitalistischen Institutionen – mit gewissen Anpassungen. Nehmen wir zum Beispiel die Kohle, öl- und Gasindustrie. Es spricht nichts dagegen, dass der Staat sie aufkauft, sie der Arbeiterschaft übereignet, die Nutzung fossiler Brennstoffe beendet und auf nachhaltige Energie umstellt. Angesichts der niedrigen Ölpreise sind die Kosten sehr überschaubar. Es ist völlig im Rahmen unserer Möglichkeiten und könnte jederzeit verwirklicht werden. Der Staatskapitalismus wird beibehalten, aber in einer stark veränderten Form. Das gilt allgemein für alle Vorschläge zum Green New Deal, die sorgsam ausgearbeitet sind und auf all dies im Detail eingehen, auch darauf, wie bessere und mehr Arbeitsplätze geschaffen werden können, und wie Menschen, die durch den Wandel zu einer nachhaltigeren Wirtschaft ihre Arbeit verlieren, aufgefangen werden können. Der Entwirf von Robert Pollin ist einer de Vorschläge, Jeffrey Sachs verwendet ähnliche Modelle und kommt zu ähnlichen Ergebnissen. Es kommt nur auf uns an. Die tiefliegenden Probleme des Kapitalismus werden bleiben, sie müssen gelöst werden, aber in einem längeren Zeitraum und mit anderen Ansätzen, wie Fabian sie schon erwähnt hat. Die selbstverwalteten Wirtschaftsmodelle zum Beispiel, die sich immer mehr ausbreiten, die Genossenschaften, regionale Kreisläufe in der Lebensmittelproduktion. Die Möglichkeiten, das überkommene System zu untergraben, auszuhebeln und zu überwinden, sind vielfältig. Aber wir haben dringende Probleme zu bewältigen. Die aus Bangladesch geflüchteten Menschen brauchen jetzt Hilfe, und nicht in ferner Zukunft. Erst vor ein paar Monaten gab es in Westbengalen und Bangladesch einen Wirbelsturm ungeahnten Ausmaßes, eine der prognostizierten Folgen der Erderwärmung. Weite Teile von Bangladesch standen unter Wasser. Ein Mega-Zyklon. Und so wird es weitergehen.

Die Meeresspiegel steigen. Das, was heute als Flüchtlingsproblem bezeichnet wird – was in Wirklichkeit, wie Papst Franziskus es ausdrückte, eine moralische Krise des Westens und keine Flüchtlingskrise ist – wird sehr bald noch viel größere Ausmaße annehmen. Wir müssen diese Krise im Wesentlichen mit den bestehenden Institutionen bewältigen. Alles andere ist zeitlich nicht möglich, und darüber müssen wir uns im Klaren sein. Es gäbe auch eine Menge über die Aufklärung und die neuzeitliche Geschichte zu sagen, aber das würde hier den Rahmen sprengen.

Nermeen Shaikh: Professor Chomsky, könnten Sie noch etwas mehr zur Klimakrise sagen, die nicht erst in der Zukunft bevorsteht, sondern bereits angefangen hat, und die sich wahrscheinlich noch beschleunigen wird. Sehen Sie irgendeine Form von politischem Willen, und wenn ja, wo, um die Art von Veränderungen, von denen Sie sprechen, und die Sie ja auch mit Zahlen illustriert haben, einzuleiten? Und welche Rolle kann Ihrer Meinung nach globaler Klimaaktivismus unter der Führung junger Menschen spielen, welche Bedeutung und welchen Einfluss könnte er haben?

Noam Chomsky: Er spielt eine große Rolle, auch im Hinblick auf den internationalen Klassenkampf, der sich gerade abspielt und für den das, was ich die reaktionäre Internationale im Weißen Haus nenne, und die kürzlich neu gegründete Progressive Internationale als Symbole gelten können. Dieser Kampf wird von großen zivilgesellschaftlichen Bewegungen und Kräften getragen.

Der Klimaaktivismus wird im Wesentlichen von zwei Gruppen angeführt. Die eine ist die Jugend, deren Sprecherin Greta Thunberg es in vielerlei Hinsicht mit einem Satz auf den Punkt gebracht hat: „Ihr begeht Verrat an uns". Sie hat recht, und sie meint uns. Ihr begeht Verrat an uns. Die zweite Speerspitze bilden die indigenen Völker. Sie setzen sich seit Jahren an vorderster Front für den Klimaschutz ein: die Indigenen in der westlichen Hemisphäre, die indigenen Völker in Südamerika, in Indien und überall auf der Welt. Sie haben sich mit großer Mühe das aufgebaut, was seit zehntausenden von Jahren ihre Existenzgrundlage ist: eine nachhaltige Beziehung zur Umwelt. Im brasilianischen Amazonasgebiet haben sie furchtbare Angriffe erlitten und stehen nun buchstäblich vor der Zerstörung.

