07.06.2017
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Einleitung: 

In seiner Rede bei dem Kongress "Die kapitalistische Moderne herausfordern" in der Universität Hamburg spricht David Graeber über seine Erfahrungen mit der Bewegung für globale Gerechtigkeit, Occupy Wall Street und vor allem über seine Reise in die kurdisch geprägte Provinz Rojava im Norden Syriens. Dort ist es Kurden und anderen Gruppierungen gelungen, selbstverwaltete, basisdemokratische Strukturen aufzubauen, die bisher sowohl dem IS als auch dem Assad-Regime und den Angriffen der türkischen Regierung trotzen. Die Revolution in Rojava sei, so Graeber, auch deshalb bemerkenswert, weil sie Methoden entwickelt hat, um eine politische und wirtschaftliche Organisation von unten nach oben aufzubauen und bürokratische Hierarchien zu vermeiden. Dazu sei eine Doppelstruktur der Macht entstanden: Für den notwendigen Kontakt mit externen Institutionen gebe es eine staatsähnliche Struktur; doch nach innen seien nach wie vor die lokalen Räte die Entscheidungsträger. Damit könne Rojava zu einer wichtigen Inspirationsquelle für die Suche nach neuen Formen der Demokratie jenseits staatlicher Bürokratien sein.

Gäste: 

David Graeber, Professor für Anthropologie an der London School of Economics und Autor der Bücher "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" und "Bürokratie"

Transkript: 

Fabian Scheidler: Willkommen bei Kontext TV. Wir befinden uns hier in der Univerität Hamburg, wo die internationele Konferenz "Die kapitalistische Moderne herausfordern" stattfindet. Wir dokumentieren nun eine Rede von David Graeber. Graeber ist Professor für Anthropologie an der London School of Economics. Zu seinen jüngsten Büchern zählen "Schulden. Die ersten 5000 Jahre" und "Bürokratie". In seiner Rede spricht David Graeber über seine Erfahrungen mit der Global Justice Movement, Occupy Wall Street und seiner Reise in die kurdisch geprägte Provinz Rojava im Norden Syriens.

David Graeber: Ich wurde gebeten über Bürokratie, Klassengesellschaft und über die Gefahren zu sprechen, die die Revolution in Rojava bedrohen. Ich denke, dass dieses Thema sehr wichtig ist, da die Revolution in Rojava wahrscheinlich das bedeutendste Ereignis seit der spanischen Revolution in den 1930ern ist. Die Revolution in Rojava hat es übrigens schon geschafft, sich länger zu halten als die spanische Revolution. Ich denke, wenn das Embargo aufgehoben wird, wird man sich mit gewissen Problemen auseinandersetzen müssen, und es ist sehr wichtig für uns zu verstehen, was genau die heimtückischsten Gefahren sind, die uns bevorstehen.

Meine eigene Erfahrung mit der Bewegung für globale Gerechtigkeit und mit “Occupy Wall Street” war von der allmählichen Erkenntnis geprägt, dass diese beiden Bewegungen im Grunde Bewegungen gegen die Bürokratisierung sind. Der Kapitalismus nimmt immer mehr bürokratische Formen an. Wir haben das bemerkt, als die so genannten “Anti-Globalisierungs”-Proteste Ende der 1990er Jahre angefangen haben. Die so genannte Anti-Globalisierungsbewegung war natürlich keine Anti-Globalisierungsbewegung. Wir nannten uns die Globalisierungsbewegung.

Wir sahen es als unsere Aufgabe an, für die Auflösung von Grenzen und für menschliche Solidarität zu kämpfen, gegen ein System, dass sich als Globalisierung maskierte, aber eigentlich immer stärkere Grenzen gegen die Bewegung von Menschen und Ideen zog, um zu gewährleisten, dass das Kapital frei fließen und diese Grenzen ausnutzen kann. Mit der Zeit haben wir erkannt, dass wir es tatsächlich mit der ersten globalen Bürokratie zu tun hatten. Damit meine ich, dass es all diese Institutionen gibt, von deren Existenz die meisten Amerikaner keine Ahnung haben – Institutionen wie die Welthandelsorganisation, den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank – und dass es zwischen diesen Institutionen und transnationalen Konzernen, dem internationalen Finanzwesen, und auch NGOs, ein nahtloses Netzwerk gibt. Es ist das erste Mal in der Menschheitsgeschichte, dass es eine planetarische administrative Bürokratie gibt. Und sie beruht auf keiner demokratischen Verantwortlichkeit. Dieses System und wie es funktioniert, haben wir versucht aufzudecken. Das war auch der Grund, warum es diese gigantischen Veranstaltungen gegen den Kapitalismus gab, jedes Mal wenn sich der IWF oder die Weltbank getroffen haben. Diese Veranstaltungen sollten der Welt zeigen, wer diese Leute sind, die die Welt regieren, und dass wir versuchen dagegen zu kämpfen, und wie unser Modell einer echten Basisdemokratie aussehen könnte.

