10.10.2013
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Einleitung: 

Seit Ausbruch der Finanzkrise sind etwa 30 Millionen Menschen in den USA aus ihren Häusern zwangsgeräumt worden – und die Räumungen gehen unvermindert weiter. Viele dieser Menschen sind obdachlos und leben in Zeltstätten oder improvisierten Camps in der Wüste. Hintergrund dieser sozialen Katastrophe sei die Aufblähung der Finanzmärkte, auf denen 14 mal so viel Geld zirkuliere wie das Weltsozialprodukt – Geld, das keinen realen Gegenwert habe, so Sassen. Um ihren Finanzprodukten einen Schein von Gegenwart zu verleihen, hätten Großbanken zahlungsschwachen Bürgern Hypotheken aufgedrängt und daraus komplexe Derivate hergestellt – mit verheerenden Folgen. Auch in Europa seien diese Finanzprodukte sehr verbreitet, allein in Ungarn gab es in eine Million Zwangsräumungen. In Städten wie Berlin würden außerdem immer mehr Menschen durch den wachsenden Raumbedarf globaler Eliten verdrängt.

Gäste: 

Saskia Sassen, Professor für Soziologie an der Columbia University, New York, Gastprofessorin an der London School of Economics, Autorin zahlreicher Bücher, darunter "The Global City"

Transkript: 

Fabian Scheidler: Seit 2006 wurden aufgrund der Immobilienblase ca. 30 Millionen Menschen in den USA aus ihren Häusern vertrieben. Diese Menschen sind, wie Sie einmal sagten, unsichtbar geworden. Wie ist die Lage der Zwangsräumungen in den USA und was macht die Betroffenen unsichtbar?

Saskia Sassen: Es sind 13 Millionen Haushalte, also wahrscheinlich noch viel mehr Menschen. Man muss auch sagen, dass nicht alle obdachlos werden. Einige ziehen einfach in billigeren Wohnraum um. Manche können vielleicht sogar aufgrund neuer Gesetze ihren Besitz zurückfordern, aber das ist nicht die Regel. Aber Sie fragen, inwiefern diese Menschen unsichtbar sind, nicht wahr? Teilweise sind sie unsichtbar, weil in die Viertel, in denen Häuser gepfändet wurden, niemand geht, denn sie stehen zur Hälfte leer. Die Kommunalregierungen, die fürsorglichen unter ihnen, haben Zeltstädte bauen lassen, aber auch dahin geht kein Außenstehender. Es ist verrückt, wie ein System in der Lage ist, enorme Missstände unsichtbar zu machen, obwohl sie sehr konkret sind. Ich finde das intellektuell gesehen sehr spannend und politisch sehr verstörend. Meinen Bachelor-Studierenden, den schlauen und etwas linken Studierenden in meiner Vorlesung über globalen Urbanismus zeige ich oft Videos von diesen Orten und viele können es nicht glauben. Sie können es nicht fassen, dass das in den USA sein soll: Ein Camp, das eher aussieht wie ein Flüchtlingslager, nur dass die Vegetation drum herum hübscher ist. Aber neben den von den Kommunen finanzierten Zeltstädten gibt es noch eine andere Art von Siedlung: die Platten-Städte in der Wüste. Sie werden so genannt, weil alte Autos oder Busse als Behausungen dienen, die man mit Steinplatten beschweren muss, damit der Wüstenwind sie nicht umbläst. Das gibt es auch. Und im Silicon Valley zum Beispiel gibt es ein großes Obdachlosenlager. Manche sind von der Immobilienkrise betroffen und manche sind einfach arbeitslos. Darunter sind auch qualifizierte Leute. Es gibt also unterschiedliche Erscheinungsformen, aber insgesamt ist es ein Phänomen von bedeutendem Ausmaß.

Fabian Scheidler: Und die Zwangsräumungen, die Pfändungen gehen immer noch weiter.

