10.10.2013
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Einleitung: 

Bei der radikalen Verarmung von Ländern wie Griechenland und Spanien gehe es nicht nur um wachsende soziale Ungleichheit, sondern um eine Form der Vertreibung, sagt Saskia Sassen. Immer mehr Menschen würden im Wirtschaftssystem nicht mehr gebraucht und daher dauerhaft ausgeschlossen. Das gelte auch für die USA, wo große Teile der Bevölkerung im Gefängnissystem verschwinden. Um Investoren anzuziehen und die Lage schönzurechnen, würden einfach die Grenzen des Systems neu definiert, ein erheblicher Teil der Bevölkerung werde gar nicht mehr mitgezählt. So fallen etwa Langzeitarbeitslose vollständig aus den Statistiken heraus – sie werden unsichtbar. Eine zentrale Rolle bei diesem Prozess spielen die Finanzmärkte, die in immer neue Bereiche vordringen.

Gäste: 

Saskia Sassen, Professor für Soziologie an der Columbia University, New York, Gastprofessorin an der London School of Economics, Autorin zahlreicher Bücher, darunter "The Global City"

Transkript: 

Fabian Scheidler: Willkommen bei Kontext TV, Saskia Sassen.

Saskia Sassen: Danke für die Einladung.

Fabian Scheidler: In Ihrer Forschung beschäftigen Sie sich mit unterschiedlichen Formen des Ausschlusses und der Vertreibung, wie der Zwangsräumung von Eigenheimen, Massenarbeitslosigkeit in Südeuropa oder dem Landgrabbing. Was haben diese Phänomene gemeinsam und warum sprechen Sie von Vertreibung?

Saskia Sassen: Ich war es leid, dass immer nur von „wachsenden Ungleichheiten“ oder „steigender Arbeitslosigkeit“ die Rede war. Also ging ich der Frage nach, ob es sich nicht um eine Form der Vertreibung handele. Sozusagen ein: „Raus mit euch!“ Es geht dabei nicht einfach um soziale Ausgrenzung, denn die findet im System statt. Vielmehr um eine immer größere Zahl systemischer Gräben innerhalb eines Landes oder einer anderen Einheit. Der Begriff Expulsion, also Ausschluss oder Vertreibung, soll dabei einen erheblichen Unterschied kennzeichnen, eine Verschlechterung. Es ist schlimmer als nur „wachsende Ungleichheiten“, denn hier werden Menschen, Orte oder kleine Betriebe aus dem System ausgeschlossen.

Im Falle Griechenland konnten der IWF und die EZB im Januar behaupten: „Die griechische Wirtschaft verzeichnet wieder ein langsames Wachstum.“ Sie verschweigen dabei, dass 30% der Arbeiter, der kleinen Orte oder Betriebe nicht mitgezählt werden. Das führt dazu, dass Investoren sagen: „Sieht ja wieder ganz gut aus. Wir können wieder einsteigen.“ Was sie schon im eigenen Interesse nicht täten, wenn sie das Gesamtbild betrachteten. Die Modalitäten der Vertreibung sind von Land zu Land unterschiedlich. Griechenland hat wirtschaftlich eine dramatische Wendung genommen. In den USA sind hingegen viele Leute im Gefängnis gelandet. Und wenn sie freikommen, sind sie höchstwahrscheinlich arbeitslos. Auch das ist eine Art von Ausschluss oder Vertreibung. Er passiert innerhalb eines Landes, zieht aber die Entstehung eines systemischen Grabens nach sich. Keine zwischenstaatliche Grenze, sondern ein Graben im System. Deshalb ist unsere Epoche aus meiner Sicht von einer Vermehrung systemischer Gräben geprägt.

Fabian Scheidler: Sie sagten einmal, ein neuer Abschnitt der Geschichte sei angebrochen. Während die Nachkriegszeit, sozusagen die keynesianische Phase, zumindest im Westen überwiegend auf die Einbeziehung von Menschen in die Wirtschaft ausgerichtet war, sei man nun zu einem System des Ausschlusses übergegangen. Worin besteht der Unterschied?

