12.04.2021

Debatte um Corona-Relativismus

Von: David Goeßmann

 

Auf den Artikel „Corona-Relativismus“ von David Goeßmann gab es eine Reihe von kritischen Zuschriften. Dabei wurde die Sachlage oft sehr anders als im Artikel bewertet. Eine Leser-Mail soll stellvertretend in leicht gekürzter Version angeführt werden. In einer Antwort darauf greift der Autor einige Kritikpunkte ausführlicher auf, um die Argumentation transparenter zu machen. Die Zuschrift wurde anonymisiert, auf die Veröffentlichung einer abschließenden Reaktion wurde verzichtet.

 

Reaktion auf den Artikel „Corona-Relativismus“

Ich bin sehr enttäuscht von diesem Aufsatz. Eigentlich wäre das passende Wort: entsetzt. Entsetzt dass ein Autor, den ich schätze, so etwas schreibt. Entsetzt von so viel pauschalen Abgrenzungsmomenten. Entsetzt, dass nicht mal die wissenschaftliche Gepflogenheit, Quellen zu nennen, respektiert wird (kaum Quellen über die kritisierten Aussagen und die Fundierung der eigenen Sicht! bitte insb. um die Quelle über Chomsky). Und entsetzt, dass die Kritik am falschen Management der Pandemie sehr lau und knapp ist und die einzige Alternative anscheinend darin bestehen soll: "mehr Lockdown"?

Mehr Lockdown? wie eng ist diese Sicht !!!

1. für welche Länder soll es gelten? Sollen diese Länder sich gegen die anderen Länder abschotten? wie?  bzw. wie soll es in den Ländern des globalen Südens aber auch in den prekären Stadtvierteln des Nordens gehen, wo zu "wählen" ist zwischen Hungerstod und der Gefahr eine Infektion?

2. die nächsten Pandemien kommen bestimmt - dafür hat einen Teil der Menschheit so viel zerstört, steuert auch nicht radikal um, abgesehen davon, dass selbst dann es zur faktischen Veränderung noch Jahre dauern würde. Dann immer wieder Lockdown? Wäre es nicht an der Zeit, phantasievoller die anderen Ansätze zu verfolgen, statt absolutistisch "Lockdown" betreiben zu wollen? 

3. die Folgen der bisherigen Lockdown sind real und katastrophal - aber in diesem Aufsatz werden sie ignoriert.

Zu den Toten: Der Satz ist einfach falsch: " Das sind die Auswirkungen des Virus trotz weltweiter Lockdowns, Shutdowns, Kontakteinschränkungen, Massentests, strikten Hygieneauflagen, Kontaktverfolgungen, Quarantäne und Isolierungen für Infizierte und Kontaktpersonen, Grenzschließungen und zum Teil extrem runter gefahrener Wirtschaftstätigkeit." Nicht "trotz", sondern weil in manchen Ländern die Menschen sich Schutzmaßnahmen leisten konnten und hier in Europa immer wieder in Kauf genommen wurde, dass Infektionsherde entstehen (Betriebe, Geflüchtetenheime, Alterheime, volle Busse, keine Halbierung der Schulklassen und feste Bezugspersonen, .... ) 

"Es geht um einen breiten gesellschaftlichen Frust, der sich zunehmend, besonders in Krisenzeiten, irrational entlädt." - ja, aber wie es sich entwickelt hängt auch von dem Vorgehen der gesellschaftlichen Linke ab.

Die erwähnten Kleinbürger werden mit einem solchen Aufsatz, mit solchen abwertenden Abgrenzungen, die die Not nicht sehen,  in die Arme der FDP oder der AFD getrieben. Aber auch die sehr prekär lebenden Menschen.

(…)

Das Starren auf die Covid-Pandemie blendet übrigens weitere akute gesundheitliche und auch psychische Probleme aus, spaltet - Ich ziehe es vor, den Ansatz "Gesundheit für alle" zu verfolgen, der Brücken schafft.

