05.07.2017

Wir Schlafwandler: G-20 Fieberträume, Klimaretter-Halluzinationen und der allzu reale Crashkurs

Von: David Goeßmann

 

Ein finsterer Wolfskopf fletscht die Zähne. Im Maul hält er knurrend die Weltkugel wie einen Spielball. Eine weiße Hand im Stile Michelangelos streckt sich nach der bedrohten Erde aus. Daneben stehen die mahnenden Worte: „Globalisierung außer Kontrolle. TRAUT EUCH! Radikal denken, entschlossen handeln – nur so ist die Welt noch zu retten.“ Das ist kein Plakat „linker Randalierer“, die gegen die Globalisierung auf die Barrikaden gehen. Es ist der aktuelle Titel des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ zum G-20-Gipfel in Hamburg. Lautstark begibt sich das deutsche Leitmedium mit seiner Aufmacher-Story auf den Markt für die Weltrettung. Es geht im Artikel um globale Ungleichheit, Ausbeutung, planetare Grenzen und Auswege aus der Krise. Das ganz große Panorama also. Doch gerade dem drängendsten Problem, dem Klimawandel, hat der Spiegel lediglich zwanzig Sätze auf zehn Seiten eingeräumt. Und jeder Satz ist eine Beruhigungspille, die die Leser in Tiefschlaf versetzt. Die Staaten und Investoren hätten längst auf regenerative Energiequellen umgeschaltet, heißt es, auch wenn der Emissionshandel noch verbessert werden müsse. Klar, mit dem 2-Grad-Ziel werde es knapp. Egal. Zudem: Ginge es nach Angela Merkel, wären wir, so weiß der Spiegel zu berichten, längst im globalen Klimaparadies. Denn Merkel habe auf dem G-8-Gipfel in Heiligendamm vor zehn Jahren mit der „Idee“ „sympathisiert“, jedem Erdenmensch das gleiche Recht auf Treibhausgase einzuräumen, um die Welt zu retten. Emissionsdiät à la Merkel für die Deutschen: von zehn Tonnen auf zwei. Wow!

Tatsächlich, die Bundeskanzlerin gibt sich erneut kämpferisch in ihrer Regierungserklärung im Bundestag vor dem G-20-Treffen: "Wir wollen und müssen diese existenzielle Herausforderung bewältigen, und wir können und werden nicht darauf warten, bis auch der letzte auf der Welt von den wissenschaftlichen Erkenntnissen des Klimawandels überzeugt werden konnte. Mit anderen Worten: Das Klimaabkommen ist unabkehrbar, und es ist nicht verhandelbar". Es sind wieder markige Sprüche der Chefin, die die Deutschen stolz machen sollen. Vieles erinnert an das Klimaabkommen von Kyoto vor zwanzig Jahren. Auch damals scherten die USA aus. Auch damals gab es markige Sprüche von Merkel als Bundesumweltministerin. Auch damals mahnten die Umweltverbände, dass Deutschland vorangehen solle. Doch diese Rhetorik, gepredigt seit über zwanzig Jahren, hat einen Haken. Sie hat nichts mit der Realität zu tun. Vielmehr verkleistern Vorreiter-Mahnungen und deutsche Weltrettungsromantik eine Wirklichkeit, die sehr viel ungemütlicher ist, als die Empörung über die Klimaschurkereien der USA suggeriert.

In den politischen Zentren in Brüssel oder Berlin fragt man sich nach dem Ausstieg von US-Präsident Donald Trump aus dem Pariser Abkommen besorgt, wie es mit dem Klimaschutz global weitergehen soll. Man ist sich dabei einig, dass der „reichste Kontinent der Welt“ mit Deutschland als Powerhouse eine zentrale Rolle bei der Neuausrichtung spielen sollte. Es wird angemahnt, dass Europa nun den Staffelstab von den USA übernehmen, die Fackel des Klimaschutzes und die Sorge um den Planeten zusammen mit China in die Zukunft tragen müsse. Ganz abgesehen davon, dass die USA die Fackel nie in der Hand hatten: Das wäre eine gute Idee. Aber Ideen reichen bei der drohenden Klimakatastrophe schon lange nicht mehr.

Man sollte sich keinen Illusionen hingeben. Europa befindet sich, wenn auch abgemilderter als die USA, trotz Pariser Klimaabkommen auf Crashkurs mit dem Planeten. Denn die Klimaziele der Europäischen Union unter deutscher Führung überziehen das ihr noch zustehende Emissionsbudget um hundert Prozent, selbst wenn sie erreicht werden. Das war vor Trump so und ist immer noch wahr. Auch die EU-Staaten sind durch das ständige Aufschieben der laut Wissenschaft notwendigen Reduktionen seit den 1990er Jahren gezwungen, aus eigenem Verschulden, bis spätestens 2035 zu dekarbonisieren, also keine Treibhausgase mehr zu produzieren, um gefährlichen Klimawandel zu vermeiden.

Davon ist die neu ausgerufene Klima-Weltregierung meilenweit entfernt. Die Union peilt vierzig Prozent weniger CO-2-Emissionen im Jahr 2030 gegenüber dem Basisjahr 1990 an. Man will auch nach 2050 emittieren, wenn auch geringe Menge. Dieses „ehrgeizige Ziel“ ist aber nur die Hälfte von dem, was mindestens notwendig wäre, um eine globale Erderwärmung über zwei Grad Celsius gerade noch zu verhindern, so die Hoffnung der Wissenschaftler, die das verbleibende Treibhausgas-Budget im Blick haben. Um die Fackel des Klimaschutzes in die Zukunft zu tragen, müsste die Europäische Union inklusive Deutschland zuerst einmal auf 2-Grad-Kurs gebracht werden, also die Reduktionsanstrengung sofort und radikal bei sich zu Hause aufstocken, um in zwanzig Jahren die gesamte EU-Ökonomie mit einer halbe Milliarde Menschen ohne Treibhausgase zu betreiben. Der „Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung Globale Umweltfragen“ (WBGU) erklärte schon vor knapp zehn Jahren, vor dem Klimagipfel in Kopenhagen 2009, dass das eine „Herkulesaufgabe“ sei. Seitdem ist die Lage noch schwieriger geworden, weil die Regierungen in der EU die Hände in den Schoß gelegt haben.