Saskia Sassen: Die, wenn man so will, keynesianische Wirtschaftsform begann bereits vor dem zweiten Weltkrieg und danach wurde sie immer stärker. Sie beruht auf Massenproduktion und Massenkonsum. Das System brauchte Menschen, also wurden sie integriert. Nicht weil das System so menschenfreundlich wäre, sondern weil seine Funktionsweise, seine Systematik nicht ohne Menschen als Arbeiter und Konsumenten auskam. Trotzdem gab es natürlich Diskriminierung und manche bekamen nie einen Job, aber die Volkswirtschaften und ihre Beziehungen zu den Menschen waren anders organisiert als heute.

Fabian Scheidler: Sie erwähnten Griechenland. In vielen anderen südeuropäischen Ländern ebenso wie in Irland werden Menschen durch Sparprogramme, wie sie auch die Regierung Merkel forciert, in die Arbeitslosigkeit gedrängt. Auch das bezeichnen Sie als Ausschluss. Worum geht es dabei? Warum findet dieser Ausschluss statt?

Saskia Sassen: Ich glaube weil sich unsere Volkswirtschaften stark verändert haben. Viele Aktivitäten, die früher für Arbeitsplätze sorgten, wurden in andere Teile der Welt verlagert oder ganz eingestellt. Sie werden jetzt von Maschinen erledigt. Es gibt wirklich immer weniger Jobs. Und selbst wenn Arbeitsplätze entstehen sind es immer noch zu wenig, gemessen an der Gesamtzahl der Bevölkerung. Auch wenn die Wirtschaft wächst, bietet sie weniger Menschen Platz. Das aber wird nicht berücksichtigt, auch nicht wenn man in den USA erklärt, die Wirtschaft habe wieder Fahrt aufgenommen. Mag sein, aber weite Teile der Bevölkerung bleiben dabei gänzlich außen vor und das nenne ich Ausschluss. Griechenland ist extrem, aber auch in Spanien passiert das. Ich habe eine Gruppe begleitet, die von Madrid in ein verlassenes Dorf auf dem Land gezogen ist und dort in zwei Jahren einen funktionierenden Wirtschaftskreislauf aufgebaut hat. Sie haben die leerstehenden Häuser repariert und begonnen, die Felder zu bestellen. Aber sie werden nicht mitgezählt. Jetzt vielleicht indirekt, weil sie ein Einkommen erzielen, aber es ist alles eher informell. Da bewegt sich etwas.

Jedes Land hat seine eigenen Modalitäten. In Deutschland sind es die „schrumpfenden Städte“, oft sind es auch entvölkerte Städte. In den USA sind 7 Millionen Menschen im Strafvollzugssystem gefangen. Zwei Millionen sind im Gefängnis, aber weit mehr stehen in irgendeiner Form unter Aufsicht. Sie werden so bald keine Arbeit finden, weil sie gebrandmarkt sind – als hätten sie einen Stempel auf der Stirn. Und Langzeitarbeitslose fallen irgendwann aus der Statistik. Sie werden nicht mehr mitgezählt. Sie verschwinden. Sie werden verstoßen. Wir haben riesige Datenmengen, die belegen, dass die Wahrscheinlichkeit, einen Job zu finden, sinkt, je länger jemand arbeitslos ist. Und wir beobachten, dass immer mehr Menschen mit über 30 noch nie eine Arbeit hatten. Vielleicht haben sie ein bisschen mit Drogen gedealt oder dergleichen. Wie können wir das als bloßen Anstieg der Ungleichheit oder Arbeitslosigkeit verbuchen? Die Entwicklung ist viel tiefgreifender. Hinzu kommt, dass es eine der Aufgaben des Finanzsektors ist, die Wirtschaft gut aussehen zu lassen, damit Investoren kommen. Und denen sagen sie: Kauft unsere Finanzinstrumente, damit ihr in diesen Markt investieren könnt. Das gehört auch zur Geschichte. Die Politik will ebenfalls zeigen, dass es bergauf geht. Viele Akteure haben also ein Interesse daran, die Grenzen des Systems so zu definieren, dass es aussieht, als stünde man etwas besser da.

