24.03.2022
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Einleitung: 

Um eine Chance zu wahren, die Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, müssen die Industrienationen ihre Emissionen um 80 Prozent bis 2030 senken. Das aber sei nur realistisch, so Fabian Scheidler, wenn neben der technischen Umstellung auf erneuerbare Energien auch die Überproduktion und der Überkonsum vor allem der reichen Schichten reduziert wird. Beispiel Verkehr: Neben der Änderung der Antriebe brauche es eine drastische Verkehrsreduktion durch öffentlichen Transport und andere Siedlungsstrukturen. Es gehe darum, eine progressive Vision für ein besseres Leben zu entwerfen, in der Bedürfnisse wie Mobilität mit einem viel geringeren Material- und Energieaufwand gedeckt werden. Die Klimakrise sei im Übrigen nicht die einzige Bedrohung des Lebens auf der Erde, das Artensterben sei ebenso gefährlich. Auch aus diesem Grund müsse die Überproduktion überwunden werden. Da ärmere Menschen ihren Verbrauch kaum einschränken können, gehe es darum, den oberen 20 Prozent, die für 80 Prozent des Umweltverbrauchs verantwortlich sind, Ressourcen zu entziehen und sie umzuverteilen. Dazu brauche es eine Konvergenz von ökologischen und sozialen Bewegungen, die sich gemeinsam auf kommende Krisen vorbereiten und politisch handlungsfähig werden.

Gäste: 

Fabian Scheidler, Buchautor, Journalist und Mitbegründer von Kontext TV. "Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation" wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen" (Piper 2021).

Nermeen Shaikh, Moderatorin beim US-Fernsehsender Democracynow

Transkript: 

Nermeen Shaikh: Fabian Scheidler: Wie können wir die Megamaschine anhalten und insbesondere die Klimakatastrophe verhindern, von der Professor Chomsky und auch Sie gesprochen haben.

Fabian Scheidler:  Ja, ich stimme Noam vollkommen zu, dass wir schnelle Lösungen brauchen, auch im Rahmen des kapitalistischen Systems. Und wir brauchen einen progressiven Green New Deal mit sehr ambitionierten Zahlen, der sofortiges Handeln beinhaltet. Klimawissenschaftler wie Kevin Anderson haben errechnet, dass wir in der industrialisierten Welt unsere Emissionen bis 2030 sogar um 80 Prozent zurückfahren müssen, um eine Chance zu haben, unter 2 Grad Erwärmung zu bleiben. Bezogen auf die Autoindustrie bedeutet das beispielsweise: Wenn es nur zu einem sehr schwachen Green New Deal kommt, dann werden die Verbrennungsmotoren lediglich durch dicke Teslas ersetzt. Wir wissen aber, dass Elektroautos bei ihrer Herstellung eine Menge CO2-Emissionen verursachen, insbesondere für die Batterien. Es ist also keine echte Lösung, die heutige Fahrzeugflotte einfach durch Elektroautos zu ersetzen. Sicher werden dadurch Emissionen vermieden, aber es bedeutet keinen Rückgang um 50 oder 80 Prozent bis 2030.

Es ist also ein Umdenken gefordert. Was Autos und Verkehr angeht, so gibt es eine ganze Reihe sehr detaillierter Vorschläge, die darauf abzielen, mehr öffentliche Verkehrsmittel anstelle von Autos einzusetzen. Es gibt zum Beispiel Städte in Spanien, wo in der Innenstadt keine Autos mehr fahren dürfen. Auch in Grenoble in Frankreich funktioniert das sehr gut. Es muss also ein wirklich zukunftsfähiger Plan her, der den Leuten eine positive Perspektive gibt. Wenn etwa Innenstädte zu autofreien Zonen erklärt werden, verbessert das die Lebensqualität und die Gesundheit; Kinder können auf der Straße spielen. Es geht darum, eine progressive Vision für eine bessere Welt zu entwerfen, in der Bedürfnisse wie Mobilität mit einem viel geringeren Material- und Energieaufwand gedeckt werden, zum Beispiel mit weniger Autoherstellung. Ich halte daher ein doppeltes Umdenken für nötig: Eine technische Revolution, die fossile Energieträger durch erneuerbare Energien ersetzt, und gleichzeitig Schritte hin zu einer Logik des besseren Lebens mit weniger materiellen Gütern. Schließlich findet heute eine enorme Überproduktion statt. Die Klimakrise ist auch nicht die einzige Folge. Wir haben das sechste große Artensterben in der Geschichte der Erde ausgelöst. Bisher gab es fünf Phasen des Massenaussterbens, die letzte vor 65 Millionen Jahren, als fast alle Dinosaurierarten ausstarben. Das heutige. menschengemachte Artensterben würde sogar ohne den Klimawandel stattfinden. Daher muss das ganze System der Überproduktion revidiert werden.

Ich stimme Noam im Übrigen darin zu, dass es hier um eine Klassenfrage geht, einen Klassenkampf, denn die Überproduktion und der Überkonsum gehen auf das Konto der reichsten 20 Prozent der Weltbevölkerung, überwiegend in den Industrieländern. Diese Menschen müssen ihre Produktion und ihren Konsum zurückschrauben. Die ärmeren Menschen haben nicht die Möglichkeit, noch weniger zu verbrauchen, höchstens die Art und Weise, wie sie konsumieren, können sie ändern. Wir müssen also einsehen, dass Klimagerechtigkeit auch Umverteilung bedeutet. Ressourcen müssen den Reichen entzogen und gerechter verteilt werden, damit acht Milliarden Menschen auf dieser Erde ein gutes Leben führen können, ohne sie zu ruinieren. Wir dürfen uns auch nicht einbilden, der Weg, der vor uns liegt, sei gerade und eben. Emanzipatorische Bewegungen müssen sich auf weitere Krisen wie die Finanzkrise oder die Corona-Krise einstellen. Und in solchen Krisen geraten auch die Eliten in Schwierigkeiten. Sie müssen rechtfertigen, warum sie riesige Geldsummen so einsetzen und nicht anders. In der Corona-Krise sind die staatlichen Hilfen an Boeing, die Fluggesellschaften, die Automobilbranche und die Wall Street gegangen. Das hätte nicht so kommen müssen. Besser vernetzte soziale Bewegungen hätten unter Umständen dafür sorgen können, dass dieses Geld anders eingesetzt wird. Aber aus Krisen lassen sich Lehren ziehen, um in der nächsten Krise stärker zu sein. Es gibt Anzeichen für ein solches Erstarken, etwa durch die Konvergenz der Bernie-Sanders-Wahlkampagne mit Black Lives Matter und der Klimabewegung, die schon vor der Pandemie sehr stark war und sicher wieder an Fahrt gewinnen wird. Dass diese Bewegungen ihre Kräfte bündeln, halte ich für sehr wichtig. Soziale Gerechtigkeit und Umweltschutz gehören zusammen. Die aktuelle Krise können wir nur lösen, indem wir beide Themen gleichzeitig angehen.