Gilbert Achcar: Politologe und Soziologe, Professor an der "School of Oriental and African Studies", University of London, Friedensaktivist, Autor u.a. von "Die Araber und der Holocaust" und mit Noam Chomsky "Perilous Power"
Die israelische Regierung hat die Bombardierung des Gazastreifens, bei der 170 Palästinenser und 6 Israelis getötet wurden, "Säule der Verteidigung" genannt. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sprach vom Recht Israels auf Verteidigung. Doch Besatzern das Recht auf Verteidigung gegen die Besetzten zuzusprechen sei absurd, sagt Gilbert Achcar. Gaza sei ein "Freiluftgefängnis". Die rechtsextreme Netanjahu-Regierung hätte aus Frustration darüber, von Obama kein grünes Licht für eine Bombardierung Irans bekommen zu haben, Gaza zum "Sündenbock" gemacht. Ägyptens Rolle im Konflikt habe sich unter Präsident Mursi nicht gegenüber dem Mubarak-Regime geändert. Waffenruhen lösten das Problem nicht. Um wieder Kontrolle über die Region zu erlangen, hätten die USA zudem ihr Bündnis mit den fundamentalistischen Muslimbrüdern aus den 60er Jahren erneuert.
Die überwiegende Mehrheit der europäischen Juden auf der Flucht vor den Nazis hätte es bevorzugt, nach Nordamerika zu emigrieren - aber die Tore waren verschlossen. "Einen Staat in einer Region, die bei Weitem nicht unbewohnt war, auf Kosten der ansässigen Bevölkerung zu gründen, war der Keim einer Tragödie, deren Früchte wir in den Jahrzehnten seit 1947/1948 ernten", sagt Achcar. Nach der vollständigen Besatzung Palästinas im Sechstagekrieg habe Israel ein internationales Abkommen nach dem Prinzip "Frieden gegen Land" kontinuierlich abgelehnt. Die vollständige Räumung der besetzten Gebiete und palästinensische Selbstbestimmung in den 22 Prozent des noch verbliebenen angestammten Gebietes sei jedoch Minimalbedingung für jede Friedenslösung. Zudem sei es wichtig, im "Krieg der Geschichtsschreibungen" zwischen Palästinensern und Israelis zu vermitteln.
Antisemitismus und Philosemitismus hätten eine gemeinsame Basis: Sie seien beide unfähig, Juden als normale Menschen anzusehen, so die berühmte Antisemitismusforscherin Eleonore Sterling. Achcar spricht daran anknüpfend von einem zwiespältigen Philosemitismus. Im Nachkriegsdeutschland habe man sich damit vom "gelben Stern" reinwaschen wollen und die BRD ins westliche System integriert. Zudem zeigten zionistische Haltungen in Europa und den USA durchaus antisemitische Triebkräfte. So sei es offizielle Politik der Nazis und Hitlers bis 1941 gewesen, die Juden nach Palästina zu deportieren. Achcar weist darauf hin, dass die einzige nicht-nationalsozialistische Organisation, die nach der Machtergreifung in Deutschland bleiben durfte, die zionistische Bewegung war. Die Verquickung von Antisemitismus und Zionismus kennzeichne u.a. die Israel-Unterstützung Adolf Eichmanns, Konrad Adenauers und der christlichen Zionisten in den USA
Israel und die USA drohen dem Iran weiter mit einem Militärschlag. Der Iran verfügt aber weder über Anlagen zum Bau für Nuklearwaffen, noch hat er nach amerikanischen Geheimdienstdokumenten ein Atomwaffenprogramm. "Wenn die USA also dem Iran mit Krieg drohen, wird Israel de facto ein nukleares Monopol in der Region zugestanden. Und das ist die beste Art, eine friedliche Lösung zu verhindern. Die USA könnten auch eine andere Politik verfolgen, nämlich Druck auf Israel ausüben atomar abzurüsten, ein Abkommen auszuhandeln, das der Iran mit Sicherheit annehmen würde, wie alle anderen Staaten in der Region, die einen atomwaffenfreien Nahen Osten wollen." Die Spannungen mit dem Iran würden zudem künstlich von den USA erzeugt, um ein Klima für lukrative Waffengeschäfte mit den benachbarten Öl-Monarchien zu erzeugen.
Fast zwei Jahre nach Beginn des Arabischen Frühlings zieht Achcar Bilanz: Es sei ein langfristiger revolutionärer Prozess. "Das ist nur der Anfang. Denn die Ursachen der Proteste waren nicht einfach die damals herrschenden Regierungen bzw. Regime sondern soziale und ökonomische Probleme. Das zentrale Problem war die Arbeitslosigkeit." Daran habe sich nichts geändert. In Ägypten setze die Mursi-Regierung die neoliberale Wirtschaftspolitik Mubaraks durch ein Übereinkommen mit dem Internationalen Währungsfond fort. In Bahrein fänden weiter große Demonstrationen statt, während Syrien im Bürgerkrieg versinke. "Man kann sicher sein, dass in Tunesien und Ägypten, wo alles seinen Anfang nahm, in Zukunft viele Umbrüche, Wechsel, Massenbewegungen, Mobilisierungen und Aufstände stattfinden werden."