06.01.2020

Systemwechsel – was ist das? Antwort auf eine Frage der Nachdenkseiten

Von: David Goeßmann

Die Nachdenkseiten fragten vor kurzem ihre LeserInnen: „Systemänderung – was ist das? Wie soll das neue System aussehen?“. Wir veröffentlichen hier, anschließend an die Frage der Nachdenkseiten, die Antwort von Kontext-TV-Mitbegründer David Goeßmann.

Die Redaktion der NachDenkSeiten erreichen des Öfteren Mails mit zurecht sehr kritischen Bemerkungen zu den jetzigen Zuständen. Die Leseräußerungen enden dann oft im Stoßseufzer: Ohne Systemänderung gehts nicht! In Bezug auf dringliche aktuelle Probleme heißt es in der Ankündigung eines neu erschienenen Buches: „Ohne Systemwandel werden Umweltzerstörung und Klimawandel nicht aufzuhalten sein.“. Manche Leser ermahnen uns , wir sollten uns keine Mühe geben mit unseren Verbesserungsvorschlägen. Ohne ein anderes System sei alles zwecklos. Mit diesen Einlassungen können wir leider in der Regel nichts anfangen …

… wenn die Forderung nach Systemwandel nicht wenigstens mit dem Versuch gekoppelt ist, zu beschreiben, wie das andere System aussehen soll, und d. h. eigentlich auch zu beschreiben, wie das jetzige (angebliche) „System“ definiert ist, und durch welchen Wandel das neue System ein neues System werden soll, was im neuen System anders sein soll.

Wir können uns eine andere Gesellschaft durchaus vorstellen und könnten auch beschreiben, was anders gemacht werden sollte, um diese bessere Gesellschaft zu erreichen. Darüber schreiben wir tatsächlich häufig, zum Beispiel in der vor kurzem begonnenen Reihe über notwendige und wichtige programmatische Vorstellungen (siehe hier und hier). Aber was im Zusammenhang mit Überlegungen zur anderen Gestaltung der Verhältnisse mit einem anderen „System“ gemeint sein soll, verstehe ich jedenfalls nicht. Nennen wir einfach mal ein paar Möglichkeiten beim Namen:

Kein privates Eigentum an den Produktionsmitteln, also öffentliches Eigentum. Soll das die Lösung sein? Oder Unternehmen und Betriebe im Eigentum der dort arbeitenden Menschen. Oder genossenschaftlich organisiert. Kein Wettbewerb, kein Markt. Keine Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverhältnisse. Keine Hierarchien.

Die Beschreibung ist dünn. Welche sonstigen Vorstellungen haben die Befürworter des Systemwandels vom angestrebten „System“? Was macht das System aus, was macht den Wandel des Systems aus? Das würde schon mal interessieren. Einfach nur drauf los reden geht nicht. So kann man sich allenfalls emotional hochgeigen. Man kann sich untereinander per Zuruf bestätigen. Aber in der Sache bringen diese Sprüche nichts.

Sehr geehrte Nachdenkseiten-Redaktion,

Sie fragten Ihre LeserInnen jüngst auf Ihrer Homepage: „Systemänderung – was ist das? Wie soll das neue System aussehen?“. Sie geben einige mögliche Änderungen selbst an: Eigentümerschaft ändern, keine Hierarchien in den Wirtschaftsbetrieben, keine Märkte und Wettbewerb, sagen aber zugleich, dass diese Beschreibungen zu dünn seien (in den Leserzuschriften oder allgemein bleibt offen). Sie wären interessiert an richtigen Erklärungen, statt „nur drauf los reden“. Sie wollen keine Sprüche, sondern Diskussion „in der Sache“. Ich möchte dazu einige Anmerkungen machen.

Unklar bleibt, was an welchen Beschreibungen genau von Ihnen als zu dünn befunden wird. Ich kann auch nicht recht sehen, weshalb man der Diskussion über eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus pauschal vorwerfen muss, nur Slogans in den Raum zu werfen.