Diese beiden Gruppen haben mit großem Einsatz versucht, uns von unserem Wahn zu befreien. Der Green New Deal ist in der einen oder anderen Form überlebenswichtig. Vor ein paar Jahren war er in den Vereinigten Staaten noch ein absolutes Randthema und wurde nicht ernst genommen. Jetzt steht er auf der Agenda der Gesetzgeber. Das ist das Ergebnis der Arbeit junger Menschen,. darunter eine kleine Gruppe, die Sunrise-Bewegung, die so weit ging, Abgeordnetenbüros zu besetzen. Sie erhielten Unterstützung von Alexandria Ocasio-Cortez, eine der jungen Abgeordneten, die auf der Bernie-Sanders-Welle in den Kongress kamen. Und von Ed Markey, einem Senator aus Massachusetts, der sich sein ganzes Leben lang für Umweltfragen eingesetzt hat. Sie haben es geschafft, daraus ein Thema für die Gesetzgebung zu machen. Jetzt geht es in die entscheidende Runde: Wird es umgesetzt werden? Die Republikaner reden natürlich nicht einmal darüber, sie wollen es einfach im Keim ersticken. Zugleich braut sich innerhalb der Demokratischen Partei ein Konflikt zusammen. Es ist sehr interessant, das zu beobachten. Unter dem Druck der Klimabewegung und des Wahlkampfteams um Bernie Sanders hatte die Biden-Kampagne einen, wenn auch nicht revolutionären, so doch halbwegs anständigen Klimavorschlag in ihr Programm aufgenommen. Das Nationale Komitee der Demokraten, also die Clintonisten, das spendenorientierte Segment, das in der Partei den Ton angibt, hat diesen Vorschlag gekippt. Man konnte das ganze Drama mitverfolgen. Noch im August 2020 lieferte eine Google-Suche nach „Klimaprogramm der demokratischen Partei“ das gemäßigt progressive Programm von Joe Biden. Einen Monat später war stattdessen ein Spendenlink für die Demokratische Partei angezeigt. Das Programm ist verschwunden. Ich bin nicht in die Interna eingeweiht, daher weiß ich nicht im Detail, wie das abgelaufen ist, aber man kann es sich denken. Es ist ziemlich naheliegend, dass die zum Clinton-Flügel gehörenden Wahlkampfmanager es vom Tisch genommen haben. Dieser Konflikt wird weitergehen, auch nach der Wahl. Bidens Programm war bei weitem nicht gut genug, aber das Programm des Nationalen Komitees hat nur Stillstand anzubieten.

Und genau da muss die Klimabewegung ansetzen. Es ist ihnen zwar gelungen, etwas ins Rollen zu bringen, aber es muss noch viel mehr getan werden. Und es ist einfach ein tragischer Verrat, die jungen Menschen und die indigenen Bevölkerungen damit allein zu lassen. Nicht sie sollten die Führung übernehmen müssen, sondern diejenigen, die Macht, Ansehen und ein gewisses Maß an Stabilität im Leben und im Beruf genießen. Und es muss schnell gehen, es kann nicht 200 Jahre warten. Es muss in den nächsten paar Jahrzehnten geschehen. Die großen Katastrophen kommen vielleicht erst in 100 oder 200 Jahren, aber die Ursachen müssen jetzt bekämpft werden. Die Klimakatstrophe passiert ja nicht von heute auf morgen, sie ist schleichend. Wenn ich hier bei mir in Arizona aus dem Fenster gucke, sehe ich schon seit Wochen keinen blauen Himmel mehr, sondern nur den Rauch von den Waldbränden, die in Kalifornien wüten. So weit ist es heute schon. Für mich ist es kein Weltuntergang, wenn der Himmel nicht blau ist, aber es deutet auf viel Schlimmeres hin, das uns noch bevorsteht. Und es wird diejenigen am schwersten treffen, die keine Schuld daran tragen: junge Menschen und arme Menschen, in Afrika und anderswo.

Die CO2-Emissionen, die das organisierte Überleben der Menschheit bedrohen, entstehen ja größtenteils in den reichen Ländern und innerhalb dieser Länder sind es die Reichen, nicht die Armen, die das meiste CO2 produzieren. Es handelt sich also um ein Klassenproblem kolossalen Ausmaßes, und wir müssen es als solches begreifen und es schnell und entschlossen angehen.