Wenn wir zehn Jahre zur Occupy-Wall-Street-Bewegung vorspulen, kann man sagen, dass es mehr oder weniger das Gleiche war. Natürlich haben wir nicht so darüber nachgedacht, als wir die Bewegung in Gang gesetzt haben, aber es wurde mit der Zeit immer klarer, dass wir es hier mit sehr ähnlichen Phänomenen zu tun haben. Die ein Prozent der Gesellschaft, die das gesamte wirtschaftliche Wachstum an sich gerissen haben, sind die Gleichen, die auch das politische Geschehen bestimmen. Ungefähr 99 Prozent des politischen Einflusses kommen von ein Prozent der Gesellschaft. Diese Menschen haben also im Prinzip das politische System gekauft. Besonders die US-amerikanische Politik ist ein System von institutionalisierter Bestechung. Diese Menschen haben ihren Reichtum in Macht und ihre Macht wieder in Reichtum umgewandelt. Sie haben ständig Situationen hervorgerufen, in denen sie die Regierung als Werkzeug benutzen konnten, um Reichtum zu extrahieren.

Kapitalismus selbst funktioniert also inzwischen anders. Der Profit von den größten Wall-Street-Konzernen war immer weniger ein Produkt des Handels oder gar der Produktion, sondern immer mehr vom Finanzmarkt. Aber der Finanzmarkt ist nichts anderes als die Schulden anderer Leute. Und Schulden mussten durch eine bestimmte Politik hergestellt werden, durch vorsätzliche Maßnahmen. Die Bürokratie wurde also als Werkzeug zum Extrahieren von kapitalistischem Mehrwert benutzt. Dieses globale System, das Schulden produziert und aufrechterhält – und auch andere Methoden um Ressourcen abzuschöpfen – ist jeglicher demokratischer Verantwortlichkeit entzogen.

All das erschien mir sehr wichtig, als ich vor zwei Jahren die Region Rojava im Norden Syriens besucht habe, weil dort ähnliche Bürokratien am Werk waren. Es wurde mir klar, dass in dieser Region ein gewisses Spiel gespielt wird. Dieses Spiel wird von wirtschaftlichen Bürokratien, von militärischen Bürokratien und auch von humanitären Bürokratien – die zum gleichen Netzwerk gehören – geleitet. Es besteht darin, Bilder von Terror und menschlichem Leiden herzustellen, und diese beängstigenden und herzzerreißenden Bilder in den Medien zu verbreiten und zu vermarkten. Diese Bilder kann man dann dafür benutzen, an Waffen, Unterstützung und Geld heranzukommen – und um Ressourcen, vor allem Erdöl, zu kontrollieren. Das Ganze ist eine hierarchisch organisierte Umverteilung von unten nach oben. Das kann man sehr gut sehen, wenn man zum Beispiel nach Bashur im Irak geht. Das ganze Spiel, das der IS bzw. Daeesh gespielt hat, und das auch die verschiedenen Regierungen auf verschiedene Art und Weise gespielt haben, war einzig und allein für die Medien. Es ist sehr offensichtlich, dass die Jungs von Daeesh zu viele Hollywoodfilme gesehen haben. Sie haben versucht, eins zu eins das Bild, das der Westen vom absolut Bösen hat, zu reproduzieren. Es war alles ein Teil des Spieles „Manipulation der Bilder“.

Als ich mit den Leuten von der kurdischen Freiheitsbewegung in Rojava gesprochen habe, ging es darum, wie wir es schaffen können, ein anderes Spiel zu spielen, wie wir aus diesen Zwängen ausbrechen können. Ich kann mich noch gut an ein Gespräch erinnern, in dem es um Erdöl ging, das es in Rojava en masse gibt. Zu der Zeit konnten sie es nicht exportieren wegen dem Embargo. Deswegen meinten sie: „Weisst du, wir könnten das Erdöl verkaufen und die Netzwerke nutzen, die alle anderen auch nutzen, aber vielleicht können wir ja auch etwas anderes damit machen. Könnten wir es nicht zum Beispiel verschenken?“ Ihre Art kreativ zu sein, besteht darin, die Spielregeln zu brechen, und das ist es, um was es in dieser Revolution geht. Und das hat mir erlaubt, das, was in Rojava passiert, in einem anderen Licht zu sehen. Paradoxer Weise gab dort eine Menge Leute, die das Gefühl hatten, dass die Blockade, auch wenn sie auf humanitärer Ebene schrecklich ist, trotzdem einige Vorteile bringt.