Die Dekarbonisierung in Siebenmeilenschritten (zehn Prozent weniger jedes Jahr!) mag als „illusorisch“, „überzogen“, „willkürlich“ oder „Non-sense“ erscheinen. Aber so ist es nun einmal. Die Welt hat nur noch eine geringe, rapide abnehmende Menge an Treibhausgasen, die in die Atmosphäre gelangen dürfen. Wird mehr ausgestoßen, schießt die globale Erdtemperatur über zwei Grad Celsius hinaus, mit unabsehbaren Folgen und sich möglicherweise verstärkenden Kreisläufen. Manche Wissenschaftler sagen, dass zwei Grad Erwärmung schon enorme Risiken berge, dass der Klimawandel außer Kontrolle geraten könne. Zudem ist eine durchschnittlich um zwei Grad erwärmte Erdoberfläche schon ein Desaster mit weitreichenden ökologischen und humanitären Folgen. Im Pariser Abkommen steht daher auch das Ziel 1,5 Grad. Doch diese Marke ist de facto nicht mehr erreichbar.

Alice-in-Wonderland-Träumereien

Natürlich ist der EU-Anteil an den noch verbleibenden Treibhausgasen, um das zwei Grad Ziel einzuhalten, nicht physikalisch festgelegt. Aber die ständige Rede, dass „die Welt“ oder die G-20 noch „mehr“ machen müsste, um das Ziel erreichbar zu halten, ist irreführend. Wer den Industriestaaten und der EU zubilligt, bis Mitte des Jahrhunderts und darüber hinaus Treibhausgase zu produzieren (gemäß der offiziellen, „ambitionierten“ Klimaziele), muss an anderer Stelle etwas wegnehmen, also denen, die nichts mit dem Klimawandel zu tun haben, die ihren fairen Anteil an Emissionen nicht mehr nutzen können und auch heute noch weit unter den pro-Kopf-Emissionen von Deutschland und den USA liegen. Wenn zum Beispiel die Entwicklungslän-der, darunter China, ihre fossile Energiegewinnung genau so schnell wie die reichen Industriestaaten zum Komplettstopp bringen würden, dann dürften die EU, Nordamerika, Japan und Australien noch etwas länger Treibhausgase ausstoßen. Aber das ist unrealistisch, extrem unfair und von historischer Amnesie befallen. Die Entwicklungsländer würden für ihre ökonomische Entfaltung, die sie dringend brauchen, keine Luft mehr haben. Ihr ohnehin sehr begrenztes Budget weiter zu kürzen ist weltfremd und zynisch. Es wäre mit gravierenden ökonomischen Schäden, weiterer Verelendung und globaler Ungleichheit für Milliarden von Menschen verbunden.

Man kann sich natürlich dem Glauben hingeben, in dreißig Jahren die Treibhausgase bei der fossilen Energiegewinnung unter die Erde zu verpressen, um so noch länger auf Kohle, Gas und Öl zu setzen. Nichts anderes verbirgt sich hinter Abkürzungen wie CCS und BECCS. Wenn die spekulativen Risikotechnologien nicht Realität werden, und bisher gibt es keinen Grund für Zuversicht, bzw. die Gase nicht im Boden bleiben wollen: Dann war‘s das. Das ist verantwortungslos. Es sind „Alice in Wonderland“-Träume, wie auch die massiven Auffors-tungsvisionen auf Flächen bis zu dreimal so groß wie Indien, die CO-2 Überschüsse später aus der Luft binden sollen. Sie haben wenig mit der wirklichen Welt zu tun, wie aktuelle Studien belegen. Und sie bilden zudem den Abgesang auf das Vorsorgeprinzip im Angesicht planetarer Zerstörung.

An der Selbsttäuschung sind Wissenschaftler und Umweltverbände mitverantwortlich. Viele haben die Schönrechnerei im vorauseilenden Gehorsam unterstützt oder stillschweigend akzeptiert. Klimaökonomen übernahmen früh das Ruder beim Klimaschutz und prägten mit neoliberaler „win-win“-Rhetorik die Debatte. So wurde am Modell „evolutionären“ und „ökonomieverträglichen“ Klimaschutzes selbst dann noch festgehalten, als der Zug dafür längst abgefahren war. Je mehr das Machbare mit dem Notwendigen kollidierte, umso stärker wurde zugleich an den Budgets herumgeschraubt, vor allem mit dem fiktiven Einsatz von riesigen „Kohlendioxidabsaugern“ und spekulativen Endlagern.

Es gibt nur wenige, die sich dem politisierten Schönreden bzw. Schönrechnen widersetzen. Darunter die Klimawissenschaftler Kevin Anderson und Alice-Bows Larkin vom renommierten Tyndall Center for Climate Change Research in Großbritannien. Sie schlagen seit mehr als zehn Jahren Alarm. Sie tun das in führenden Forschungsjournalen, auf wissenschaftlichen Konferenzen oder TED-Talks, auf Klimagipfeln, in Blogs oder auf Twitter. 2013, als der „reichste Kontinent der Welt“ seinen Klimakurs verhandelte, schrieb der Co-Vorsitzendes des Tyndall Center Kevin Anderson einen offenen Brief an den damaligen EU-Kommissionspräsidenten Manuel Barrosso. Er warnte davor, Klimaziele festzusetzen, die die Welt gefährlichem Klimawandel aussetzen werde. „Die Debatte darum, was ein angemessenes EU-Reduktionslevel für Emissionen in 2030 ist, wird in einem wissenschaftlichen Vakuum geführt. Natürlich ist die Entscheidung letztlich politisch. Aber die Missachtung des wissenschaftlichen Rahmens zeigt deutlich, wie eine fehlgeleitete Rhetorik beim Klimawandel selbst wohlmeinende Diskussionen unter Regierungen, Nichtregierungsorganisationen oder Wissenschaftlern dominiert.“ Die EU müsse tatsächlich doppelt so schnell von Kohle, Öl und Gas Abschied nehmen wie offiziell vereinbart, um den Planeten nicht weiter zu gefährden und der Rhetorik des 2-Grad-Ziels Taten folgen zu lassen.