Fabian Scheidler: Sie haben einmal gesagt, dass es im Finanzwesen nicht um Geld, sondern um Fähigkeiten gehe.

Saskia Sassen: Schön, dass Sie das bemerkt haben.

Fabian Scheidler: Was meinten Sie damit?

Saskia Sassen: Man muss sich vor Augen führen, dass alle Finanzvermögen zusammen einen Wert von über einer Billiarde Dollar haben – das sind eine Menge Nullen, das ist tausendmal mehr als eine Billion. Wir wissen, dass dieses Geld nicht real existiert. Wir haben so viel Geld nicht, es ist einfach nicht vorhanden. Dem kann man eine andere Zahl gegenüber stellen, nämlich das weltweite Bruttoinlandsprodukt, das gerade wieder gestiegen ist und jetzt etwa 60 Billionen Dollar beträgt. Das heißt, das Finanz¬vermögen ist 14mal größer als das Welt-BIP. Das BIP ist ein Maß für das, was wir Wirtschaft zu nennen pflegen. Aber das Finanzwesen misst überhaupt nichts. Also geht es in den Finanzmärkten meines Erachtens um Fähigkeiten, um die Fähigkeit, die unmöglichsten Dinge in Finanzobjekte zu verwandeln. Dabei passiert zweierlei: Zum einen müssen Finanzinstrumente entwickelt werden. Zum anderen müssen diese Instru¬mente in alle möglichen gesellschaftlichen Bereiche ein¬dringen, mit denen sie ursprünglich nichts zu tun haben. Der neuste Trend in den USA ist es jetzt, aus Arztrechnungen Finanzderivate zu machen! Darauf muss man erstmal kommen. Aber als man vor 15 Jahren anfing, Autokredite zu verbriefen, dachte auch niemand, dass so etwas funktionieren würde. Doch bei Millionen von Autokrediten geht das. Derjenige, der diesen Kredit aufgenommen hat, denkt, das sei nur sein kleiner Kredit. In Wirklichkeit wird dieser Kredit gebündelt und verbrieft und keiner weiß, was dann daraus wird. Das beste Beispiel sind die etwa 40 italienischen Kommunen, die letztes Jahr bemerkt haben, dass ihre Bankdarlehen in Wahrheit keine Darlehen sondern Derivate waren. Der Wert eines solchen Derivats leitet sich von anderen Werten ab und oft sind es sehr lange Ketten. Die Kommunen waren alle bereit, die monatlichen Zahlungen zu leisten. Aber auf einmal fiel alles in sich zusammen, weil das Derivat fehlschlug. Sie hatten also nichts, sie bekamen kein Geld und waren ärmer als vorher. Das ist die Macht des Finanzwesens. Einerseits weiß man, wenn man die Zahlen sieht, dass es nicht um reales Geld geht, dieses Geld gibt es nicht. Andererseits muss man sagen: alle Achtung - das ist eine enorme Fähigkeit. Keine Fähigkeit im Sinne von Amartya Sen, der es positiv meint, sondern im negativen Sinne. Es ist eine gefährliche Fähigkeit. Wenn damit das Bedürfnis verbunden ist, in gesellschaftliche Bereiche einzudringen, dann sollte wer immer in der Regierung ist, aufpassen.

Die Subprime-Kredite sind ein Beispiel für ein solches Eindringen, das hohe Kosten für viele Menschen verursacht und das Vertrauen in den Finanzsektor erschüttert hat, als diese Immobilien gepfändet wurden. Das war ein echter Bumerang-Effekt, der Finanzsektor war zu weit gegangen. 50 Millionen Verträge in so kurzer Zeit mit einem so sichtbaren Gegenstand wie einem Haus – und am Ende der Bankrott. Sie haben wirklich ein paar Jahre lang viel Geld verdient aber dann war es vorbei und sie sind in andere Länder weitergezogen. Das meine ich mit Fähigkeit.