Als ich mir mehr Gedanken darüber gemacht habe – und auch meine eigenen Erfahrungen noch mal überdacht habe –, bin ich auf eines der zentralen Probleme gestoßen, denen revolutionäre Bewegungen begegnen: Wie kann man mit größeren bürokratischen Institutionen, die ja letztlich Zwangsgewalt beinhalten, umgehen? Diese Bürokratien sind mittlerweile wie die Luft zum Atmen für den Kapitalismus, sie sind seine Bausubstanz. Wir müssen mit ihnen umgehen, weil wir bestimmte Ressourcen brauchen, aber gleichzeitig müssen wir Strukturen erschaffen, die sicherstellen, dass die Bürokratien uns ihre Logik nicht aufzwingen. Und das ist genau das, was sie in Rojava versuchen. Es gibt zwei Machtstrukturen dort: Auf der einen Seite die Selbstverwaltung, die genauso aussieht wie eine Regierung. Sie hat ein Parlament, Minister, sie hat den ganzen formalen Apparat einer Regierung. Und dann gibt es noch die basisdemokratischen Strukturen, die Strukturen des demokratischen Konföderalismus, der Räte, die aus drei verschiedenen Stufen von Delegierten bestehen, von den niedrigen bis zu den hohen Räten. Auf den ersten Blick sieht diese Verfassung nicht gerade wie ein Gegenmodell zum Staat aus, sondern eher genauso wie ein Staat. Viele Leute waren deshalb sehr kritisch. Aber wenn man genauer hinschaut, sieht man diese zwei Strukturen: Auf der einen Seite gibt es die staatsähnliche Struktur, die notwendig ist, um mit Außenstehenden zu verhandeln. Auf der anderen Seite haben die Leute in Rojava darauf bestanden, dass es sich nicht um ein Staats-Projekt handelt. Das ist zum Beispiel daran erkennbar, dass jeder, der eine Pistole trägt, jeder der mit Gewaltbefugnissen ausgestattet ist, den basisdemokratischen Strukturen, den Räten, verantwortlich ist und nicht den regierungsähnlichen hierarchischen Strukturen. Das ist das Besondere, der Schlüssel zu der Revolution in Rojava – und möglicher Weise etwas Einzigartiges in der Geschichte. Es ist im Prinzip eine duale Machtstruktur, in der die gleichen Leute diese beide Gewalten geschaffen haben und kontrollieren.

Das wurde mir besonders bewusst, als ich in Qamischli war: Ein Teil der Stadt wird immer noch von der Zentralregierung kontrolliert, hauptsächlich kontrolliert sie den Flughafen. Ich habe mich erst gewundert, aber dann habe ich gesehen, dass es Sinn macht. Denn, was fängt man mit nur einem Flughafen an? Wenn es zwei Flughäfen gäbe, könnte man zwischen diesen Flughäfen hin und her fliegen. Aber wenn man nur einen hat, kann man nirgendwohin fliegen, weil man internationale Abkommen unterschreiben müsste. Man bräuchte zum Beispiel Sicherheitsabkommen, Wirtschaftsabkommen usw. Das wiederum kann man nur machen, wenn man ein Staat ist. Diese bürokratischen Mechanismen sind auf einer gewissen Ebene sinnvoll und nützlich, zum Beispiel um zu verhindern dass Flugzeuge abstürzen – und in Rojava gibt es natürlich erhebliche Sicherheitsrisiken. Aber um solche Abkommen abschließen zu können, muss man trotzdem eine bestimmte Form haben, nämlich die eines Staates, um mit ihnen interagieren zu können. Man braucht also eine Art Membran, eine Struktur, die auf der einen Seite mit allen internationalen Institutionen umgehen kann, die ein Mindestmaß an staatlicher Ordnung verlangen, auf der anderen Seite aber den basisdemokratischen Räte-Strukturen gerecht wird, die das Lebenselixier von Rojava sind und es zu einem so leuchtenden und historisch hoffnungsvollen Experiment machen.