Saskia Sassen: Ja, die Zwangsräumungen gehen weiter, das stimmt. Und das Ziel mit dem man Menschen diese Kredite aufdrängte – das muss gesagt werden – war nicht die Schaffung von Wohnraum für einkommensschwache Haushalte, sondern die Schaffung eines Finanzinstruments. Einer Schätzung nach sind 14 komplizierte Schritte notwendig, um zu verschleiern, dass ein solches komplexes Finanzinstrument ein Haus, also einen materiellen Vermögenswert enthält. Der Wert dieses Hauses und der Wert der Hypothek waren völlig belanglos. Die technische Herausforderung bei der Konzeption dieses Instrumentes bestand darin, das Finanzinstrument vom Wert der Hypothek und des Hauses zu entkoppeln, denn dieses war wertlos. Deswegen war dieses Instrument auch so unfair, weil sie nichts wollten als die Unterschrift einer Familie, der sie eingeredet hatten, sie könne es sich leisten. Es war ihnen egal, ob sie zahlte, denn damit wurde kein Gewinn gemacht und das haben viele missverstanden. Daher kommt auch der Irrglaube, die Unverantwortlichkeit der Familien sei schuld, weil diese sich Häuser gekauft hatten, die sie sich nicht leisten konnten. So war es aber nicht. Höchstens am Anfang vielleicht. Das ist eine sehr brutale Geschichte. Irgendwann wurden sie einfach gedrängt, zu unterschreiben – „Ihr schafft das schon.“ Damit es funktionieren konnte, mussten in sehr kurzer Zeit sehr viele Verträge unterschrieben werden und so kamen insgesamt 15 Millionen dieser Verträge zustande – eine immense Zahl.

Fabian Scheidler: Nur wenige wissen, dass Pfändungen dieser Art nicht auf die USA beschränkt sind, sondern auch in Europa stattfinden. In Ungarn mussten eine Million Menschen und in Spanien 400.000 ihre Häuser verlassen. Erläutern Sie uns die Hintergründe dieser Vertreibung in Europa.

Saskia Sassen: Das Finanzinstrument, das dahinter steckt, wurde in den USA inzwischen verboten, weil es offensichtlich sehr „fehlerbehaftet“ ist, um es neutral auszudrücken. Es benachteiligt die schwächere Partei, d.h. die Kreditnehmer. Das hinderte es jedoch nicht daran, sich zu verbreiten. Dieses Instrument ist so perfekt weil es die abgehobenen Finanzkreisläufe mit den realen Vermögenswerten füttern konnte, die sie brauchten. Wie schon gesagt, das Finanzvermögen ist 14-mal so groß wie das weltweite BIP und das wurde selbst den obersten Financiers irgendwann zu unwirklich, sie brauchten zumindest den Anschein realer Vermögenswerte. Dabei war es aber unerheblich, ob die Menschen, die ein Haus kauften, es sich auch leisten konnten. Damit ist es ein geniales technisches Produkt. Es ist wie als man im Vietnamkrieg Napalm einsetzte, das mit Wasser nicht nur unlöschbar war, sondern dadurch sogar noch schneller brannte. Auch das war ein technisches Problem. Oder die Atombombe. Dieser Begriff des technischen Problems ist sehr wichtig. Alle möglichen klugen Köpfe arbeiten an einem technischen Problem – so war es auch mit den Hypotheken. Wir wissen jetzt, dass es in Ungarn mehr als eine Million Pfändungen gab. In meinem neuen Buch habe ich eine komplette Liste. Einige dieser Pfändungen sind nichts Ungewöhnliches,. aber dieser plötzlich Anstieg der Pfändungsfälle weist auf eine neue Entwicklung hin.

Fabian Scheidler: Auch in Berlin erleben wir eine Art Verdrängung oder Ausschluss aufgrund der derzeit steil ansteigenden Mieten. In einigen Bezirken haben sie sich verdoppelt und wir beobachten eine starke Gentrifizierung. Werden wir in 10 Jahren eine ähnliche Situation bekommen wie heute in London oder New York und was sind die Gründe?

Saskia Sassen: Über das Problem der Gentrifizierung habe ich schon in den 90ern geschrieben, es hat etwas mit der Existenz vielschichtiger globaler und hochgradig gewinnträchtiger Systeme zu tun, die sich vom Finanzsektor über die Kultur, die Designbranche und andere Bereiche erstrecken. Sie benötigen immer mehr Stadtfläche. Sie brauchen die Stadt als Betriebszone, weshalb mehr Besserverdienende Wohnraum beanspruchen, jedoch mit einer geringeren Dichte. Früher war das Zentrum von Manhattan deshalb viel enger besiedelt. Wo heute eine Familie wohnt, lebten früher vielleicht fünf. Auch Teile von London sind weniger gedrängt als vorher. Ich glaube, das passiert auch in Berlin: Vielleicht ist die Wohndichte geringer, aber der Fußabdruck ist größer. Das sind Menschen, die viel mehr Wohnfläche für sich zur Verfügung haben. Und das gehört auch zur Gentrifizierung, also passieren zwei Dinge: Die Gentrifizierung selbst und die Beanspruchung von mehr Wohnraum durch Einzelne.