14.12.2012
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Einleitung: 

Antisemitismus und Philosemitismus hätten eine gemeinsame Basis: Sie seien beide unfähig, Juden als normale Menschen anzusehen, so die berühmte Antisemitismusforscherin Eleonore Sterling. Achcar spricht daran anknüpfend von einem zwiespältigen Philosemitismus. Im Nachkriegsdeutschland habe man sich damit vom "gelben Stern" reinwaschen wollen und die BRD ins westliche System integriert. Zudem zeigten zionistische Haltungen in Europa und den USA durchaus antisemitische Triebkräfte. So sei es offizielle Politik der Nazis und Hitlers bis 1941 gewesen, die Juden nach Palästina zu deportieren. Achcar weist darauf hin, dass die einzige nicht-nationalsozialistische Organisation, die nach der Machtergreifung in Deutschland bleiben durfte, die zionistische Bewegung war. Die Verquickung von Antisemitismus und Zionismus kennzeichne u.a. die Israel-Unterstützung Adolf Eichmanns, Konrad Adenauers und der christlichen Zionisten in den USA

Gäste: 

Gilbert Achcar: Politologe und Soziologe an der "School of Oriental and African Studies", University of London, Autor u.a. von "Die Araber und der Holocaust" und mit Noam Chomsky "Perilous Power"

Transkript: 

David Goeßmann: Ihrer Ansicht nach gibt es für die Deutschen zwei Wege, Lehren aus dem Völkermord der Nazis an den europäischen  Juden zu ziehen: Die eine ist: „Niemals wieder für sie, die Juden“. Die andere lautet einfach: „Niemals wieder“. Erläutern Sie die Implikationen dieser beiden Lehren.

Gilbert Achcar: Ich glaube nicht, dass ich der einzige bin, der dieser Ansicht vertritt. Viele jüdische Denker, Philosophen, politische Intellektuell, die dem Zionismus kritisch gegenüber stehen, haben das gesagt. Und zu Recht, denn man kann aus dem Holocaust zwei Lehren ziehen. Man kann eine eingeschränkte Lehre ziehen. Man kann die Sicht auf die Juden beschränken. Natürlich kann es keine Diskussion darüber geben, dass der nationalsozialistische Genozid an den Juden, den europäischen Juden, ein gigantisches Verbrechen war, eines der größten der Nazis, allerdings nicht das größte in Zahlen. Absolut wurden mehr Menschen an der russischen Front getötet, jedoch proportional zur Bevölkerung starben natürlich mehr Juden. Der jüdische Genozid ist vergleichbar mit dem gegen die Roma, die ja auch Opfer des Völkermords geworden sind. Man kann die Sicht also auf die Juden beschränken und sagen: „Das darf uns Juden“ oder „ den Juden nie wieder angetan werden.“ Wenn man ein jüdischer Hardliner ist, könnte man aus einer ethnischer Sicht sagen: „Das darf uns Juden nie wieder angetan werden. Ende. Die anderen sind uns egal“. Einige Deutsche sagen auch: „Das darf den Juden nie wieder angetan werden, denn der Holocaust ist unsere große nationale Schande. Diese Schande hat eine Schuld auf uns geladen, die wir jetzt, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieg, beständig ausdrücken müssen“. Es gibt übrigens ein sehr interessantes Buch eines israelischen Professors, Frank Stern, über die Art, wie man sich vom gelben Stern reingewaschen hat. Stern zeigt auf, wie der Philosemitismus zu einer Methode wurde, sich im Nachkriegsdeutschland von der Schuld reinzuwaschen und die BRD in das westliche System zu integrieren. Soweit zur ersten Lehre, die aus dem Holocaust gezogen werden kann. Eine andere Sichtweise, die wiederum von einer Vielzahl jüdischer Denker vertreten wird, ist die universalistische Sichtweise. Sie vertritt den Standpunkt, dass der Holocaust nicht nur eine Tragödie für die Juden ist, sondern eine Tragödie der gesamten Menschheit. Die universelle Lehre aus dem Holocaust lautet „Nie wieder“ ein derartiges System, solch eine Form von Totalitarismus, Rassismus, Rassentrennung, Unterdrückung, Mord und Genozid. Und wenn man diese Lehre zieht, dann kämpft man gegen Rassismus, gegen Unterdrückung, gegen die Verweigerung des Rechts auf Selbstbestimmung, gegen jegliche Besatzung, auch durch Staaten, die vorgeben, ein jüdischer Staat zu sein.

David Goeßmann: Der frühere deutsche Kanzler Konrad Adenauer hat in einem privaten Isreal-Besuch 1966 erklärt: „Auch ich war Teil der zionistischen Bewegung“. In einem Ihrer Bücher haben Sie aber auch eine antisemitische Aussage von Adenauer zitiert über die „Macht der Juden“. Für Sie ist Adenauers Haltung Beispiel für einen zwiespältigen Philosemitismus, mit dem Westdeutschland sich – wie sie schon sagten – in den Westen und in ein aggressiv-imperiales System einkaufte. Erläutern Sie, was meinen Sie damit?