Wer in der wirklichen Welt bleiben möchte, der kommt um die unangenehme Wahrheit nicht herum: Der „reichste Kontinent der Welt“ unter deutscher Führung ist Teil des Problems und nicht der Lösung. Doch diese Wahrheit wird weiter mit Schlafwandler-Formeln sediert wie im ARD-Interview mit dem deutschen Klimawissenschaftler und politischen Top-Berater Hans Joachim Schellnhuber nach dem „Trump-Eklat“. Nein, Frau Miosga von den Tagesthemen, Deutschland ist nicht Vorreiter beim Klimaschutz (das Land ist seit langem „kohlenstoffinsolvent“, immer noch einer der größte Emittenten und auf Crashkurs mit dem 2-Grad-Ziel) und nein, China ist nicht „Umweltflegel“ und „der Klimasünder“, sondern ein Land, das seinen fairen Anteil an fossiler Energienutzung längst noch nicht ausgeschöpft hat, weiter in großen Teilen von Energiearmut drangsaliert wird, während es bei weit geringerer Kaufkraft der Bevölkerung doppelt so viel in Erneuerbare wie die EU investiert. Und nein, Herr Schellenhuber, nicht China und Deutschland müssen „ein Schübchen drauf legen“, um die Lücken zum 2-Grad-Ziel zu schließen. Die Verantwortung liegt beim „Club der Industriellen“. Denn die Klimaziele der Industriestaaten, auch die des „Vorreiters“ Deutschlands, ganz zu schweigen von den Wegen zu diesen Zielen, sind extrem 2-Grad-inkompatibel, um es freundlich auszudrücken. Das „Schübchen“ ist auch kein „Schübchen“, sondern eine historische Infrastruktur-Revolution. Und das liegt daran, dass alle Industriestaaten die Erkenntnisse der Wissenschaft und die daraus abgeleiteten Anforderungen von Anfang an grob missachteten.

Der real existierende Crashkurs

Schon auf der Toronto-Konferenz von 1987, der Enquete-Kommission „Schutz der Erde“ der Bundesregierung Anfang der 1990er Jahre und vielen internationalen Untersuchungen danach war klar, dass die reichen Länder schon früh, bis 2005, ihre Treibhausgase um mindestens zwanzig Prozent (die wirtschaftsstarken um mindestens dreißig Prozent) reduzieren und danach schnell bis zur Mitte des Jahrhunderts mehr oder weniger dekarbonisieren mussten. Zugleich war nach wissenschaftlichem Konsens unabdingbar, dass die Treibhausgase in den Entwicklungsländern nicht über fünfzig Prozent anwachsen dürfen, um das globale Budget nicht zu überziehen. Die Industriestaaten seien, so die Enquete-Kommission, sowohl für die Absenkung der eigenen Treibhausgase als auch die Einhegung der Emissionen in den Entwicklungsländern verantwortlich. Sie hätten das Problem verursacht und seien weiter der Treiber der Klimaerwärmung durch ihre extrem hohen pro-Kopf-Verbräuche. Daher müssten sie die benötigten Technologien für die armen, kaum industrialisierten Länder bereitstellen und den Umbau finanzieren, so das Ergebnis der Klima-Kommission in Deutschland, die über Jahre dutzende Fachanhörungen, Expertenbefragung und Tagungen durchführte sowie unzählige Studien anfertigen ließ. Das Fazit: Nur unter sofortiger und strenger Absenkung des Treibhausgas-Niveaus sei „gefährlicher Klimawandel“ noch zu verhindern, mahnte das historische Gremium.

Doch die Regierungen der Industriestaaten, inklusive Deutschlands, ignorierten die Forderungen und Warnungen der Wissenschaft. Schon auf dem Erdgipfel in Rio war klar, wohin die Reise geht. Auf der Klimakonferenz in Berlin 1995 wurde das Problem erneut vertagt, unter der Leitung der späteren „Klimakanzlerin“ Merkel. In Kyoto zwei Jahre später wurden die Weichenstellungen für den Crashkurs dann in Beton gegossen. Die Industriestaaten erklärten, dass sie die nächsten fünfzehn Jahre bei sich zu Hause wenig bis nichts gegen die weitere Erderwärmung unternehmen und die Treibhausgase im „Rest der Welt“ unkontrolliert steigen lassen werden. Das geschah dann auch. Mit jeder Menge billigem Kohlestrom durften westliche Unternehmen in den armen Ländern weiter ungestört Spielzeug, Elektronik und Kleidung für den Konsum in den reichen Ländern herstellen, inklusive Ausbeutung der ArbeiterInnen, mit verheerenden Folgen für die Atmosphäre.

Die Ignoranz über Jahrzehnte hat Folgen. Die globalen Kohlendioxid-Emissionen liegen heute sechzig Prozent höher als 1990. Sie müssten eigentlich rund ein Viertel unter dem Basisjahr liegen, wenn die Wissenschaft eine Rolle gespielt hätte. Die ständige Überziehung des Budgets hat eine sehr ungemütliche, neue Realität für die Welt hervorgebracht. Die kumulativen Logik von Treibhausgasen in der Atmosphäre, die über Jahrhunderte das Klima bestimmen werden, bestraft jedes Nicht-Handeln mit aller Unerbittlichkeit. Die Welt befindet sich daher am Rand des Abgrunds. Ein „evolutionäres Ausschleichen“ der Emissionen durch einen schrittweisen Umbau der Energieinfrastruktur im Einklang mit den Interessen der Business-Klasse sind seit Anfang des Jahrhunderts versperrt, auch wenn uns marktbesessene, neoliberal eingestellt Klimaökonomen etwas anderes weismachen wollen. Nur eine schmerzliche Energie-Revolution kann den Total-Crash noch verhindern. Schmerzlich vor allem für die Hochemittenten.

Doch „Deutschland“, die neue „Führungskraft der westlichen Welt“, marschiert seit Jahren munter in die Gegenrichtung. Nein, Herr Schellenhuber, dass das 2020-Ziel der Bundesregierung, die Emissionen um vierzig Prozent gegenüber 1990 abzusenken, verfehlt wird (wie gesagt: als Ziel schon nicht 2-Grad-kompatibel), ist nicht „wahrscheinlich“. Es ist ein Desaster mit Ansage. Deutschland wird deutlich weniger schaffen. Der Klimakurs ist längst auf Vollcrash umgesteuert worden. Die Bundesregierung war nie bereit, mit Maßnahmen die enorme Lücke zu schließen, die sie selbst durch Konzernprotektionismus und Desinteresse für Klimaschutz gerissen hat. Das 2005-Ziel wurde auf ähnliche Weise in Hinterzimmern preisgegeben, während auch damals die gesellschaftliche Empörung ausblieb. Und das Verfehlen des Ziels ist nicht nur „kein Ruhmesblatt“, sondern eine Bankrotterklärung und ein Offenbarungseid mit weitreichen-den Folgen für die Zeit danach. Klimawissenschaftler wie Schellnhuber wissen warum. Das Emissionsbudget ist kaltherzig wie die Urlaubskasse. Was am Anfang verprasst wurde, ist nachher weg. Tatsache ist: Seit 2009 steigen bzw. stagnieren die Treibhausgase in Deutschland. Die Bundesregierung hat weggeschaut, auf EU-Ebene Klimaschutz mit nationaler Autoindustriepolitik blockiert und die deutsche Kohlebranche für wichtiger erachtet als Klimaschutzziele, auf die eine „Baggerladung“ oben drauf müsste, um den Planeten stabil zu halten.