Was als "die Wissenschaft" darstellt wird, negiert die Kontroversen unter WissenschaftlerInnen aus - und die Frage wäre viel mehr: bei aller Unklarheit und Unschärfe, was ist zu tun? Denn natürlich soll das Vorsorgeprinzip gelten, das aber im Aufsatz gleichgesetzt wird mit Lockdown. Lockdown ... aber die ÖPNV Busse sind voll, Lockdown ... aber die besseren FFP2 Masken sind erst seit November als die bessere gepriesen, Lockdown ... und es hat so lange gedauert bis solche Masken zumindest einem teil der Bevölkerung kostenlos gestellt worden sind, Lockdown ... aber die gemeinsame Unterbringung von Geflüchteten, von Obdachlosen bleibt, Lockdown ... aber die Pflegepersonen werden erst seit kurzem regelmäßig getestet (mit Lücken....) . Geht doch lieber gegen diese NICHT-Vorsorge  auf die Barrikade!

Im letzten (!) Absatz steht: "Die Aufgaben, die in den nächsten Jahren vor uns stehen, sind gewaltig." Ich hätte es gut gefunden, darüber mehr zu lesen als diese inquisatorische Rhetorik für "DIE" Wissenschaft.

Ob meine Worte was nutzen, weiß ich nicht - Eine Bitte: kommt raus aus dieser Blase wo es nur noch Covid als Problem gibt, wo die Nöte vieler Menschen nicht gesehen werden.

 

Antwort von David Goeßmann

Danke für das Feedback – auch wenn es eine Kritik ist. Hier ein paar Hinweise, die vielleicht helfen können, meine Position deutlicher zu machen.                                                                        

Vorab: Meine Motivation für die Analyse war, dass ich mich einer kritischen Gegenöffentlichkeit verpflichtet fühle, aber feststellen musste, dass dort seit einem Jahr die Pandemie verharmlost und Schutzmaßnahmen diffamiert werden. Die Verharmlosung sehe ich als Problem, nicht die Diskussion über die Ausgestaltung des Schutzes. Ich habe bis zu dem Blog nichts dazu veröffentlicht. Ich denke wie Sie, dass es Dauer-Probleme und -Krisen gibt, die nach der Pandemie zu lösen sind und weit gravierender sind. Wir schien es dann aber doch wichtig, vor dem Hintergrund der Relativierungen meine Position zur Pandemie und dem Umgang damit deutlich zu machen.

Ich habe keinen wissenschaftlichen Text schreiben wollen, daher nur sehr wenige Hinweise auf Quellen, wo es mir sinnvoll erschien. Die Aussage von Noam Chomsky finden Sie hier: https://jacobinmag.com/2020/12/noam-chomsky-fight-the-class-struggle-or-get-it-in-the-neck/. Eine zentrale These, nämlich dass die Lockdowns richtig waren und Millionen Menschen das Leben retteten, habe ich aber mit einigen Quellen belegt. Die anderen Aussagen und das Kritisierte kann ich natürlich auch belegen. Dass ich einzelne Aussagen wie die von Augstein nicht Stück für Stück erörtere und als Methode der Verharmlosung argumentativ einhole (z.B.: Wir wissen nicht, ob die Coronatoten wirklich am Virus gestorben sind, weil es keine Obduktionen gab – tatsächlich gibt es erste Obduktionen, die die Verdächtigungen als haltlos herausgestellt haben[1]), hängt damit zusammen, dass solche Versatzstücke der Coronaleugner als Irreführungen schon offengelegt worden sind. Ich wollte mich, aus Platzgründen, mir wichtiger erscheinenden Aspekten zuwenden.                                                                                                                        

