Kein Meer ist so gut überwacht wie das Mittelmeer, nicht nur von Frontex, sondern auch von der NATO und den Küstenwachen. Dass trotzdem so viele Menschen ertrinken, liegt, so Charles Heller von der Organisation „Watch the Med“, an unterlassener Hilfeleistung. Ein Beispiel ist der Tod von 72 Migranten, die im März 2011 vor der libyschen Küste ertranken, obwohl sie längst von der Seeüberwachung erfasst waren und mehrfach Kontakt mit Schiffen und Hubschraubern hatten. „Watch the Med“ dokumentiert Menschrechtsverletzungen durch Frontex und andere Grenzschutzbehörden, um damit den Weg für eine Strafverfolgung der Verantwortlichen zu ebnen.
Kontext TV: Die Organissation „Watch the Med“ hat sich zum Ziel gesetzt, Menschrechtsverletzungen durch Frontex und andere Grenzschutzbehörden zu dokumentieren und damit den Weg für eine Strafverfolgung der Veranwortlichen zu ebnen. Wir sprachen mit einem der Gründer der Organisation, Chris Heller, in Tunis.
Charles Heller: Der Hauptgrund für die Todesfälle ist die Schließung der Grenzen. Hier liegt die Ursache der politischen Gewalt gegenüber Migranten. Weil die Grenze verschlossen ist, müssen Migranten sie heimlich und unter Gefahren passieren. Daneben findet aber auf dem Meer unmittelbare Gewalt in verschiedener Form statt. Weil die Beihilfe zur Überquerung der Seegrenze strafbar ist, leisten verschiedene Akteure keine Hilfe, wenn Migranten in Seenot geraten. Es kommen auch Zusammenstöße der Küstenwache mit Migrantenschiffen vor. In vielen Fällen kommt zur politischen Schuld der EU am Tod der Migranten auf hoher See also noch eine direkte Schuld bestimmter Akteure. Der Ausdruck „Left to die“ meint die bewusste Nichtrettung von Migranten in Seenot, obwohl bekannt ist, dass diese dringend Hilfe brauchen – man lässt sie sterben. Ein solcher Fall unterlassener Hilfeleistung ereignete sich vor zwei Jahren: Am 27. März 2011 verließen 72 Migranten die Küste von Tripolis. Nach knapp 24 Stunden ging ihnen der Treibstoff aus und ihr Schiff begann auf dem Meer zu treiben. 14 Tage lang trieben sie in den am strengsten überwachten Gewässern der Welt – nämlich dem Seegebiet von Libyen, das zur Durchsetzung des damaligen Waffenembargos unter NATO-Aufsicht stand. 14 Tage lang litten die Migranten Todesqualen, ohne dass man ihnen zur Hilfe kam. Und das obwohl sie per Satellitentelefon einen Hilferuf an einen eritreischen Priester in Rom geschickt hatten, der diesen an die italienische Küstenwache weiterleitete, welche wiederum die maltesische Küstenwache und das NATO-Marinekommando in Neapel verständigte. Das Schiff wurde zweimal von einem Militärhubschrauber überflogen und nach 10 Tagen auf See, als die Hälfte der Migranten an Bord bereits gestorben und die anderen dem Tod nahe waren, vermutlich am 4. April, begegnete ihnen ein größeres Militärschiff, das ihre Not bemerkte und sie trotzdem nicht rettete. Nach mehr als 14 Tagen trieb das Migrantenschiff wieder an die libysche Küste. Von den 72 Menschen hatten nur neun überlebt. 63 Menschen fanden bei diesem Ereignis den Tod, obwohl man sie leicht hätte retten können. Dies ist ein eindeutiger Fall von unmittelbarer Verantwortlichkeit der beteiligten Akteure. In Zusammenarbeit mit verschiedenen NGOs und Politikern ist es uns gelungen, das Geschehen mithilfe von Satellitenbildern und einer Simulation der Schiffsroute zu rekonstruieren und wir konnten zeigen, dass diverse Akteure sie kontaktiert hatten, dass zu dieser Zeit über 40 Marineschiffe das Gebiet vor der Küste befahren hatten, und dass alle Beteiligten von der Notsituation wussten, den Migranten jedoch nicht zur Hilfe kamen. Dieser Fall hat sich im Rahmen einer außergewöhnlich hohen Seeüberwachung ereignet. Ähnliche Fälle direkter Verantwortlichkeit kommen aber auch im weniger intensiven tagtäglichen Krieg gegen die Migration vor. Am 11. April 2012 wurde erstmals vor einem französischen Gericht Klage gegen die französische Armee erhoben. Das Verfahren läuft noch und ein ähnliches ist in Italien anhängig. Auch in Spanien und Belgien werden demnächst Prozesse anlaufen. Anhand unserer Berichte wurden also in mehreren Ländern, die direkt an der NATO-Operation beteiligt waren, Verfahren angestrengt. Diese werden zwar mehrere Jahre dauern, aber wir hoffen, dass die Wahrheit über diesen Fall ans Licht kommt und entsprechende Urteile ergehen. Das Beste, was wir erwarten können, ist eine Anerkennung der Gewalt, vielleicht eine geringfügige Entschädigung für die Opfer und die Angehörigen der Verstorbenen. Darüber hinaus ist unser Ziel aber, alle Akteure zur See wissen zu lassen, dass es eine zivile Kontrolle gibt und die Straflosigkeit ein Ende hat.