Und nein, wir wollen nicht weiter die Beschwörungen des „Klimaschutzvorreiters“ hören. Ja, es ist richtig, dass Deutschland „rhetorisch“ voranging. Vor einem Vierteljahrhundert übernahm die damalige Kohl-Regierung die Empfehlung seiner Enquete-Kommission, und versprach, bis 2005, wie von der Wissenschaft mindestens gefordert, dreißig Prozent der Emissionen gegenüber 1988 zu reduzieren. Es blieb beim Versprechen. Die „Vorreiter-Marke“, in Wahrheit ein wissenschaftliches Minimalziel, wurde jedoch zu keinem Zeitpunkt ernsthaft anvisiert. Die Regierung ließ bewusst zu, dass doppelt so viel Kohlendioxid in die Atmosphäre gelangte. Denn Industrielobbys konnten das Erreichen des Mindestziels verhindern, aufschieben und verwässern, während die Kosten für die viel zu spät einsetzende Mini-Energiewende zu großen Teilen die Steuerzahler zu tragen hatten. Damit wurde zugleich die Bevölkerung Stück für Stück gegen den „ungerechten“, sie belastenden Klimaschutz aufgebracht. Während die Hochemittenten-Klasse, die Profiteure der neoliberalen Wende, weiter ungestört mit Vielfliegerei, First-Class-Hotels, Business-Extravaganzen, Tankkarten-Premiumautos, Villen und jede Menge Luxus-Treibhausgasen die Atmosphäre nach Gusto zumüllen dürfen, bedeuten höhere Energiekosten für Mini-Jobber, Allein-Erziehende oder Kleinrentner, dass kalte Winter die Haushaltskasse sprengen, Fahrten zum Arzt abgewogen werden müssen oder die Urlaubsreise in noch weitere Ferne rückt.

Das Narrativ der deutschen bzw. europäischen Klima-Avantgarde war immer ein reines Ablenkungsmanöver und Sedativ. Deutschland hat viel Glück gehabt im Zuge der De-industrialisierung nach der Wiedervereinigung – wie die EU insgesamt durch den Zusammen-bruch Osteuropas. Sonst sähe es hierzulande in Sachen Treibhausgase-Reduktion weit schlechter aus. Tatsächlich befinden wir uns nicht weit vom Schurkenniveau der USA entfernt – insbesondere, wenn man Bevölkerungs- und Wirtschaftszuwächse herausrechnet. Doch trotz der leistungslosen CO2-Minderungen insbesondere in den 1990er Jahren (je nach Studie 8 bis 12 Prozent von den heute erreichten 24 Prozent Minderung) hat Deutschland sein 2-Grad-Budget schon um das Doppelte überzogen, aber tut so, als ob nichts gewesen wäre.

Das Glück der richtigen Wiedervereinigung ist längst verspielt, auch die Finanzkrise mit ihren enormen Treibhausgas-Einbruch ist verwunden, deswegen stockt der deutsche „Reduktionsmotor“ seit Jahren, obwohl die Umstände aufgrund der gesunkenen Kosten für alternative Energien günstiger sind als je zuvor. Jetzt zeigt sich, dass der deutsche Klimaschutz wie in den meisten Industriestaaten in weiten Teilen eine Luftnummer ist, während die schwarz-rote Regierung die progressiven Gesetzgebungen wie das „Erneuerbare Energien Gesetz“ (EEG) aushöhlt, um den großen Energiekonzernen wieder mehr Einfluss über die Energieversorgung zu verschaffen. De facto wird die Energiewende, die in Wahrheit nur eine Stromwende ist, damit verlangsamt, was sich an den stockenden Investitionen für alternative Energien zeigt. Dazu kommt, dass viele Produkte, die wir in Deutschland konsumieren, in China & Co. produziert werden, dort die Emissionen erhöhen, während sie uns entlasten. Dass Deutschland Vorreiter beim Treibhaus-gas-Outsourcing ist, spielt in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Das sollte es aber. Denn es bedeutet, dass wir für viele Emissionen in China, Indien oder anderen Entwicklungsländern direkt verantwortlich sind.

Die Charity-Party und das Preisschild der Energierevolution

Doch Deutschland hat wie die Industriestaaten insgesamt versagt, die Emissionszuwächse in den Entwicklungsländern zu begrenzen. Sie sind dazu verpflichtet, nicht nur moralisch nach dem Verursacher- und Vorsorgeprinzip, sondern auch durch internationale Vereinbarungen, die sie unterzeichnet haben. Doch niemand redete darüber. Man erklärt die Empfehlungen der Wissenschaftler schlicht für nicht existent. Auf dem Klimagipfel im japanischen Kyoto 1997 inszenierten sich EU, USA & Co. als großzügige Klimaretter, die die Last der Weltkugel allein auf ihre Schultern legen und die Entwicklungsländer beim Schutz der Erde „schonen“ wollen. Doch sie schonten vor allem sich selbst und entzogen sich ihrer Verpflichtung, im „Rest der Welt“ die notwendigen Einsparungen zu ermöglichen. Die Emissionen gingen in Folge der Blockade ungebremst durch die Decke.