Vielleicht sollte ich auch darauf hinweisen, dass der Blog keine Stellungnahme aus dem Bauch heraus ist. Seit einem Jahr verfolge ich die internationale Debatte. Vor allem habe ich regelmäßig verfolgt, was auf alternativen Informationsplattformen in Deutschland, die ich im Artikel nenne, zur Krise geschrieben und kritisiert wurde. Ich habe die Aussagen überprüft, wenn mir etwas komisch vorkam, und verglichen mit dem, was international dazu gesagt wurde. Wenn Sahra Wagenknecht z.B. heute noch auf Focus Online (einem konservativen Medium, das Stimmung gegen Lockdowns macht) bezweifelt, dass der Winter-Lockdown wirklich nötig gewesen ist, weil man gar nicht wisse, ob Restaurants, Cafés, Hotels, Geschäfte usw. Infektionen befördern, dann reichen zwei Minuten Google-Suche, um die Behauptung als falsch zu widerlegen.[2] Ich habe darüber hinaus Studien und Empfehlungen von Wissenschaftlern in Europa und den USA gelesen. Meine Position basiert auf dem, wenn man so will, kleinsten gemeinsamen Nenner, der sich aus diversen Einschätzungen, Ländervergleichen und epidemiologischen Erkenntnissen ergibt. Ich konnte all das nicht Einzeln im Artikel auseinandernehmen. Mir ging es vielmehr darum, grob den Rahmen zu zeichnen und meine Kritik an Hauptpunkten zu verdeutlichen. Bevor ich also auf Ihre Einwände eingehe, ein paar Anmerkungen zu dem kleinsten gemeinsamen Nenner, wie er sich für mich darstellt. Darauf basiert ja meine Kritik am Corona-Relativismus.

Die Epidemiologen überall auf der Welt sahen schnell, dass der Covid-Virus eine globale Bedrohung ist. Sie empfahlen, um Massensterben und eine Gesundheitskatastrophe zu verhindern, die Verbreitung des Virus so gut es geht zurückzudrängen und in Schach zu halten, bis ein Impfstoff gefunden ist. Heute zeigen Studien: Dort, wo die Politik sofort planvoll, effektiv und zum Teil sehr einschränkend Kontakte verhindern konnte, wurde die Krise besser gemeistert. Das gilt vor allem für einige asiatische Staaten, aber auch auf andere Weise für Neuseeland oder Australien. In diesen Ländern gab es in der Bevölkerung und Gesellschaft insgesamt zudem eine weit höhere Bereitschaft, die partiell sehr restriktiven Maßnahmen zur Gesundheitsvorsorge im Zuge der Pandemie aktiv mit zu tragen. Sie tun das bis heute präventiv, in einer Situation, wo in China zum Beispiel gar keine Infektionen und Tote in nennenswerter Weise zu verzeichnen sind. Wenn die Infektionszahlen aber auch in asiatischen Gebieten außer Kontrolle gerieten, war ein Lockdown dort ebenfalls unvermeidbar. Er wurde von den Expertengremien der Regierungen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse empfohlen, um eine Krisenexplosion zu vermeiden.[3]

In Europa und den USA ist die Lage eine andere. Die Krise wurde lange nicht ernst genommen. Man glaubte sich unverwundbar und tat Epidemien ab als Problem des Globalen Südens. Man hatte auch keine Erfahrungen mit Virus-Krisen wie Staaten in Südostasien, die ihre Gesundheitssysteme nach SARS etc. Pandemie-resilient ausbauten, weil sie wussten, dass weitere Epidemien folgen werden. Die neoliberale Aushöhlung des Medizinsektors im Globalen Norden tat ihr Übriges. In den Industriestaaten wurde schließlich lange nicht das Notwendige getan (Maskenpflicht für alle, strenge Hygienekonzepte für alle Sektoren inklusive Bereitstellung von Expertise und Finanzmitteln, Massentests plus strikte Nachverfolgung, Quarantäne außerhalb der Familie und Teilschließungen bei Infektionsclustern sowie konsequenter Schutz von Risikogruppen). Vorsorge blieb aus – die Warnung der Weltgesundheitsorganisation auf höchster Warnstufe gab es ja schon im Januar. Die Bevölkerung wurde beruhigt und nicht in Alarmbereitschaft versetzt. In der Öffentlichkeit wurde die Gefährdung verharmlost oder gar nicht thematisiert. [4]

