Vor rund einem Jahr, im Januar 2011, begann in Ägypten der Aufstand gegen das Mubarak-Regime. Doch das Militär regiert ungebrochen weiter, nach wie vor mit massiver finanzieller Unterstützung der USA. In den letzten Monaten sind ägyptische Sicherheitskräfte gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen. Das Ergebnis: Dutzende Tote, Hunderte Verletzte und 12.000 Militärprozesse ohne rechtsstaatliche Standards gegen Zivilisten - mehr als je zuvor. Auch wenn der Militärrat nun angekündigt hat, die Notstandsgesetzgebung des Mubarak-Regimes in Teilen aufzuheben, ist es fraglich, ob das zu einer wirklichen Verbesserung der Bürgerrechte führen wird. In den nächsten Monaten soll eine Verfassung entworfen werden. Sharif Abdel Kouddous: "Das Militär hat keinen Zweifel daran gelassen, dass es seine Privilegien darin verankern möchte."
Sharif Abdel Kouddous: unabhängiger Journalist in Kairo, Korrespondent für das amerikanische Nachrichtenmagazin Democracy Now! und Fellow am The Nation Institute
David Goeßmann: Vor rund einem Jahr, im Januar 2011, begann in Ägypten der Aufstand gegen das Mubarak-Regime. Seitdem regiert das Militär in Kairo. In den letzten Monaten sind ägyptische Sicherheitskräfte gewaltsam gegen Demonstranten vorgegangen. Das Ergebnis: Dutzende Tote, Hunderte Verletzte und 12.000 Militärprozesse gegen Zivilisten.
Fabian Scheidler: Auch wenn der Sicherheitsrat nun angekündigt hat, die Notstandsgesetzgebung des Mubarak-Regimes in Teilen aufzuheben, wird von Menschenrechtsorganisationen bezweifelt, ob das zu einer wirklichen Verbesserung der Bürgerrechte führen wird. Während die Protestbewegungen zunehmend unter Druck geraten, haben islamischen und islamistische Gruppen bei den Parlamentswahlen Dreiviertel der Stimmen erlangt. Wirtschaftlich hat sich die Situation in Ägypten zudem verschlechtert, die Forderungen insbesondere der Gewerkschaften nach Mindestlöhnen und gerechter Besteuerung sind bisher nicht aufgenommen worden. Der frühere Leiter der Internationalen Atomenergieorganisation und Nobelpreisträger Mohamed el-Baradei zog vor kurzem wegen der anhaltenden Repressionen des Militärrats seine Kandidatur für das Präsidentenamt zurück. "Es findet kein Übergang zur Demokratie statt", sagt ElBaradei.
David Goeßmann: Unser Gast ist nun der unabhängige Journalist Sharif Abdel Kouddous in Kairo. Kouddous berichtet seit einem Jahr für das unabhängige amerikanische Nachrichtenprogramm Democracy Now über die Aufstände im arabischen Raum. Er ist Fellow am The Nation Institute in New York. Zudem schreibt er Kolumnen in unabhängigen ägyptischen und us-amerikanischen Zeitungen wie The Progressive, The Nation oder Egypt Independent. Welcome to Kontext TV, Sharif.
David Goeßmann: Im Januar 2011 begann die ägyptische Revolution, die schließlich zum Sturz von Präsident Mubarak führte. Was ist nach einem Jahr Ihre Bilanz dieser Revolution? Was ist in Sachen soziale Gerechtigkeit und politische Rechte erreicht worden? Gab es mehr als nur einen Austausch von Gesichtern?