Daran hat sich im Prinzip nichts geändert. Der Club der Weltenlenker (wie immer man sie nennt: OECD, G-7 usw.) kündigte zwar auf dem Pariser Klimagipfel an, ab 2020 stolze hundert Milliarden Dollar pro Jahr für unterstützende Klimaprojekte zu mobilisieren. Doch selbst wenn die Summe auf dem Papier zusammenkommen sollte, wird damit kein signifikanter Klimaschutzeffekt erzielt werden können. Nur die Hälfte davon ist überhaupt für Projekte zur Emissionsminderung vorgesehen. Diese Summe ist vollkommen unangemessen angesichts der „Herkulesaufgabe“. Der Internationale Währungsfonds schätzt, dass fossile Energien jedes Jahr rund 5,3 Billionen Dollar an staatlichen Hilfen erhalten, also hundert mal so viel wie die in Paris versprochenen Reduktionsgelder an die ärmeren Länder, die ihre komplette Energie-Infrastruktur umbauen müssen. Diverse Studien der deutschen Energiewende zeigen, dass die Reduktion von rund 600 Millionen Tonnen Kohlendioxid (MtCO2) bis zur Jahrhundertmitte bis zu 1100 Milliarden Euro kosten wird. Das sind 1,1 Billionen Euro. Daraus ergibt sich, dass die Minderung einer MtCO2 bis zu zwei Milliarden Euro kostet. Die Entwicklungsländer müssen auf ihrem Peak in 2025 (gemäß eines realistischen 2-Grad-Szenarios) ca. 25.000 MtCO2 abbauen. Das wären gemessen an den Kosten der deutschen Energiewende am unteren Ende 25 Billionen Euro in 25 Jahren oder eine Billion jährlich. Im Moment geben die Entwicklungsländer rund 160 Milliarden Dollar pro Jahr für Emissionsminderungsmaßnahmen aus. Es fehlen also über 800 Milliarden Euro jedes Jahr für die notwendige Energierevolution im ärmeren Teil der Welt, um einigermaßen im globalen Budget zu bleiben. Dem stehen 50 Milliarden Dollar gegenüber, über die die reichen Industriestaaten aber noch streiten, wer wieviel dazu beitragen soll. Es ist auch unklar, ob die Summe überhaupt jedes Jahr zusammenkommen wird.

Es ist zudem beschämend, wie die Industrienationen bei der „Klimafinanzierung“ tricksen und die Entwicklungshilfe anzapfen, während sie über Jahrzehnte zugeschaut haben, wie die Treibhausgase in den Entwicklungsländern ungebremst in die Höhe schossen, weil Washington, Brüssel und Berlin nicht „extra“ bezahlen wollten. So die Formulierung von Angela Merkel 1995 als Bundesumweltministerin auf die Frage, ob man den Entwicklungsländern nicht etwas mehr grüne Entwicklungshilfe zukommen lassen wolle. Es ist ein Armutszeugnis, wie die Weltregie-rung „G 7“ sich immer wieder als Klima-Samariter inszeniert, während sie bedacht ist, mit Umwelt-Entwicklungsgeldern westlichen Unternehmen den Weg auf die Märkte der Entwicklungsländer zu bahnen. Denn die geplanten Paris-Gelder sind vielfach aufgebläht mit umetikettierter Entwicklungshilfe, Krediten und privaten Investitionen. Jetzt sind alle sauer auf Trump, weil er die Charity-Party mit seiner Geiz-Rede gecrasht hat. Tatsache ist jedoch: Es waren immer Potemkin‘sche Dörfer. Die Industriestaaten sind schlicht nicht bereit, für ihre Klimaschulden auf-zukommen und die hunderte Milliarden Dollar Reparationen pro Jahr zu zahlen, die notwendig sind, damit die Entwicklungsländer eine Zukunft ohne fossile Energie ansteuern können. Das muss sich schnell ändern. Denn so wenig die real-existierende Entwicklungshilfe in 45 Jahren Hunger und Armut auslöschen konnte, so sicher ist, dass die toxische Klimafinanzierung versagen wird, den „Rest der Welt“ in dreißig Jahren in eine komplett neue Energie-Ära zu katapultieren. Aber das wäre nötig, um gefährlichen Klimawandel zu verhindern.

Wir sollten uns an einen Spruch vom jüngst verstorbenen Altkanzler Helmut Kohl erinnern: Am Ende zählt, was hinten raus kommt. Daher sollte endlich über das geredet werden, was „hinten raus kommt“, „hinten raus kommen müsste“ und „nicht hinten raus kommt“, weil die Ziele nicht stimmen und der Wechsel zu einer nicht-fossilen Infrastruktur blockiert wird. Ja, es gibt Windräder und Photovoltaikanlagen von der Nordsee bis in den Schwarzwald. Aber sie haben zu großen Teilen den zusätzlichen Energiebedarf Deutschlands kompensiert. Daher sind die Minderungseffekte so gering, obwohl Sonne, Wind und Biogas bereits einen beträchtlichen Teil am deutschen Strommix ausmachen. Der notwendige Umbau in vielen Sektoren vom Verkehr über den Heizsektor bis zur Landwirtschaft wurde zudem mehr oder weniger verschlafen. So sieht die Realität der viel gepriesenen Energiewende im Herzen Europas derzeit aus.

Die Herkulesaufgabe

Klimaschutz wird in Zukunft anders aussehen müssen, sogar radikal anders, wenn gefährlicher Klimawandel verhindert werden soll. Der Ausstieg aus Kohle, aber auch aus Gas und Öl, muss in den nächsten 15 bis 20 Jahren in den reichen Ländern mehr oder weniger abgeschlossen sein. Die Gebäudeklimatisierung muss wahrscheinlich zu großen Teilen elektrifiziert werden. Kein einziges fossiles Kraftwerk darf in naher Zukunft in Deutschland und anderen EU-Staaten laufen, keine Gastherme Wärme erzeugen. Diejenigen, die Milliarden in die zwei Gaspipelines von Russland durch die Ostsee nach Mecklenburg-Vorpommern investiert haben, werden viel Geld verlieren. So auch die, die an den Ausbau von Flughäfen und Flugzeugen ihr finanzielles Wohl und Weh binden. Auch Autos und LKWs mit Verbrennungsmotor müssen verschwinden. Das WBGU drängt die G-20 Staaten vor ihrem Treffen in Hamburg, bis 2030 „die Zulassung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren auslaufen“ zu lassen und „bis 2020 alle staatlichen Subventionen für die Förderung fossiler Brennstoffe“ einzustellen und in alternative Energien fließen zu lassen. Klammer auf: Im G-7-Staat Deutschland muss natürlich wesentlich mehr getan werden als in den G-20-Staaten China und Indien. Klammer zu. Zudem muss die Gesellschaft ihren gesamten Strombedarf, der durch elektrifiziertes Heizen und elektrifizierten Verkehr weiter wachsen wird, in wenigen Jahren komplett aus regenerativen Energiequellen speisen. In der Landwirtschaft werden Kunstdünger-Emissionen und Methangase von Kühen nicht gänzlich eingespart werden können. Aber auch da braucht es Lösungen. Die Agrarindustrie-Lobbys werden keineswegs erfreut sein. In einem Land, in dem die politische Klasse eine grüne Partei Ende der 1990er Jahre wegen ihres Frevels, fünf Mark pro Liter Benzin ins Gespräch zu bringen, wie einen politisch Aussätzigen behandelte und den „Veggie-Day“ als Rückfall in die sozialistische Diktatur brandmarkte, ist eine Energie-Revolution kein Spaziergang. Das dürfte klar sein.