Die meisten Auseinandersetzungen, die ich in Rojava mitbekommen habe, hatten damit zu tun. Ich werde nur zwei erwähnen, die mich besonders beeindruckt haben. Die erste Situation entstand, als wir uns mit den Leuten trafen, die die wirtschaftlichen Dinge koordiniert haben, einer von ihnen und war so etwas Ähnliches wie ein Wirtschaftsminister. Man sprach über die schrecklichen Auswirkungen des Embargos, über die Notwendigkeit, Zugang zu Technologien zu bekommen, und den Wunsch, internationale Beziehungen zu pflegen. Natürlich macht das alles Sinn, die wirtschaftliche Lage war desolat. Aber im Nachhinein bemerkte ein Kollege aus meiner Delegation, der letztes Jahr auch schon dort war, dass die Argumentationsweise sich absolut vom vorherigen Jahr unterschied. Letztes Jahr meinten dieselben Leute, dass das Embargo sich eher als Segen erwiesen habe, da es zur Schaffung von autonomen Institutionen und dadurch zu mehr Autarkie geführt hätte.

Ich habe festgestellt, dass das ein zentraler Streitpunkt ist. Es gibt Leute - und ich rede von sehr gebildeten Leuten, die um die ganze Welt gereist sind – die Rojava als Mittelpunkt eines weltweiten Netzwerks sehen, mit wirtschaftlichen, politischen und sozialen Beziehungen mit dem Rest der Welt. Und die waren ja auch dringend notwendig, denn ohne bestimmte Ersatzteile zum Beispiel drohte die Infrastruktur zusammenzubrechen. Auf der anderen Seite gab es Gruppierungen, die die Isolierung für einen akzeptablen Preis für ihre Freiheit ansahen, um solch ein autonomes Experiment überhaupt durchzuführen zu können. Die zweite Situation, in der ich Auseinandersetzungen von diesem Typ mitbekommen habe, war bei einer der Versammlungen, an denen wir teilgenommen haben. Man hat sofort gemerkt, dass das keine für uns inszenierte Versammlung war, sondern dass es die wahre Situation widerspiegelte. Menschen waren wütend und haben sich angeschrien. Es handelte sich also nicht um gestellte Demokratie, sondern es war echt. Worüber sich die Menschen am meisten aufgeregt haben, war die “Asa’ish”, grob übersetzt die Polizei, die für interne Sicherheit in Rojava zuständig ist. Es gab eine Situation, in der einige Leute die Asa’ish rufen mussten. Es ging um jemanden, von dem behauptet wurde, er würde Zucker horten, und sie wollten in sein Haus, um das zu überprüfen. Der Polizist, der dann bei der lokalen Versammlung auftauchte, meinte, er könne diese Aktion nicht durchführen, ohne seinen Vorgesetzten um Erlaubnis zu fragen. Da wurden die Leute von der lokalen Versammlung richtig sauer und meinten: „Wovon redest Du? Das wäre ja eine Hierarchie von oben nach unten. Du hast Dich nicht irgendwelchen Vorgesetzten gegenüber zu verantworten, sondern uns gegenüber. Wir sind die lokale Gruppe.” Es ging darum, die Jungs von der Asa’ish daran zu erinnern, dass die Mitglieder der lokalen Versammlung die wahren Vertreter der Macht sind, vor der sie sich zu verantworten haben.” Die Gefahren der “Top-Down”-Logik sind also tief im Bewusstsein verankert, die Leute wissen, wie schnell man in Staatsstrukturen zurückfallen kann, wenn man nicht ständig auf der Hut ist. Ich finde, das war unglaublich wichtig, weil es zeigt, was hier wirklich auf dem Spiel steht. Es gibt einen enormen Druck, sich größeren Systemen zu fügen. Internationale Beziehungen sind unabdingbar, und gleichzeitig zwingen sie einem immer eine bestimmte Herangehensweise auf, die eher von oben nach unten als von unten nach oben funktioniert.