Gilbert Achcar: Ich zitiere hier die ausgezeichneten Betrachtungen von Eleonore Sterling, deren Familie ebenfalls Opfer des Holocaust wurde. Sie sagte, dass Philosemitismus, im Kern...

David Goeßmann: Sie war eine bedeutende Antisemitismus-Forscherin.

Gilbert Achcar: ... Historikerin des Antisemitismus, natürlich eine der wichtigsten Expertin in dieser Frage. Sie sagte, dass Philosemitismus eigentlich Antisemitismus mit umgekehrten Vorzeichen ist. Philosemitismus ist umgekehrter Antisemitismus. Und was beide gemein haben, Philosemitismus und Antisemitismus, ist die Unfähigkeit Juden als normale Menschen zu betrachten. Beide behandeln Juden als unnormale Menschen. Entweder hasst man sie abnormal, oder man liebt oder verteidigt sie auf abnormale Weise. Kommen wir zu Adenauers Aussage, dass er ein Zionist gewesen sei. Es mag wieder empörend für Sie klingen: Aber wissen Sie, wer auch gesagt hat, er sei ein Zionist ?

David Goeßmann: Nein.

Gilbert Achcar: Adolf Eichmann. Während seines Prozesses in Jerusalem. Er hat gesagt „Ich bin ein Zionist“. Wörtlich. Was hat er damit gemeint? Er hat damit gemeint, dass er natürlich die Juden loswerden wollte, er wollte ein „judenreines Deutschland“ und bis 1941, bevor es zur „Endlösung“ kam, haben die Nazis die Juden deportiert. Die Politik war, sie raus zu schmeißen. Hitler selbst, wie Ian Kershaw und andere Historiker sehr deutlich erklärt haben, Hitler selbst wollte, dass die Juden nach Palästina deportiert werden und zwar nur nach Palästina. Er wollte nicht, dass deutsche Juden in die Vereinigten Staaten kommen. Weil sie dort Druck auf die Vereinigten Staaten oder England hätten ausüben können, Maßnahmen gegen Nazi-Deutschland zu ergreifen. Das war noch vor dem Krieg. Und bis 1941 war das die offizielle Politik. Und deshalb wollten sie die Juden loswerden und sie haben mit der zionistischen Bewegung zusammengearbeitet. Es gibt ein Buch vom Holocaust-Experten Professor Francis Nicosia zu dieser Verbindung zwischen Nationalsozialismus und Zionismus, eine sehr genaue wissenschaftliche Abhandlung, die niemand der Voreingenommenheit bezichtigen kann. Aber wenn man das Buch liest, ist man vom Umfang dieser Zusammenarbeit, von der die Leute nicht viel wissen, erstaunt. Die einzige nicht-nationalsozialistische Organisation, die nach der Machtergreifung in Deutschland bleiben durfte, war die zionistische Bewegung. Sie wurde toleriert, sie war akzeptiert, weil beide wollten, dass die Juden nach Palästina geschickt werden. Ich berichte immer wieder von meinen eigenen Erfahrungen, als mir dieses Probleme zum ersten Mal begegnete. Das war im Jahre 1967. Ich ging in Beirut zur Schule, im Libanon, das Land, in dem ich aufgewachsen bin. Ich kann mich an eine Diskussion mit einem französischen Mitschüler in jenem Jahr erinnern. Es war ein französisches Gymnasium. Und dieser französische Mitschüler verteidigte Israel 1967, den Sechs-Tage-Krieg, und wir hatten ein Streitgespräch. Das Argument, das er vorbrachte, um seine Unterstützung Israels zu erklären, habe ich nie vergessen. Er sagte: „Weißt Du, ich möchte niemals für einen jüdischen Chef arbeiten. Ich möchte, dass die Juden nach Israel gehen. Deshalb unterstütze ich Israel.“ Daran kann man sehen, dass es eine Form von Unterstützung des Zionismus gibt, die antisemitisch ist. Menschen wollen die europäischen und amerikanischen Juden loswerden und sagen: „Lasst sie nach Israel gehen“. Das ist die Triebkraft hinter einer der größten pro-israelischen Lobbygruppen in den USA, den sogenannten christlichen Zionisten. Ihre Ideologie ist im Kern antisemitisch. Sie glauben fest, dass es eines Tages zur geistigen Bekehrung der Juden kommen werde und sie zum Christentum konvertieren. Das ist die Art von Ideologie, die sie haben. Und trotzdem sind sie die treuesten Unterstützer Israels.