Es ist eine „Herkulesaufgabe“, für die die ganze Gesellschaft „unter Strom“ gesetzt und aktiviert werden muss. Denn dieser Umbruch findet nur statt, wenn die Menschen bereit sind, den notwendigen Klimaschutzplan aktiv mitzutragen, Energie zu sparen und die Wende als eine zu se-hen, für die sie sich bewusst entschieden haben, die solidarisch ausgerichtet und nicht auf dem Rücken der Schwachen ausgetragen wird. Weder die Energiemärkte noch ein wie auch immer gearteter „Klimawandel-Fukushima“ werden uns erretten und jährliche Reduktionsraten mehr als viermal so hoch wie bisher in der EU oder Deutschland initiieren. Oder anders formuliert: „Damit das Klimaziel von Paris erreicht werden kann, muss die zukünftige Rate der Dekarboni-sierung – gemessen als Reduktion der Kohlenstoffintensität (t CO2 pro Mio. € des BIP)  –  signifikant höher ausfallen als die in der Vergangenheit beobachtbare Rate. Zwischen 2000 und 2014 ist die globale Kohlenstoffintensität im Durchschnitt um 1,3% jährlich gefallen. Um eine Stabilisierung  der globalen Erwärmung unterhalb von 2°C zu erreichen, muss die Kohlenstoffintensität jedoch mit einer Rate von mehr als 6% pro Jahr reduziert werden.“ So das globale Transformationsszenario des WBGU. Das Beratungsgremium der Bundesregierung vergleicht den rasanten Abschied von fossiler Verbrennung daher mit der Abschaffung der Sklaverei. Das zeigt, worum es geht. Der Unterschied ist allerdings der Zeitdruck. Wenn die Revolution ausbleibt, werden wir, wie die EU-Kommission richtig feststellt, den zukünftigen Generationen ein Erbe mit „verheerenden Folgen“ hinterlassen.

Die Verantwortlichen für die Klimaschutz-Blockade sind offensichtlich. Die fossile Brennstoffindustrie, aber auch daran angeschlossen die Auto- und Luftfahrtindustrie, international operierende Tourismusunternehmen, energieintensive Konzerne oder Kohlefinanzierer wie die Deutsche Bank. Sie zeigen naturgemäß kein Interesse, ihr Geschäftsmodell fallen zu lassen, mit eigenen Investitionen massiv umzusteuern und nachzuzahlen für Jahrzehnte kostenloser Deponierung von Treibhausgasen in der Atmosphäre, mit der weiter Profite gemacht werden sollen, solange es irgend geht. Der US-amerikanische Klimaaktivist Bill McKibben nennt die, die trotz des planetaren Kollateralschadens sämtliche Öl-, Gas- und Kohlevorräte aus dem Boden her-vorholen wollen, um mit ihrer Verbrennung Billionen Dollar zu generieren, eine Schurkenin-dustrie. Eine ähnliche Bezeichnung verdienen aber auch Regierungen, die diesem Vorhaben assistieren mit Unternehmensprotektionismus und butterweichen Versprechungen, während sie sich von Zeit zu Zeit ein grünes Klimaschutz-Mäntelchen umhängen und die Bevölkerung mit Schlafliedern sedieren. Dazu kommt die Trägheit und Ignoranz einer politischen Klasse von Wissenschaftlern, Ökonomen, politischen Beratern, Beamten, Managern, Bankern, Rechtsanwälten, Ärzten, Journalisten usw., die nicht bereit ist, eine solidarische Energierevolution zu verhandeln bzw. anzumahnen, die ihre Energie-Privilegien in Frage stellt. Auch viele Linke haben Klimaschutz nicht auf dem Zettel, jedenfalls nicht so, wie es erforderlich wäre. Gewerkschaftsbosse machen derweil den Rottweiler für die Schurkenindustrie, wenn es darum geht, den Planeten weiter mit Schurkenprofiten zu destabilisieren.

Die Schurken blockieren weiter

Es versteht sich von selbst, dass Airbus, RWE, VW, BMW, Thyssen Krupp, Deutsche Bank, BDI oder BDA nicht „Hurra“ schreien bei kostenintensivem Klimaschutz und mithelfen, den Planeten zu retten. Sie haben seit dreißig Jahren systematisch bei jeder noch so kleinen Klimamaßnahme, die nicht ihren Interessen diente, abgeblockt und werden es weiter tun, da sie zu Recht fürchten, dass effektiver Klimaschutz sich für viele von ihnen nicht rechnen wird, jedenfalls kurzfristig. Auch die Machtzentren in Washington, Brüssel und Berlin müssen mit massiver Mobilisierung von unten gezwungen werden umzusteuern. Wenn die Regierungen der Industriestaaten nicht dazu gebracht werden können, umfassende Maßnahmenpakete zu schnüren, Finanzmittel bereitzustellen, Subventionen umzulenken und auf allen Ebenen Klimaschutz-Ordnungspolitik zu betreiben, wird der Crash schwer zu verhindern sein.

Die gute Nachricht ist, dass die Wende mit vereinten Kräften technisch und ökonomisch noch möglich ist – auch wenn den Bürgern zunehmend eingeredet wird, dass sie sich an das Scheitern gewöhnen sollen. Die Botschaft der politischen Fatalisten ist: „Kümmert Euch nicht ums Klima, geht an den Strand und genießt das Leben. Nach uns die Sintflut.“ Die schlechte besteht darin, dass der notwendige Druck für die Kursänderung bislang fehlt. Richtig ist zwar, dass viele Menschen, insbesondere die junge Generation, sich große Sorgen machen um die Zukunft der Erde. Aber wahr ist auch, dass sich die Gesellschaft in einem Schlafwandler-Modus befindet. Es gibt viele Gründe dafür. Einer ist, dass sich Klimawissenschaftler und Umweltverbände wie Chamäleons an das jeweils politisch Machbare angepasst haben. Sie dämpfen ihre Stimme in der Öffentlichkeit, bleiben bei ihren Forderungen vage und unterhalb dessen, was gemäß des 2-Grad-Ziels notwendig wäre. Sie entwickeln Plan-B-Strategien mit märchenhaften Zukunftstechnologien und geben uns das Gefühl, auch später noch umlenken zu können. Mit dem politisierten Aufhübschen der Realität, einem verwirrenden Zahlenbasar und einer „Schübchen-Mentalität“ wurde der Klima-Skandal immer wieder vertagt und die Bevölkerung paralysiert. Große Teile der Zivilgesellschaft haben schlicht versagt, gegen eine Schurkenpolitik klar und unmissverständlich die Stimme zu erheben und den politischen Entscheidern ihre Legitimität zu entziehen. Statt frühzeitig Alarm zu schlagen, die Sachlage deutlich zu benennen und die Bürger wach zu rütteln, ermahnen Klimaberater und Umweltorganisationen die Mächtigen in Europa höflich, wenn auch zunehmend verzweifelter, etwas mehr zu tun, um ihrer „Vorreiterrolle“ gerecht zu werden.