Man stelle sich vor, zu Feudalzeiten hätte man Menschen, die sich für  „Systemwechsel“ aussprachen, ähnliche Vorhaltungen gemacht. Sie hätten auf Ihre Fragen wohl geantwortet: Enteignung der Feudalherren, Bürgerrechte, freies Unternehmertum, Parlament, Verfassung. Wenn sich ein „Systemwechsler“ heute in die lange Tradition von Antikapitalismus stellend fordert: Enteignung der Kapitalisten, selbstverwaltete Mitarbeiterbetriebe von unten ohne Management und Privateigentümer (1848 hieß das „freie Arbeiterassoziationen“), solidarischer Lohn für alle Arbeiten (Marx: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“), partizipative Wirtschaftsplanung mit Arbeiter- und Konsumentenräten, echte Demokratie (im Sinne einer Räterepublik), internationale Kooperation: geigt er sich dann nur mit Slogans hoch?

Seit rund 200 Jahren werden Fragen nach einer nicht-kapitalistischen, gerechten und demokratischen Wirtschaftsordnung zum Wohle aller diskutiert, Antworten geliefert, grundsätzliche institutionelle Änderungen gefordert. Nicht nur in Worten. Doch Arbeiterassoziationen, selbstverwaltete Betriebe, Räterepublik, der kurze Sommer anarchistischer Arbeiter- und Bauerversorgung in Spanien, radikale Arbeiterbewegungen,sozialistische bzw. anarchosyndikalistische VordenkerInnen, moderne Wirtschaftsdemokratie usw. wurden erbittert bekämpft (von Vertretern des Staatskapitalismus, faschistischer Regime und des Staatssozialismus gleichermaßen). Es ist also keineswegs so, dass wir uns beim „Systemwechsel“ im luftleeren Raum bewegen und Kapitalismuskritiker bei den Alternativen endlich mal „Butter bei die Fische“ geben müssten.

Die Antworten auf die Fragen werden zudem naturgemäß, wenn man so will, dünn bleiben müssen. Denn bei der Beschreibung eines nichtkapitalistischen Systems kann es nur um allgemeine Prinzipien gehen und ein grobes Verständnis davon, wie die Gesellschaft anders organisiert werden sollte. Einen Masterplan für den Systemwechsel und das neue System vorzulegen ist eine absurde Unternehmung. Niemand kann das ernsthaft verlangen. Selbst die kapitalistische Weltordnung wurde nicht vom grünen Tisch aus geplant und dann einfach umgesetzt. So läuft historische gesellschaftliche Veränderung nicht ab.

Die Rede von einem besseren System und Systemwechsel macht natürlich nur Sinn, wenn man voraussetzt, dass das gegenwärtige System ersetzt werden sollte – weil die Effekte derart negativ sind. Warum reichen Reformen am System aber nicht aus? Die kurze Antwort darauf: Ein gezähmter, reformierter Kapitalismus ist sicherlich besser als ein wild-zerstörerischer. Aber es ist nie mehr als eine Schadensbegrenzung, wobei Werte wie Demokratie, Gerechtigkeit, Freiheit und Kreativität für alle oder internationale Solidarität immer gegen die spezifischen Systemdynamiken erkämpft und verteidigt werden müssen. Es ist ein Schwimmen gegen den Strom.

Daher erodiert das Gesellschaftsgefüge und die globale Balance unter der Herrschaft von profitorientierten Kapitalisten, Wettbewerbsmärkten und nationalstaatlicher Konkurrenz, wenn die Reformkräfte ermüden und die Gegenseite ihre enorme Machtfülle immer weiter ausbauen kann. Genau das ist in den letzten Jahrzehnten überall zu sehen – auch, weil Reformen zum Endziel des politischen Kampfes mutierten. Die Sozialdemokratin Rosa Luxemburg mahnte schon vor über hundert Jahren vor den Folgen der reformistischen Strategie.