Das Resultat war eine unkontrollierte Infektionsbeschleunigung über Wochen und eine unvorbereitete Gesellschaft. In den Ländern, in denen selbst dann noch weiter relativiert und gezögert wurde, statt die Notbremse zu ziehen, sprich eine Form von Lockdown zu verordnen, mussten danach extrem harte Maßnahmen (Shutdowns) über einen längeren Zeitraum ergriffen werden, um überhaupt wieder einigermaßen Kontrolle zu erhalten. Siehe Italien, Großbritannien und Co. Trotzdem starben bei ihnen Zehntausende Menschen in kurzer Zeit. Nicht wegen des Lockdowns, sondern wegen fehlender Vorsorge (also entschlossener Eindämmungspolitik zur rechten Zeit, siehe die oben angeführten Maßnahmen), nachlässiger Sorglosigkeit in Gesellschaft und Bevölkerung (befördert von falschen politischen Botschaften), dysfunktionalen Gesundheitssystemen sowie zu spät ergriffenem Lockdown in einem längst eskalierenden Infektionsgeschehen. Die USA unter Trump sind dabei eine Art Pandemie-Failed-State, der so gut wie alles falsch machte. Das ist die Meinung von Wissenschaftlern und Experten in den USA, nicht meine Privatmeinung. Wenn nicht fast alle 50 US-Bundesstaaten von sich aus temporäre Lockdowns verhängt hätten, hätte die Trump-Regierung ein noch größeres Desaster mit deutlich mehr Opfern angerichtet. Insgesamt starben wegen der verfehlten Pandemie-Politik und meist zu später, zudem ineffektiv ausgestalteter Notbremse-Lockdowns weit mehr Menschen in vielen Industriestaaten (je neoliberaler, je weniger Staat, umso schlimmer) im Zuge der ersten Welle als in China, wo es von Anfang an eine wirkungsvolle Mischung von sehr restriktiven Teil-Lockdowns, „Big-Brother“-Nachverfolgungen und äußerst resoluten, zentralstaatlich vorgeschriebenen Quarantäne-Maßnahmen gab.[5]

Das ist der Hintergrund, vor dem ich die Verharmlosung der Pandemie, die pauschale Ablehnung von Lockdowns und restriktiven Maßnahmen kritisiere. Was immer man von den wissenschaftlichen Empfehlungen und den ergriffenen Maßnahmen in Deutschland hält (vieles davon ist natürlich diskussions- und kritikwürdig, worauf ich hinweise, es betrifft die Ausgestaltung), halte ich es für problematisch und verfehlt, die Pandemie dabei zu relativieren und Schutzmaßnahmen als Willkürakte zu verdächtigen. Was mir bei der pauschalen Anti-Lockdown-Haltung fehlt, ist die Einbettung in die Pandemie-Dynamik, die Berücksichtigung der jeweiligen Umstände und Spielräume, unter denen restriktive Schutzmaßnahmen und auch Lockdowns ergriffen wurden, und vor allem die Gleichgültigkeit gegenüber dem, was die weltweiten Expertengremien und meisten Fachwissenschaftler zu sagen haben. Bis heute wird Zweifel gesät, obwohl die Annahmen, die das Virus als gar nicht oder kaum bedrohlich einschätzen, sich im Nachhinein als nicht haltbar erwiesen haben. Wäre man den Skeptikern gefolgt, wäre der Schaden sehr viel größer, als er eh schon ist. Erinnern wir uns, was so alles gesagt wurde: Das Coronavirus ist nicht mehr als eine Grippe. Mundschutz bringt nichts. Deutschland ist nicht besonders gefährdet. Lockdowns bringen nichts. Es sterben kaum Menschen am Coronavirus. Natürliche Herdenimmunität ist der bessere Schutz. Eine zweite Welle ist nicht in Sicht. Alle diese Thesen haben sich heute als nicht richtig herausgestellt.