Wenn Schlafwandler erwachen müssen

Kann der Kurs aber überhaupt noch geändert werden? Wie gesagt, es ist letztlich eine Frage des politischen Willens. Als das Handelsabkommen TTIP zwischen der EU und den USA verhandelt wurde, ging die Zivilgesellschaft selbstbewusst, geschlossen und gut organisiert in die Offensive. Geheime Verhandlungsdokumente wurden geleakt. Schnell formierte sich ein breites Bündnis von Gewerkschaften, Verbraucherschützern, Kulturverbänden und unterschiedlichen sozialen und politischen Bewegungen. Das Oppositionsbündnis schlug frühzeitig Alarm, attackierte die TTIP-Befürworter, konterte Lobby-Manipulationen mit Aufklärung und Information, setzte die politisch Verantwortlichen massiv unter Druck und brachte schließlich die TTIP-Front auch in den Mainstreammedien in die Defensive. 250.000 Menschen gingen im Oktober 2015 in Berlin auf die Straße, noch einmal so viele 2016. Sie demonstrierten für ein Ende der Verhandlungen. TTIP wurde schließlich sang – und klanglos beerdigt.

Als die EU im Green Paper Prozess ihre Klimaziele 2013 festlegte, und damit den „reichsten Kontinent der Welt“ mit einer halbe Milliarde Menschen auf Crashkurs mit dem Planeten brachte, fand das ganze außerhalb der öffentlichen Wahrnehmung statt. Die Umweltverbände wurden marginalisiert bei den Beratungen, der „European Business Roundtable of Industrialists“ hatte leichtes Spiel, sich mit seinen Interessen durchzusetzen. Danach mahnten Schellnhuber, Greenpeace und Co. etwas mehr „Ambitionen“ an. Als die Staaten vor dem Pariser Klimagipfel ihre unverbindlichen Klimaziele bekanntgaben und klar war, dass die Industriestaaten, darunter die EU unter deutscher Führung, ihren Kurs nicht ändern werden, gingen zehn bis fünfzehntausend Menschen in Berlin auf die Straße. Erneut drückten sich die Umwelt-NGO‘s mit ihrer Forderung, doch etwas früher aus der Kohle auszusteigen, um die Dimension des Problems. Politik und Medien feierten das Abkommen von Paris schließlich als historischen Durchbruch. Klimawissenschaftler und Umweltverbände wollten die Show nicht stören und sprachen von ersten Erfolgen und richtigen Schritten – obwohl die Erde sich, wenn alles gut geht, mit den Pariser Zusagen um drei bis vier Grad Celsius in diesem Jahrhundert erwärmen wird. Der Skandal wurde erneut vertagt. Und damit auch die Chance, Druck aufzubauen, um die „nächsten Schritte“, also die umgehende Kehrtwende in den Industriestaaten, zu erzwingen.

Die real existierende „Selbstverbrennung“ darf derweil ungestört fortgesetzt werden, ohne dass Alarm geschlagen würde. So wurde in London kurz nach dem historischen Jubel-Klimagipfel entschieden, den Flughafen Heathrow zu erweitern. In Berlin wird es im September eine Volksbefragung zur Offenhaltung des Flughafen Tegels geben. Zumindest soll der neue BER Hauptstadt Airport, sobald er in Betrieb genommen wird, noch ausgebaut werden, um zusätzliche Kapazitäten für steigende Passagierzahlen zu schaffen. All das und vieles mehr schafft fossile Infrastrukturen, die die „nächsten Schritte“ extrem erschweren, wenn nicht ab einem bestimmten Punkt, der schon in einigen Jahren erreicht sein könnte, unmöglich machen. Wo ist der Widerstand dagegen? Wo sind die 50.000 Menschen, mobilisiert von Kommunen, besorgten Spitzenpolitikern und Umweltgruppen, die vor kurzem gegen das belgische Atomkraftwerk Tihange nahe Aachen auf die Straßen gingen? Dagegen wirken die Klimacamps in den Braunkohlerevieren im Rheinland und in der Lausitz wie versprengte Haufen. Diese Widerstands- und Oppositionsblockade muss aufgelöst werden. Denn die globale Erwärmung ist eine fortschreitende Strahlung, die über Jahrhunderte währt, jede Faser der Welt infiziert und bei Überdosis zum Kollaps führen wird. Da Kohlendioxid in allem steckt, was wir produzieren, ist der kalte Entzug nicht im Entferntesten vergleichbar mit anderen Umweltbedrohungen wie der saure Regen oder die schwindenden Ozonschicht. Diese Bedrohungen konnte quasi per Knopfdruck abgeschaltet werden.

Wir sollten nicht darauf vertrauen, dass andere die Initiative ergreifen. Selbst Klimawissenschaftler und Umweltverbände mit ihren wohlmeinenden Intentionen brauchen Druck, um aus dem Gehäuse des ökonomieverträglichen, evolutionären Klimaschutzes herauszukommen, in das Politik und eine neoliberale Ökonomie sie erfolgreich eingehegt haben. Es wird nicht einfach werden, einen anderen Kurs zu erzwingen. Das Ziel ist klar: Deutschland und die EU dürfen in zwanzig Jahren keine Treibhausgase mehr ausstoßen, um den Planeten einigermaßen stabil zu halten. Klimaschutz ist keine Tarifverhandlung, in der man sich in der Mitte treffen kann. Zudem müssen EU, USA und andere Industrieländer einen multilateralen Klimafonds einrichten, der diesen Namen verdient. Angemessene Abgaben und Steuern auf Treibhausgas-Müllberge, wie sie in extremen Energieverbrauch, aber auch in Vermögen und Erbschaften stecken, werden solidarischen Klimaschutz finanzieren müssen. Wenn wir unsere Regierungen dazu nicht bewegen können, diese Mittel zur Verfügung zu stellen, dann wird die Energierevolution im „Rest der Welt“ nicht stattfinden.