Seit die Auswirkungen des neoliberalen Rollbacks immer sichtbarer werden – weltweite Finanzkrise, eskalierende Klima- und Artenkrise, sich zuspitzende militärische Konfrontationen mit atomaren Risiken und politische Verwerfungen in zahlreichen Ländern – wird Antikapitalismus und die Systemfrage wieder stärker diskutiert. Das ist gut so und sollte begrüßt werden. Sicherlich gibt es dabei auch überzogene, illusionäre Vorstellungen. Der Kapitalismus endet ja nicht, weil er wieder breiter in Frage gestellt wird. Und viele Probleme müssen zwangsläufig unter den gegebenen schlechten Bedingungen gelöst, viele Krisen dringend jetzt bewältigt werden. Die ganze Debatte über den sogenannten „grünen Kapitalismus: Ja oder Nein“ ist letztlich akademischer Natur. Fakt ist: Wir leben in kapitalistischen Ökonomien, in denen über Märkte Waren und Dienstleistungen ausgetauscht werden. Entweder wir liefern die jetzt benötigten Lösungen auf drängende Krisen mehr oder weniger in diesem System, also Komplettumbau der Energiewirtschaft in den nächsten zehn, fünfzehn Jahren, oder eben nicht.

Ich sehe auch keinen Grund, warum es prinzipiell nicht möglich sein soll, Unternehmen und Staaten mit den vorhandenen politischen Mitteln in den realexistierenden Demokratien dazu zu zwingen, von fossiler auf erneuerbare Energie umzustellen und die eskalierende Naturzerstörung (also das in Gang befindliche sechste Artensterben) zu beenden bzw. drastisch zu reduzieren. Sicherlich, unter den Umständen und dem enormen Zeitdruck eine Herkulesaufgabe. Aber es ist die einzige Hoffnung für die Menschheit. Die Frage ist, ob die Menschen den nötigen politischen Druck für die Wende erzeugen werden. Das wird das System radikal abändern, aber nicht überwinden. Die Rede von einem Systemwechsel ist deswegen aber keineswegs an sich falsch. Sie ist nur irreführend, wenn man die Alternative aufmacht: Ende des Kapitalismus oder Klimakollaps.

Nun zur eigentlichen Frage: Wie sähe ein nichtkapitalistische System denn aus? Welche Änderungen braucht es?

Sie haben einige Kernelemente bereits benannt: andere Eigentumsstrukturen bei den Produktionsmitteln, Selbstverwaltung der Arbeiter in den Betrieben, faire Versorgung aller Menschen nach ihren Bedürfnissen und eine demokratische Planung der Wirtschaft. Bei einigen Änderungen wird man Neuland betreten. Aber an sich sind die Umstellungen nicht wirklich kompliziert oder gar unrealisierbar. Nehmen wir die Eigentümerschaft. Das ist ein simpler Akt. Die Durchsetzung ist das eigentliche Problem. Solange keine revolutionäre Enteignung stattfindet, könnte man Eigentumsreformen wie z.B. Sahra Wagenknecht sie vorschlägt über den parlamentarischen Weg angehen. Es gibt auch genügend historische Experimente, von denen man lernen kann: Verstaatlichungen, Mitarbeiterbetriebe, Stiftungslösungen, staatssozialistische Ökonomien.
Bei der Selbstverwaltung muss man auch nicht bei null anfangen. Im Marktsozialismus in Jugoslawien managten die Arbeiter die Unternehmen selbst. Ziemlich erfolgreich, bis das Experiment politisch und ökonomisch untergraben wurde. Es gibt auch in unseren kapitalistischen Gesellschaften unendlich viele alternative Betriebe, die nicht durch Top-Down-Management, sondern von den Mitarbeitern selbst verwaltet werden. Professoren verwalten sich an Universitäten mehr oder weniger selbst. All das sind Samenkörner für ein zukünftiges System jenseits kapitalistisch-hierarchischer Logik. Die Experimente könnten weiter ausgebaut und mit politischen Forderungen verknüpft werden.