Kontext TV: Gemeinsam setzen sich Menschrechtsorganisationen aus Europa und Afrika für eine andere Migrationspolitik ein. Im Mittelpunkt steht die Forderung nach einem Recht auf Bewegungsfreiheit für Migranten und die Abschaffung von Frontex.
...
Sinda Garziz: Unsere Hauptforderung in Tunesien ist eine Reform des Visumsrechts. Europäer können ohne Visum hier einreisen, ohne umständliche Anträge zu stellen, während wir auf eine Einreiseerlaubnis lange warten und viel Geld bezahlen müssen. Das ist ungerechtfertigt. Es ist eine ungleiche Behandlung. Entweder müssen Visa für Europäer eingeführt werden oder das System gehört abgeschafft. Man kann das als unrealistische Forderung abtun, der niemand Gehör schenken wird. Aber wir sehen das anders. Wir können mit kleinen Schritten anfangen, wie einer Stundung der Visagebühren. Das könnte ein Anfang sein. Schließlich fragt man sich, für wen wir da eigentlich bezahlen. Wir sind grundsätzlich gegen Visa auf der ganzen Welt. Aber wir wissen, dass wir schrittweise vorgehen müssen. Im Moment brauchen selbst Ägypter für Tunesien ein Visum. Vor ein paar Monaten kostete das umgerechnet knapp 300 Dinar. Mittlerweile liegt die Gebühr bei 1000 Dinar – eine drastische Erhöhung, und das für ein tunesisches Visum. Wir sind dagegen, dass unsere Regierung von Menschen aus Ägypten oder den Subsahara-Ländern Visa verlangt.
Charles Heller: Boats for People ist ein Netzwerk, das im Zusammenhang mit dem NATO-Einsatz in Libyen entstanden ist, in einer Zeit also, in der die Zahl der Mittelmeertoten so hoch war wie nie zuvor. Die Leute hatten genug, es mussten neue Aktionsformen gefunden werden. Eine Möglichkeit waren Klagen vor Gericht, eine andere die Erprobung neuer Arten der Mobilisierung. Im Sommer 2011 hat die Kampagne daher die „solidarity boats“ ins Leben gerufen, die zwischen beiden Seiten des Mittelmeers hin und her fuhren und dabei jeweils Aktionen veranstalteten. Das war ein wichtiger Schritt, um unser Netzwerk zu vergrößern und auch in den Medien lautstark auf dieses Problem hinzuweisen. Aber diese Unglücke, diese Rechtsverletzungen und Todesfälle passieren immer noch – nicht jeden Tag, aber so gut wie. Daher ist es notwendig, das Netzwerk von Organisationen auszubauen, Instrumente zur Dokumentierung von Unrecht auf dem Mittelmeer zu entwickeln und immer wieder die Reisefreiheit einzufordern, denn nur dadurch werden die Todesfälle und das Unrecht ein Ende nehmen. Das sind die wichtigsten Aufgaben des Netzwerks und zu diesem Zweck bauen wir die Online-Plattform WatchTheMed auf, die Berichte von Unrechtsfällen auf einer Karte verzeichnet, so dass man sagen kann: „Dieser Zwischenfall hat sich gerade hier ereignet“ oder „Genau hier ist ein Schiff in Seenot“. Ereignisse geographisch zu verorten ist unerlässlich, denn wir neigen dazu, das Mittelmeer als rechtsfreien Raum zu betrachten. In Wirklichkeit ist es aber in eine Vielzahl rechtlicher Hoheitsgebiete aufgeteilt, die sich überlappen und widersprüchlich definiert sind. Diese Zuständigkeitskonflikte sind eine unmittelbare Ursache der unterlassenen Seenotrettung. Ein Beispiel sind die Such- und Rettungszonen. Die Staaten besitzen in bestimmten Gebieten eine Rettungs¬verantwortung, aber sie haben auch unterschiedliche Versionen der diesbezüglichen Abkommen unterschrieben. Solche Zonen wurden eigentlich geschaffen, um sicherzustellen, dass Schiffen in Not geholfen wird. Faktisch werden sie aber missbraucht, um sich der Verantwortung zu entziehen. Wenn man aber weiß, wo sich ein Notfall ereignet oder ereignet hat, auf welchem Hoheitsgebiet, in wessen Zuständigkeitsbereich, in welcher Patrouillenzone, in Reichweite welchen Radars usw., dann kann man daraus ableiten, wessen Aufgabe es ist oder gewesen wäre die Migranten auf See zu retten und auch welches Land sie aufnehmen muss.
Yayi Bayam Diouf: Ich fordere die Abschaffung von Frontex. Diese Agentur hat schon so viele Mittel verschwendet. Hätte die EU diese Gelder in unsere Jugend investiert für Bildung, Ausbildung, Umschulungen für die Landwirtschaft, Viehzucht, Fischerei, dann würden diese jungen Menschen nicht mit Einbäumen nach Europa fahren, um zu sterben. Bei uns sagt man, wenn ich meinem Kanarienvogel nichts geben kann, kann ich meine Nachbarin fragen. Wenn die jungen Menschen bei uns Arbeit hätten, dann würden sie nicht mit ihrem Schicksal spielen und nicht riskieren, im Mittelmeer zu sterben.