Klar ist: Die Wegmarken 2035 und 2050 sind nicht eine Frage des Wünschens sondern der Glaubwürdigkeit. Man kann nicht gegen gefährlichen Klimawandel ankämpfen und gleichzeitig Ziele sowie Wege akzeptieren, die nicht mit einem 2-Grad-Budget vereinbar sind. Solange das Budget noch zu erreichen ist, sollte dafür gekämpft werden. Wenn es definitiv außer Reichweite ist, beginnt ein noch härterer Kampf für 2,5 Grad. Einigkeit sollte es auch geben, dass nur eine solidarische Energiewende den Crashkurs verhindern kann. Das gilt nicht nur für das Verhältnis zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Hochemittenten, die 35 Tonnen CO-2 und mehr pro Jahr verbrauchen (der globale Durchschnitt liegt bei fünf Tonnen), werden einer Energie-Austerität unterworfen werden müssen, um das 2-Grad-Ziel noch erreichbar zu halten. Da das verbleibende Treibhausgas-Budget fix ist und wir nicht nachbessern bzw. auf unerprobte Risikotechnologien vertrauen können, sind zudem wasserdichte Lösungen gefordert. Der beste, wahrscheinlich sogar einzige Weg, den rasanten Umbau zu ermöglichen, ist daher staatliche Ordnungspolitik, Emissions-Obergrenzen für alle Sektoren und strikte Regulierungen, die beim Einsatz der Primärenergie ansetzen (nicht an den Auspuffen und Schloten) und den jährlichen nationalen Budgets angepasst werden. In diesem Rahmen können dann auch Marktmechanismen wie Kohlenstoffsteuern oder Emissionsmärkte eine Rolle spielen, vor allem für die Finanzierung des globalen Umbaus.

Verstörte Reaktionen und das Hoffen auf Demokratie

Eines sollte alle, die gegen gefährlichen Klimawandel kämpfen, bis ins Mark durchdringen: Unsere Generation ist die Generation 2035/2050. Wir haben als letzte die Möglichkeit, das Steuer herumzureißen. Diese Verantwortung können wir nicht externalisieren. Und auch daran sollten wir uns erinnern: „Es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie“, wie der ehemalige UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung Jean Ziegler zu Recht feststellt. „Das Grundgesetz gibt uns alle Waffen, die wir benötigen, in die Hand – wir müssen uns nur bücken und sie aufheben. Wir haben ein Streikrecht, wir haben Wahlen, wir haben ein Demonstrationsrecht und viele Rechte mehr. Wir können die Regierungen zwingen, diese Strukturreformen durchzuführen.“ Das gilt nicht nur für „Geierfonds“, die mit Nahrungsmitteln spekulieren. Die Waffen für die Energierevolution werden die Bürger aber nur dann aufheben können, wenn sie wissen, worum es geht. Sie werden nur mobilisiert, wenn sie die Dimension des Problems, den aktuellen Crashkurs ihrer Regierung, die Machenschaften der Schurkenindustrie, die Verantwortung der Industriegesellschaften sowie faire Lösungswege erkennen.

Ein dumpfes Gefühl hat sich im Hintergrund unserer Gesellschaft ausgebreitet, dass etwas falsch läuft und ein „Schübchen“ besser wäre. Das ist gut, aber reicht nicht. Die letzten dreißig Jahre zeigen das deutlich. Bei den anstehenden Bundestagswahlen spielt Klimaschutz praktisch keine Rolle, selbst bei den Grünen nicht. Niemand fordert die Dekarbonisierung der EU und Deutschlands in weniger als zwanzig Jahren. Niemand diskutiert über den „radikalen“ Weg zu diesem Ziel. Niemand rechnet vor, was uns die Dekarbonisierung im „Rest der Welt“ tatsächlich kosten wird. 800 Gigatonnen Kohlendioxid bleiben noch übrig. Wenn wir weiter so machen wie bisher, ist in zwanzig Jahren das Budget aufgebraucht. Dann beginnt das Zeitalter gefährlichen Klimawandels, der zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte das Überleben der Spezies Mensch in Frage stellen könnte. Vielleicht werden auf dem Weg dahin die Stimmen lauter werden, die wie das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ nach dem Kyoto-Abkommen 1997 meinen, dass der „Weltuntergang“ und die „prophezeite“ Katastrophe nicht eintreten wird und ein, zwei Grad über den „Durst“ gar nicht so schlimm sind – in Klammern: für uns im reichen Globalen Norden. Wer passionierte Schlafwandler weckt, muss damit rechnen, irrationale Reaktionen hervorzurufen. Auch darauf sollte man sich einstellen.

Wenn eine Oppositionsbewegung gegen den Crashkurs in den nächsten Jahren ausbleibt, die Druck auf die Führungen der Industriestaaten, die Schurkenindustrie und die Klasse der Hochemittenten ausüben kann, werden später Geborene auf unsere Zeit zurückblicken als die Epoche vor der globalen Erschütterung. Bill McKibben sieht die Welt daher in einer Art Belagerungszustand. “Was immer man unter Krieg versteht: Wir befinden uns in einem. Wir erleiden im wahrsten Sinne des Wortes Gebietsverluste. Inseln verschwinden buchstäblich vor unseren Augen. (…) Die Frage ist also nicht, ob wir uns in einem Konflikt befinden. Die Frage ist, ob wir dagegen ankämpfen oder ob wir weiter den Exxons dieser Welt zuzuhören und die Hände in den Schoß legen.“ Wenn der Kampf von Exxon und Co. entschieden wird, werden wir in dreißig Jahren, so wir dann noch leben, wohl gefragt werden, was wir damals, als das Zeitfenster noch offen stand, getan haben. Stromsparen und Mülltrennen wird als Antwort denen, die mit den Folgen gefährlichen Klimawandels leben müssen, nicht ausreichen. Sie werden wissen wollen, warum wir an der Seitenlinie verharrten und der Selbstverbrennung, wie Schellnhuber es formuliert, tatenlos zusahen.