Was tatsächlich in der Sache schwieriger und neu zu sein scheint ist, was an die Stelle von Märkten treten soll. (Ich überspringe die übliche Alternative „staatliche Zentralplanung“, die aus verschiedenen Gründen abzulehnen ist, vor allem wegen der autoritären Steuerung der Wirtschaft.) Märkte allokieren Waren und Dienstleistungen in kapitalistischen Ökonomien, trotz aller Dysfunktionalitäten, auf eine äußerst komplexe, dynamische Weise, die unseren industriellen Ökonomien angemessen erscheint. Wer allein bei Amazon einmal schaut (die kapitalistische Ausbeutung einmal beiseite lassend), wie sich dort täglich Millionen Anbieter und Nachfrager über dutzende Millionen verschiedene Güter, gesteuert über Preise, einigen, was wiederum zu Millionen von Feedbacks führt, die die Produktion feintunen, dem sollte klar sein, dass industrielle Gesellschaften ein ähnlich effektives Verteilsystem brauchen.

Warum belassen wir dann nicht Märkte als Allokationsmechanismus einfach bestehen? Die Antwort ist: Wettbewerbsmärkte haben extrem negative Nebeneffekte, die man nicht oder nur sehr beschränkt von außen neutralisiert bekommt. Der schädlichste Nebeneffekt ist die systemische Externalisierung von Kosten und Schäden auf die Allgemeinheit (die globale Finanzkrise ist z.B. eine Externalität, die Klimakrise eine andere, die final sein könnte). Zudem untergraben Wettbewerbsmärkte permanent Gerechtigkeit, Selbstverwaltung, Solidarität und Kooperation. Deswegen ist es keine gute Idee, den Motor einer Gesellschaft einem derart sozial und ökologisch destruktiven Mechanismus zu überlassen.

Da aber in der ökonomischen Diskussion Konsens ist, dass es keine anderen Optionen zu Zentralplanung und Markt gibt, votieren selbst VordenkerInnen von alternativen Wirtschaftsmodellen weiter für Marktökonomien (siehe z.B. Christian Felber oder Sahra Wagenknecht). Dabei stimmt es keineswegs, dass es keine Alternative gibt. Es würde zu weit führen, die Konzepte und Ideen im Einzelnen hier zu besprechen. Daher nur ein paar Hinweise dazu.

So widmete zum Beispiel das internationale Wissenschaftsmagazin „Science & Society“ schon 2002 eine ganze Nummer den unterschiedlichen Modellen für eine demokratische Planung der Wirtschaft. Neun Ökonomen stellten ihre Konzepte vor und kommentierten die der anderen. Sie teilten dabei den gemeinsamen Ansatz, dass eine partizipatorische Planung an die Stelle von Marktkräften treten sollte – auch wenn es im Einzelnen unterschiedliche Ansichten gab.

Solche Modelle für eine demokratische Planung jenseits von Staat und Markt gehen letztlich auf eine Traditionslinie zurück, in der Rätekommunisten (wie Rosa Luxemburg), Syndikalisten (wie Pjotr Kropotkin) oder Anarchisten (wie Anton Panekoek) die Vision einer selbstverwalteten Ökonomie entworfen haben. Die Ökonomen wollten der libertären sozialistischen Vision von einer demokratisierten Wirtschaftsordnung, die sie für richtig und anstrebenswert erachteten, ein theoretisches Rückgrat verschaffen. Sie untersuchten auf technischer und ökonomischer Ebene Fragen, wie eine demokratisch organisierte Abstimmung von Produktion und Konsumption aussehen könnte. Sie analysierten, wie Entscheidungen in partizipatorischen Ökonomien zu treffen wären, wie welche Pläne zustande kommen sollten oder auf welche Weise Effizienz garantiert werden könnte.

Das am stärksten ausgearbeitete Modell war das von Robin Hahnel und Michael Albert. Sie hatten bereits 1991 zwei Bücher zur politischen Ökonomie einer partizipatorischen Wirtschaft publiziert, die in der Folge breit diskutiert wurden. In ihren Entwürfen untersuchten die beiden US-amerikanischen Ökonomen und Kapitalismuskritiker en détail die einzelnen partizipatorischen Abläufe unter realistischen Vorgaben und reflektierten dabei auch praktische Aspekte, die in theoretischen Modellen meist außen vorgelassen werden.