Nun zu den Einwänden: Sie stoßen sich vor allem daran, dass ich Lockdowns als Schutzmaßnahme in der Pandemie verteidige. Sie sagen, ich würde „mehr Lockdown“ als einzige Alternative zum schlechten Management der Pandemie favorisieren. Das ist so nicht richtig. Ich bin natürlich kein Fan von Lockdowns und zentralstaatlichen Restriktionen. Ich will nicht immer mehr Lockdown. Absolut nicht. Auch Epidemiologen sind nicht für Lockdowns. Lockdowns sind immer das letzte Mittel und werden nur dann von Experten empfohlen und Regierungen angewandt, wenn das Infektionsgeschehen exponentiell wird. Es ist eine Notbremse, die nur im Notfall gezogen wird. Warum? In einer außer Kontrolle geratenen Pandemie ist strikte Kontaktbeschränkung, zum Teil sehr schmerzhafte, staatlich eingeforderte, der einzige Weg, um ein größeres Übel zu verhindern. Wer das wissenschaftliche worst-case-Szenario anzweifelt und sagt, es gibt keine wirkliche Bedrohung durch eine freilaufende Pandemie, keinen drohenden Massentod und Kollaps der Gesundheitssysteme weltweit, wenn Infektionen exponentiell nach oben schießen, der sieht in den Restriktionen natürlich staatliche Willkür oder irrationale Überreaktionen. Studien, auf die ich im Text hinweise, zeigen heute aber, dass die Lockdowns in der ersten Welle effektiv und notwendig waren, das Infektionsgeschehen unter Kontrolle bringen konnten und Millionen Leben schützten. Eine Untersuchung des Imperial College in London widmet sich z.B. einigen europäischen Ländern. Der Studienautor Seth Flaxman stellt fest: „Using a model based on data from the number of deaths in 11 European countries, it is clear to us that non-pharmaceutical interventions– such as lockdown and school closures, have saved about 3.1 million lives in these countries. Our model suggests that the measures put in place in these countries in March 2020 were successful in controlling the epidemic by driving down the reproduction number and significantly reducing the number of people who would have been infected by the virus SARS-CoV-2.” Die Forscher ließen dabei sogar die Folgewirkungen einer unkontrollierten Pandemie außer Acht, also die Kollateralschäden überlasteter und teilweise kollabierender Gesundheitssysteme. Die Beurteilung der Erfolge der Lockdowns ist also moderat.[6]

Zu „trotz“ vs. „weil“: Der Einwand ist richtig, dass in den Industriestaaten zu wenig effektiv geschützt wurde und daher Infektionsherde entstehen konnten, die zu Toten führten (in Betrieben, Altersheimen etc.). Aber es ist nicht richtig (wie suggeriert wird), dass die ergriffenen Maßnahmen der Staaten das Infektionsgeschehen und die Todeszahlen nicht reduzierten („trotz“). Der Beleg für den Effekt der Lockdowns: siehe oben. Also: Das „trotz“ stimmt genauso wie das „weil“. Es ist kein sich ausschließender Gegensatz.

Für Lockdowns als Ultima Ratio zu sein heißt natürlich nicht, Maßnahmen im Normalbetrieb wie Massentests, strikte Nachverfolgung und Isolierung, Mundschutzpflicht, bessere Hygienekonzepte, Teilschließungen, kreative Lösungen in Schulen, um Infektionsherde zu vermeiden, nicht ebenso zu fordern. Im Gegenteil. Aber in kritischen Pandemiephasen, in Wellen, reichen diese Maßnahmen, selbst wenn sie verstärkt werden, nicht immer aus, um das Infektionsgeschehen zu kontrollieren. So gab es in Deutschland vor dem zweiten Lockdown durchaus mehr Tests, Teilung der Klassen, bessere Hygienekonzepte, Mundschutzpflicht, um die Infektionsketten zu durchbrechen. Der Lockdown wurde auch nicht sofort eingeführt. Vielmehr wurden die laufenden Maßnahmen in einem ersten Schritt verschärft. Die Grundschule meines Sohnes ging zum Beispiel Stück für Stück in die Schließung. Erst wurden Klassen mit Infektionen in Quarantäne geschickt, dann gab es allgemeine Klassenteilung mit fester Bezugsperson, auch nur für 2 bis 3 Stunden am Tag Präsenzunterricht, viel Lüften und verschärfte Abstandsregeln. Dann erst kam am Ende der Lockdown, als die Zahlen trotz immer restriktiverer Maßnahmen exponentiell wurden.