Sharif Abdel Kouddous: Mit dem Sturz Hosni Mubaraks und seiner Vertrauten hat die Revolution sicherlich das erste große Hindernis überwunden. Dazu gehörte auch die Auflösung der Partei Mubaraks und des Parlamentes, dessen Zusammensetzung auf einer stark manipulierten Wahl beruhte. Seit der Machtübernahme durch den Obersten Rat der Streitkräfte am 11. Februar sind wir jedoch Zeuge einer systematischen Unterdrückung und Behinderung revolutionärer Kräfte geworden. Vorsitzender des Militärrates ist Feldmarschall Hussein Tantawi, der Mubarak 20 Jahre lang als loyaler Verteidigungsminister gedient hat. In einer seiner ersten Stellungnahmen nach der Machtübernahme hat der Militärrat den Demonstranten bedingungslosen Schutz zugesichert. Nur eine Woche später, am 25. Februar, brach er sein Versprechen, indem er einen Sitzstreik vor dem Kabinettsgebäude gewaltsam auflösen ließ. Seitdem gab es fast jeden Monat gewaltsame Ausschreitungen gegen Demonstranten. Besonders brutal war das Vorgehen gegen ein Sit-In auf dem Tahrir-Platz am 9. März: Teilnehmer wurden festgenommen und schwer geschlagen und einige Frauen sogar zu Jungfräulichkeitstests gezwungen. Diese Unterbindung jeder Art von Protest wurde das ganze Jahr über fortgesetzt. Vor allem in den letzten drei Monaten ist die Gewalt regelrecht eskaliert. Allein in dieser Zeit wurden ca. 90 Menschen bei Demonstrationen getötet. Der blutigste Tag des letzten Jahres war der 9. Oktober, an dem Soldaten eine Demonstration koptischer Christen angriffen und dabei 27 Menschen töteten und 300 verletzten. Einen Monat später kam es in der Gegend um den Tahrir-Platz, vor allem in der Mohammed Mahmut-Straße zu heftigen Zusammenstößen mit der Bereitschaftspolizei, bei denen diese fünf Tage lang ununterbrochen Tränengas einsetzte. Dabei kamen 45 Menschen zu Tode und Hunderte, vielleicht sogar Tausende wurden verletzt. Und vor kurzem dann die brutalen Einsätze vor dem Parlament, die längsten dieser Art, an denen die Armee und nicht die Bereitschaftspolizei beteiligt war. Soldaten haben dabei Demonstranten angegriffen und geschlagen. Jeder kennt das Foto von Soldaten, die auf eine Frau im BH eintreten. Solche Bilder haben die ganze Welt empört. Was also das Recht auf friedlichen Protest angeht konnten in Ägypten bisher kaum Fortschritte erzielt werden. Der Militärrat hat alles getan, um jeglichen Widerstand gegen seine Herrschaft zu ersticken. Große Fortschritte hat hingegen die Arbeiterbewegung gemacht. Mit Streiks und Sit-Ins, an denen in den letzten 10 Jahren zwei Millionen Arbeiter teilgenommen haben, hat sie die Grundlage für diese Revolution geschaffen. Der unter Abdel Nasser gegründete Gewerkschaftsverband überwachte lange Zeit unter Mubarak die Arbeiter, informierte den Staat über mögliche Streiks, anstatt die Arbeiter zu vertreten. Dieser Verband wurde aufgelöst und durch einen unabhängigen Gewerkschaftsbund ersetzt, der nun mehr als eine Million Mitglieder hat. Zu Beginn der Revolution gab es vier unabhängige Gewerkschaften, mittlerweile sind es mehr als 100. Trotz dieser großen Errungenschaften der Arbeiterbewegung bleiben zentrale Forderungen der Arbeiter wie Mindestlohn und Höchstlohn unerfüllt. Die Übergangsregierung hat zwar einen Mindestlohn eingeführt, dieser ist jedoch geringer als von den Arbeitern gefordert und wird in der Praxis auch kaum umgesetzt. Ein anderer Schlüsselaspekt ist der Umgang mit den Medien. Mubarak setzte ein ganzes Arsenal von Methoden ein, um die Opposition zu kontrollieren und unwirksam zu machen. Diese Repression wurde vom Militärrat auf die Spitze getrieben. In den 11 Monaten seit seiner Machtergreifung hat er Journalisten, die über Demonstranten berichteten, und kritische Reporter vor den Militärstaatsanwalt geladen. Er hat Blogger inhaftiert, darunter den bekannten Blogger Michael Nabil, der wegen "Verunglimpfung der Armee" zu drei Jahren Haft verurteilt wurde. Das Militär hat Razzien bei Fernsehsendern durchgeführt während diese auf Sendung waren, Zeitungen zensiert und Bücher aus den Regalen verbannt. Es versucht also, Informationen zu kontrollieren und bedient sich dabei ungeniert der staatlichen Propagandamaschine, die früher Mubarak und nun dem Obersten Rat der Streitkräfte und dem Militär als Sprachrohr dient. Es verteufelt die Demonstranten und versucht sie fortwährend als Handlanger einer ausländischen Verschwörung darzustellen, die den ägyptischen Staat zu Fall bringen will. Das Unerhörteste in diesem Jahr der Herrschaft des Militärrats waren wohl die militärgerichtlichen Prozesse. Von Januar bis Ende August/Anfang September wurden nicht weniger als 12.000 Zivilisten vor Militärgerichte gestellt. Diese Prozesse waren gemessen an