Das Modell, das sie Parecon (kurz für „Participatoy Economics“) nennen, basiert auf drei Prinzipien: 1. ökonomische Gerechtigkeit oder Gleichheit im Sinne von ökonomischer Entlohnung nach Dauer und Schwere der Arbeit, 2. ökonomischer Demokratie oder Selbstverwaltung, bestimmt als Entscheidungsmacht im Verhältnis zum Grad, in dem jemand von einer Entscheidung betroffen ist, 3. Solidarität, also Sorge um die anderen, Respekt vor unterschiedlichen ökonomischen Lebensstilen, ohne dafür Effizienz zu opfern.

Gemäß dieser Prinzipien wurden vier Hauptinstitutionen ausgearbeitet für eine partizipatorische Wirtschaft: 1. Demokratische Arbeiter- und Konsumentenräte, die sich austauschen und miteinander kooperieren, 2. Ausbalancierte Arbeitsplätze, die möglichst gleichmäßig und kooperativ die Arbeiten aufteilen, so dass alle befördert und Raum für Kreativität erhalten, 3. Bezahlung nach Dauer und Schwere der Arbeit, die innerbetrieblich festgelegt werden sollte, 4. Partizipatorische Planung, also ein Vorgang, in dem die Räte und Föderationen von Arbeitern und Konsumenten ihre jeweiligen Aktivitäten vorschlagen und überarbeiten nach Regeln, die effiziente und zugleich gerechte Ergebnisse befördern.

Die partizipatorischen Planungsvorgänge werden dabei von den Autoren im Einzelnen ausgebreitet, diskutiert und an praktischen Beispielen erprobt sowie technisch ausbuchstabiert. Die Produktion und Verteilung der Güter und Dienstleistungen würde demnach nicht zentral geplant oder über Wettbewerbsmärkte und daraus hervorgehende Preise gesteuert. Angebot und Nachfrage treten vielmehr über direkte Rückkopplungen in Beziehung. So stimmen sich die Arbeiter- und Konsumentenräte untereinander in einem geordneten, von Fairness- und Effizienzkriterien angeleiteten, mehrstufigen Prozess ab, rein technisch gesteuert über ein sogenanntes „Iteration Facilitation Board“ (IFB), das Angebot, Nachfrage und Preise immer wieder neu errechnet. Aus den kontinuierlichen Feedbacks – im Prinzip Bedarfslistungen und Preisangleichung – ergibt sich in einem Prozess, wer was produzieren kann und wer was verbrauchen darf. Der Abstimmungs- und Kooperationsvorgang startet dabei mit „indikativen Preisen“ für alle Güter und Dienstleistungen, die sich im Verlauf ändern, je nach den Bedürfnissen und produktiven Möglichkeiten. Aber wichtig ist, dass die Arbeiter und Verbraucher kooperativ die Produktion und Allokation von Waren und Leistungen steuern – weder der Markt noch der Staat, weder Wettbewerb noch Zentralplanung sind notwendig.