Noch eine Sache: Nach meiner Abreise habe ich mir Berichte über die Menschenrechte in Rojava angeschaut und bin darauf gestoßen, dass Human Rights Watch einen sehr kritischen Bericht geschrieben hat. Eines der Dinge, die sie bemängelt haben, war, dass die Leute den internationalen Normen für Gerichtsverfahren nicht gerecht werden. Das fand ich sehr bezeichnend, weil die Leute in Rojava versuchen, ein radikal anders aufgebautes, basisdemokratisches Justizsystem zu schaffen, das auf Konsensprinzipien und Prinzipien der Wiedergutmachung beruht, und Rache und Vergeltung zurückzudrängen versucht. Dieses Experiment zu beginnen, ist sehr schön und historisch unglaublich wichtig, und gleichzeitig ist es aus Sicht der Menschenrechtsorganisation ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Den Menschenrechtsleuten geht es darum, Schutz vor der Staatsgewalt zu gewährleisten. Aber dieser Schutz vor der Staatsgewalt geht von der Existenz einer Staatsgewalt aus. Die Abwesenheit von Staatsgewalt ist aus Sicht von Human Rights Watch genauso ein Verstoß gegen die Menschenrechte wie unkontrollierte Staatsmacht. Ich denke, das zeigt - wie im Falle des Wirtschaftsministers - dass auch wohlwollende Menschen daran mitwirken können, dass eine gewisse Staatslogik wieder Einzug hält und das ganze Projekt gefährdet.

Nachdem wir zehn Tage in Rojava war – eine sehr kurze Zeit – , haben uns die Leute gefragt, ob wir ihnen Rückmeldung geben könnten, was sie besser machen können und wovor sie sich in Acht nehmen sollten. Wir haben uns darüber unterhalten und haben eine Liste von Gefahren erstellt, besonders in Bezug auf die Gefahr, dass Politiker wieder an die Macht kommen sollten. Wie gewährleistet man, dass bei einem Delegierten-System nicht wieder politische Spezialisten entstehen und sich eine Politikerklasse bildet? Denn das Delegierten-Dasein kostet viel Zeit, und nicht jeder kann deshalb diese Funktionen übernehmen. Ein weiterer Punkt war der, den ich schon angesprochen hatte: Wie schafft man eine Membran zwischen den basisdemokratischen und den staatsähnlichen Strukturen, um zu verhindern, dass sich eine zwar oft gutgemeinte aber dennoch außerordentlich gefährliche schleichende Bürokratisierung entwickelt. Und als letztes die Frage der sozialen Klassen. Wenn wir in Rojava den Begriff der Klasse, der Klassengesellschaft erwähnt haben, war die Reaktion der Menschen eher: „Oh nein, nicht schon wieder…” Diese alten marxistischen Debatten sind in der Tat sehr anstrengend und oft unnötig, da stimme ich zu. Aber wenn man die Frage der Klassenzugehörigkeit komplett fallen lässt, kann das mindestens genauso gefährlich sein. Nach dem Ansatz des französischen Soziologen Pierre Bourdieu beispielsweise gibt es verschiedene Formen des Kapitals. Es gibt ökonomisches Kapital, soziales und kulturelles Kapital. Es gibt bestimmte Leute, die internationale Kontakte haben und wissen, wie man mit bestimmten Situationen und Menschen umgeht – und die am Ende mit den besten Absichten Hierarchien wieder einführen werden. Ich denke, eines der wichtigsten Dinge ist herauszufinden, wie man das vermeiden kann.

Wir hatten genau das gleiche Problem bei den beiden Bewegungen, von denen ich vorher gesprochen habe, der Bewegung für globale Gerechtigkeit und Occupy Wall Street. Es gibt eine Tendenz zur internen Bürokratisierung. Menschen fangen an, Prozesse und Prinzipien so zu behandeln, als seien sie feste Regeln, die man befolgen müsste. Und je häufiger das vorkam, haben wir festgestellt, desto mehr haben sich Menschen aus der oberen und mittleren Gesellschaftsschicht, die einen professionellem Hintergrund hatten, wohl gefühlt, während Menschen aus weniger elitären Verhältnissen sich weniger willkommen gefühlt haben und die Versammlungen verließen. Das ist eine ständige Gefahr in jeder sozialen Bewegung, außer wenn es einem sehr bewusst ist. Paradoxerweise hat das Embargo in Rojava dazu geführt, eine neue Art von Gesellschaftsstruktur auszuprobieren. Die wahren Herausforderungen werden sich dann zeigen, wenn diese Gesellschaft sich der Welt gegenüber wieder öffnen kann und die Menschen dort einen Weg finden müssen, wie sie diese wunderbare basisdemokratische Energie beibehalten können, ohne dass die schleichende Bürokratisierung Überhand gewinnt. Ich denke, es ist sehr wichtig, sich darüber Gedanken zu machen.

(Übersetzung aus dem Englischen: Amira Ragab und Fabian Scheidler)