internationalen Maßstäben unrechtmäßig und endeten in den meisten Fällen mit einer Verurteilung. Viele erhielten Freiheitsstrafen von mehreren Monaten oder gar Jahren. In dieser Zeit haben mehr Militärprozesse stattgefunden als in den fast 30 Jahren der Mubarak-Ära. Allgemein sind die Zustände gleich geblieben oder vielfach sogar schlimmer geworden. Was sich verändert hat ist die revolutionäre Grundstimmung der Menschen vor Ort, der Zivilgesellschaft, der Aktivistengruppen und der unabhängigen Medien. Überall kocht und brodelt es und der Militärrat wird kaum in der Lage sein, diese Revolution aufzuhalten, die nach nunmehr einem Jahr immer noch in vollem Gange ist. All die von mir erwähnten repressiven Maßnahmen sind auf starken Widerstand gestoßen. Trotz der Gewalt setzen die Menschen ihre Proteste fort, ohne sich einschüchtern zu lassen. Im Gegenteil: Sobald Übergriffe gegen Demonstranten bekannt werden, kommen noch mehr Menschen, um ihre Solidarität zu bezeugen. Das ist die gegenwärtige Atmosphäre. Wir beobachten auch eine neue, faszinierende Bewegung unabhängiger Medien. Der Militärrat übernimmt keinerlei Verantwortung, wenn Demonstranten zu Tode kommen. Selbst wenn eindeutige Beweisvideos für Schüsse auf Zivilisten vorliegen streitet er alles ab. Und die staatlichen Medien verbreiten diese Lügen natürlich. Aktivisten haben daher öffentliche Räume zurückerobert. In Städten überall im Land haben sie die Kampagne "Askar Kazibun" ins Leben gerufen, was so viel bedeutet wie "Die Militärs sind Lügner". Dabei werden auf Plätzen oder Bürgersteigen Videoleinwände aufgebaut, um abwechselnd Bildmaterial von Übergriffen des Militärs gegen Demonstranten und die Dementis des Militärrates abwechselnd zu zeigen. Daran schließen sich meistens Diskussionen oder Protestmärsche an. Jeden Tag finden mehrere dieser Aktionen in jedem ägyptischen Gouvernement1 statt. Auch bedienen sich die Aktivisten weiterhin sozialer Medien. Dieses Jahr war schwierig, aber auch entscheidend. Viele Aktivisten sprechen davon, die Revolution neu aufflammen zu lassen, um ihre Ziele weiter zu verfolgen. Anfangs richtete sich diese Revolution wirklich gegen das Regime Mubarak. Man forderte Brot, Freiheit und soziale Gerechtigkeit und wollte Mubarak vom Thron stoßen. Und ich glaube damals war vielen Menschen nicht bewusst, was heute offensichtlich ist, nämlich dass die Autokratie der letzten 60 Jahre in Ägypten durch das Militär aufrecht erhalten wurde. Im Moment radikalisiert sich die Revolution und nimmt das Militär ins Visier, um dessen eisernen Griff abzuschütteln. Dem Militär unterstehen 15 bis 35% der Wirtschaftsaktivität des Landes, ohne dass jemand genau sagen könnte wieviel, da alles im Verborgenen abläuft. Somit ist es ein autonomer Staat im Staate mit speziellen wirtschaftlichen und politischen Privilegien. In den nächsten Monaten soll eine Verfassung entworfen werden. Das Militär hat keinen Zweifel daran gelassen, dass es seine Privilegien darin verankern möchte. Darum dreht sich nun der Kampf, fast ein Jahr nach Beginn der Revolution.
David Goeßmann: Das ägyptische Militär wird noch immer massiv von der US-Regierung unterstützt. Ist das ein Thema in den Protestbewegungen und anderswo?
Sharif Abdel Kouddous: Ja sicherlich. Bekanntlich wird die Armee, die zivilen Gruppen vorwirft, Finanzhilfen aus dem Ausland zu erhalten, selbst mit 1,3 Milliarden Dollar von den USA unterstützt. Das Militär besitzt Fabriken, in denen Wehrpflichtige arbeiten. Es produziert Mineralwasser, Maschinenteile und Olivenöl und ist der größte Immobilienhändler Ägyptens. Die Armee hat die Wirtschaft im Würgegriff und viele ihrer Generäle und die Mitglieder des Militärrates genießen enorme Privilegien. Sie leben abgeschottet in eigenen Wohngebieten, wo sie zollfrei einkaufen können. Ihr Leben gleicht dem der Machthaber unter Mubarak, nur dass sie bisher stets entrückt und unangreifbar waren. Nun stehen sie im Licht der Öffentlichkeit und sind der Kritik ausgesetzt. Und wenn sie so hohe Finanzhilfen von den USA erhalten, sollte dieses Geld in die ägyptische Volkswirtschaft fließen. Wenn nicht, muss man die Finanzhilfen einstellen. Natürlich sind viele Ägypter mit der US-Außenpolitik und der Politik Israels nicht einverstanden. Sie waren gegen den Einmarsch im Irak und sind gegen die Belagerung des Gazastreifens. Dies alles wird als Schande für Ägypten angesehen. Der Gazastreifen ist von israelischem Staatsgebiet umgeben und grenzt sonst nur an Ägypten. Mubarak hat auf Wunsch der USA die Grenze abgeriegelt und damit die Belagerung ermöglicht. Diese Hintergründe spielen eine Rolle und daher glauben viele Ägypter, dass die Gelder für das Militär Mubarak gefügig machen sollten.