27.02.2019
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Einleitung: 

Die britische Wirtschaft habe sich zu einer „Gig Economy“ verändert, in der entrechtete Scheinselbständige in einem Krieg „aller gegen alle“ gegeneinander konkurrieren. Nachdem sich auch die Labour Party unter Tony Blair in den 1990er Jahren der neoliberalen Agenda angeschlossen hatte, gab es für die Mehrheit der Briten jahrzehntelang keine echten politischen Alternativen mehr. Das EU-Referendum sei dazu genutzt worden, dem Establishment einen Denkzettel zu verpassen. Doch der Brexit könnte für die Mehrheit der Bevölkerung zu einer Katastrophe werden. Die drei Milliardäre etwa, denen der größte Teil der britischen Presse gehört, schüren durch Desinformationskampagnen Stimmung für einen harten Brexit, um ein regulatorisches Vakuum zu schaffen und Großbritannien näher an die deregulierte US-Wirtschaft zu rücken.

Gäste: 

George Monbiot, Kolumnist beim Guardian und Buchautor ("United People: Manifest für eine neue Weltordnung", "Hitze", "Out of the Wreckage. A New Politics for an Age of Crisis")

Transkript: 

Fabian Scheidler: Großbritannien war jahrzehntelang die Speerspitze neoliberaler Politik und hat seit der Finanzkrise 2008 einen noch schärferen Sparkurs eingeschlagen. Was hat sich seitdem verändert, wie sieht die gesellschaftliche Lage aus und welche Zusammenhänge sehen Sie dabei mit Erstarken der Rechten und auch mit dem Brexit?

George Monbiot: Wir leben in einer ziemlich verzweifelten und polarisierten Nation, in der die soziale Mobilität mehr oder weniger zum Stillstand gekommen ist und für die meisten Menschen auch die Löhne stagnieren. Wir erleben den Wandel zu einer „Gig Economy“, in der alle zu Scheinselbständigen werden, auch wenn sie weiter für die gleiche Firma arbeiten. Wir werden wirklich in eine Art Hobbes’sche Welt gezwängt, in der so getan wird, als herrsche der berühmte „Krieg aller gegen alle“. Und gleichzeitig führen wir Krieg gegen uns selbst, indem wir zu unseren eigenen Sklaventreibern werden, und uns selbst dazu antreiben, aberwitzige Vertragsbedingungen zu erfüllen, damit unsere vermeintlichen Arbeitgeber uns weiter Aufträge geben. Dadurch staut sich eine enorme Wut auf, gerade weil es jahrelang keine politischen Alternativen gab. Mit der jüngsten Entwicklung der Labour-Partei entstehen vielleicht wieder neue Alternativen, aber leider ist es in gewisser Weise zu spät, da wir ja schon diese schicksalhafte Wahl getroffen haben. Der EU-Volksentscheid war nämlich das erste Mal seit langer, langer Zeit, dass wir tatsächlich eine Wahl hatten. Wir durften wählen, ob wir alles beim Alten lassen wollten, oder dem Establishment - oder wem auch immer - einen ordentlichen Denkzettel verpassen wollten. Und was wird man da wohl machen? Wird man diese riesige Macht, die man da auf einmal bekommen hat, nutzen oder lieber darauf verzichten? Natürlich macht man davon Gebrauch! Für den Verbleib in der EU stimmen bedeutet, das ganze System bleibt wie es ist. Für den Austritt stimmen heißt, man stimmt immerhin für irgendeine Art von Veränderung. Was auch immer das sein wird. Nun könnte man ja hoffen, dass dies der Moment für tiefgreifende politische Veränderungen progressive Art wäre, aber stattdessen stecken wir in einer schier endlosen Diskussion über den Brexit fest. Die Gefahr ist, dass der Brexit für die meisten Menschen in diesem Land eine Katastrophe wird, während bestimmte schmutzige Branchen von dem Regelvakuum profitieren werden, das dadurch entsteht. Das sind düstere Aussichten; und es kommt hinzu, dass alle anderen wichtigen Themen dadurch aus dem Blickfeld geraten, weil alle wie verschreckte Kaninchen in die Scheinwerfer des heranrollenden Brexit-Lasters starren. Das Schlimmste ist ja, dass wir Gefahr laufen, ohne irgendein Abkommen aus der EU auszutreten. Also mitten ins Chao steuern.

Fabian Scheidler: Ihr Kollege Tom Whyman schrieb neulich in den York Times, man könne das Phänomen Brexit auch als Ablenkungsmanöver von den eigentlichen Problemen Großbritanniens sehen. Wobei hiermit die Sparmaßnahmen und ihre Folgen gemeint sind. Wie sehen Sie das? Dient der Brexit nur der Ablenkung und ist die EU nur der Buhmann für eine Reihe von hausgemachten Problemen?