Das Modell ist in den vergangenen fast drei Jahrzehnten wie schon gesagt stark debattiert worden. Albert und Hahnel haben, in Reaktion auf Fragen und kritische Einwände, das Modell weiter erläutert, an manchen Stellen präzisiert. Sicherlich, es ist ein Modell und wird in der Praxis bestehen müssen. Es wird nie in Reinform umgesetzt werden und auch nicht unbedingt alle Bereiche der Wirtschaftstätigkeit bestimmen müssen. Eine neue Wirtschaftsordnung wird ja nicht „vom grünen Tisch“ aus gemacht. Aber die Vorschläge für eine demokratische Planung einer Wirtschaft zeigen, dass man sich nicht Markt und zentraler Planung schicksalhaft ergeben muss.
Es könnte eine Inspiration sein, die weiteres Nachdenken anregt. Vor allem macht es deutlich, dass das TINA-Prinzip („There Is No Alternativ“) bezüglich Markt und staatlicher Zentralplanung nicht zutrifft. Es gibt ausformulierte Alternativen, die den Vorstellungen von libertären Sozialisten, Anarchosyndikalisten und zahlreichen Selbstverwaltungsprojekten folgen sowie an das anschließen, was bis in die Gegenwart hinein an demokratischer Selbstverwaltung bereits umgesetzt werden konnte.
So übernehmen seit den Wirtschaftskrisen der 1980er Jahren in verschiedenen Ländern Arbeiter Unternehmen und verwalten sie selber. In Argentinien bildete sich nach der Wirtschaftskrise 2001 die „Fábricas Recuperadas“-Bewegung. Die Beschäftigten betrieben die Fabriken weiter, die von den Besitzern und dem Management nach dem Bankrott außer Betrieb genommen wurden, und organisieren sie in verschiedenen Ausformungen als Kooperativen.

In Venezuela fand 2005 das erste “Encuentro Latinoamericano de Empresas Recuperadas” ("Lateinamerikanisches Treffen wiederhergestellter Unternehmen“) mit Vertretern von 263 Betrieben aus unterschiedlichen Ländern statt. In Brasilien erschuf die „Solidarische Ökonomie“ ein alternatives Modell jenseits kapitalistischer Organisation, mit allen Schwierigkeiten, die das in armen lateinamerikanischen Landstrichen beinhaltet. Auch die Deindustrialisierung in den USA ließ im sogenannten „Rust Belt“, aber auch in von Latinos und Schwarzen bewohnten Ghettos, Tausende von „Worker Cooperatives“ entstehen. In Griechenland fand im Zuge der Eurokrise eine Reihe von Fabrikübernahmen statt. Gemeinschaftlich organisierte Betriebe füllen jetzt oft die Lücke, die private Investoren und der Staat in Südeuropa hinterlassen haben.

Großflächig umgesetzt wurde die Idee einer von den Arbeitenden selbst betriebenen Wirtschaft während des „kurzen Sommers der Anarchie“ in der Spanischen Revolution von 1936 bis 1939. Einfache Arbeiter und Bauern übernahmen in Katalonien und in dessen Hauptstadt Barcelona die Produktion und die Versorgung. Der Anarchosyndikalist Rudolf Rocker schrieb:

„Vor allem bewies die Selbstverwaltung der Arbeiter und Bauern, dass sie ohne die Kapitalisten fähig waren, die Produktion ohne Probleme fortzuführen. Und sie bewerkstelligten das sogar besser als die vielen profithungrigen Unternehmer.“

Die Kommunisten wie die Kapitalisten sahen darin eine große Gefahr und bekämpften die Alternative erfolgreich von beiden Seiten. Spanien war in der anarchistischen Revolution zu weiten Teilen noch vor-industriell. In den israelischen Kibbuzim in Palästina war die Situation eine andere. Sie zeigen, dass auch eine weit entwickelte industrielle Produktion in Form einer Selbstverwaltung effizient betrieben werden kann.

Zumindest sollte klar sein, dass Märkte, wenn überhaupt, nur eine sehr begrenzte Rolle in einer Gesellschaft spielen sollten, weil es andere, bessere Mechanismen gibt. Eine demokratisch geplante Ökonomie könnte dabei positive Aspekte von Märkten wie die Signalfunktion von Preisen, wenn sie die Bedürfnisse und Präferenzen der Menschen wiedergeben, oder die Wahlmöglichkeiten von Konsumenten übernehmen ("consumer choice"), aber nur da, wo sie Sinn machen und von den Arbeitern selbst kontrolliert werden, sowie in einer Weise, die die Kooperation nicht beschädigt.

Soweit zu Ihrer Frage bezüglich eines Systemwechsels. Der 2. Teil der Antwort entstammt in abgewandelter Form meinem Buch über Sahra Wagenknecht.

Mit herzlichen Grüßen,
David Goeßmann