George Monbiot: Es ist bezeichnend, dass Menschen auf die Frage, warum sie für den Austritt sind, immer antworten: „Wir wollen diese ganzen Regeln nicht mehr, die Regeln, die uns die EU diktiert.“ Aber wenn man sie dann fragt, welche Regeln, sagen Sie: „Naja... Die Regeln halt.“ Sie sind nicht in der Lage, eine einzige Regel zu nennen. Eine Analyse des gesamten britischen Rechts, die kürzlich veröffentlicht wurde, hat jedoch gezeigt, dass von ca. 40.000 Gesetzesvorschriften in Großbritannien 4000 EU-Recht sind, und dass alle bis auf 72 davon die Zustimmung der britischen Regierung hatten. All diese Regeln betreffen die Kontrolle von Unternehmen. Es geht immer darum, dass Firmen nicht beliebig viel Schwefeldioxid aus ihren Kohlekraftwerken freisetzen dürfen, oder nicht ungebremst mit exotischen Finanzprodukten spekulieren dürfen, die die ganze Wirtschaft gefährden. Keine dieser Regeln schadet einfachen britischen Bürgern. Sie beschränken nur das Verhalten einer kleinen Hand voll unsozialer Plutokraten oder Umweltsünder, aber uns schaden sie keineswegs. Aber uns wurde weisgemacht, dass uns diese Regeln unterdrücken – und zwar von denen, die davon betroffen sind. Auch hier ist wieder das Paradoxon der Verschmutzung am Werk. Die Lage ist wirklich ernst, und wir müssen uns auf einiges gefasst machen, denn die Milliardäre, die den Brexit unterstützt haben, wussten genau, was sie tun. Sie wussten auch, warum sie es tun. Sie wussten, was sie wollten, nämlich einen regelfreien Raum in einem hochentwickelten, reichen Land. Großbritannien ist ja – noch zumindest – ein reiches Land, und hier will man eine Spielwiese schaffen, auf der alles erlaubt ist. Das sind sehr beängstigende Aussichten.

Fabian Scheidler: Wollen diejenigen, die einen harten Brexit ohne Abkommen fordern, damit auch Großbritannien stärker an die USA als militärischen Verbündeten rücken?

George Monbiot: Mit Sicherheit. Sie reden von Souveränität und davon, unabhängig von der EU zu sein, aber nur damit wir uns dann den USA in die Arme werfen können. Sie ziehen die USA vor, weil dort genauso der Neoliberalismus die Vorherrschaft hat, und die Konzerne in allen Fragen ihren Willen bekommen, während die Interessen einfacher Leute, die Interessen der Natur und die Interessen künftiger Generationen außen vor bleiben. Genau das wollen sie ja. Es läuft also darauf hinaus, dass wir uns von der EU lossagen, um quasi ein zusätzlicher US-Bundesstaat zu werden. Denn natürlich werden uns die USA, anders als in der EU, kein politisches Mitspracherecht einräumen. Wir bekommen dort keine Stimme und werden auch keine Abgeordneten in den US-Kongress entsenden so wie bisher ins Europäische Parlament. Die Folge wird ein enormer Verlust an Volkssouveränität sein.

Fabian Scheidler: Sie schreiben auch über die Rolle von Oligarchien, die den Rechtsruck mit hohen Geldbeträgen finanzieren. Als weitere Akteure benennen Sie Medienkonzerne und auch den öffentlichen Sender BBC. Wie genau sind Superreiche und die großen Medien hier beteiligt?

George Monbiot: Um einen Medienkonzern zu besitzen muss man einfach ein Milliardär sein, und deshalb sind auch alle großen Medienunternehmen im Besitz von Milliardären. Sie sollen uns glauben machen, dass, was gut für Milliardäre ist, auch für alle anderen das richtige ist. Dazu stellen sie oft zu astronomischen Gehältern die besten Überzeugungs-künstler ein, die auf dem Markt zu haben sind, um uns einzureden, dass wir dasselbe zu wollen haben wie Rupert Murdoch, die Barclay-Brüder oder Lord Rothermere. Zum Beispiel Deregulierung, weitgehende Steuerfreiheit für Reiche oder Steueroasen, in denen jedes Geheimnis sicher ist. Oder verrückte Ideen, wie die im Telegraph immer wieder vertretene Ansicht, dass nur wer Einkommensteuer zahlt auch das Wahlrecht haben sollte. Alle Staatsgewalt geht vom zahlungskräftigen Volke aus. Das ist schon bemerkenswert.

Fabian Scheidler: Wem gehört denn der Telegraph?

George Monbiot: Den Barclay-Brüdern, diesen Milliardärszwillingen, die auf der Isle of Sark leben, einer der Kanalinseln, und in Monaco, und die an allen möglichen Branchen beteiligt sind. Es sind merkwürdige Menschen, denen man nicht unbedingt die Meinungsbildung in unserem Land anvertrauen möchte. Aber unsere Debatten werden von ihnen bestimmt und sogar die BBC, die angeblich so ein wunderbarer öffentlicher Sender ist, lässt sich ihre Themen faktisch von den Zeitungen vorgeben – die aber nicht die wahre öffentliche Meinung wiederspiegeln. Es wird ständig so getan, als seien sie die öffentliche Meinung, aber in Wahrheit sind sie das Sprachrohr von Milliardären. Eigentlich sollte jeder Artikel mit den Worten „Rupert Murdoch glaubt“ oder „Sir Frederic und Sir David Barclay glauben das und das und möchten, dass ihr dasselbe glaubt,“ beginnen. Aber ihre Namen tauchen in ihren eigenen Zeitung nie auf.