Was die Kontroversen angeht: Sicherlich gibt es nicht eine Meinung in der Wissenschaft. Es gibt in allen wissenschaftlichen Fragestellungen verschiedene Einschätzungen, vor allem, wenn wie beim Corona-Virus Neuland betreten wird. Aber die globale Bedrohung durch die Corona-Pandemie war und ist bei den internationalen Epidemiologen, wissenschaftlichen Institutionen, in Forschungsartikeln, den nationalen und internationalen Gesundheitsorganisationen und den Beratungsgremien weltweit nicht strittig. Es gibt keine zwei Forschungslager, bei dem das eine von einer ungefährlichen Coronaviren-Infektion spricht, einer Art Grippewelle, das andere von einer bedrohlichen Pandemie. Auch harte Kontaktbeschränkungen bis Lockdowns wurden von Virologen und Epidemiologen fast überall auf der Welt als Notbremse, also letztes Mittel, empfohlen, wenn die pandemische Situation unkontrollierbar wurde. Trotz aller Divergenzen im Einzelnen ist der wissenschaftliche Konsens in diesen Punkten sehr deutlich. Wer Lockdowns in eskalierenden Pandemiephasen als wissenschaftlich strittige Maßnahme bezeichnet, sollte zeigen, dass es zwei gleichwertige Forschungslager in dieser Frage gibt. Ich habe bisher noch keinen Beleg dafür gesehen, jenseits des Hinweises auf einzelne abweichende Stimmen. Aber abweichende Stimmen, siehe Klimawandel, Rauchen etc., machen noch keine Wissenschaftskontroverse.

Gibt es nun aber eine Kontroverse zwischen Epidemiologen und anderen WissenschaftlerInnen (Ökonomen, Soziologen, Juristen, Psychologen, Pädagogen etc.), was die Pandemie und den Lockdown angeht? Zuerst einmal hat ein Ökonom keine Expertise, was Pandemien, ihre Entwicklungen, worst-case-Szenarien und Vorsorgemaßnahme zum Schutz der Bevölkerung angeht. Natürlich hat er eine Expertise, was die wirtschaftlichen Auswirkungen eines Lockdowns angeht. Wenn es also überhaupt so etwas wie eine Kontroverse zwischen Epidemiologen und Gesellschaftswissenschaftlern in Bezug auf Pandemie-Maßnahmen geben kann, dann nicht über die Notwendigkeit der Pandemie-Notbremse, um gefährlichen Kontrollverlust zu verhindern (das ist das Feld der Epidemiologen), sondern darüber, ob die Maßnahmen aus Rücksicht auf wirtschaftliche, pädagogische, soziale etc. Gesichtspunkte ergriffen werden sollten. Haben also die Wissenschaftler die Folgen eines Lockdowns als gravierender bewertet als die Folgen eines unkontrollierten Pandemiegeschehens? Beziehungsweise: Gab es eine Kontroverse in dieser Hinsicht?

In den eskalierenden Ansteckungswellen, als Epidemiologen den Regierungen harte Kontaktbeschränkungen empfahlen, habe ich keinen Aufstand der Wissenschaftler beobachten können. Oder hat sich etwa die Hälfte, ein Drittel oder ein Viertel der Forschergemeinschaft gegen die temporären Lockdowns gestellt, inklusive der deutschen Universitäten, Forschungsinstitute, Akademien und Wissenschaftsgesellschaften, weil sie die Kollateralschäden für größer als den Nutzen erachtete? Haben beträchtliche Teile der Forschergemeinschaft in Deutschland, in Europa, auf der Welt gesagt, die Epidemiologen verbreiten Panikmache und Lockdowns sollten nicht als Notbremse in kritischen Phasen angewendet werden? Ich sehe das nicht. Mein Eindruck ist vielmehr, dass der überwiegende Teil der Forschergemeinschaft die worst-case-Szenarien, Warnungen und Empfehlungen der Epidemiologen ernst nimmt und die von ihnen empfohlenen Lockdowns als geeignetes Mittel im Notfall angesehen hat, um in kritischen Phasen ein größeres Übel zu vermeiden.[7]

Aber letztlich sind Gesellschaftswissenschaftler keine Pandemie-Experten. Ob Masken getragen, Schulklassen geteilt oder Quarantäne angeordnet wird, ja auch, ob ein Lockdown am Ende notwendig ist, sollte nicht von Ökonomen empfohlen oder für unnötig erklärt werden, auch nicht von Pädagogen oder Psychologen, die schlicht nicht abschätzen können, welche Massenauswirkungen unkontrollierte Pandemien haben, welche Maßnahmen epidemiologisch sinnvoll sind. Die Expertise von Ökonomen und Pädagogen, von Juristen und Psychologen sollte natürlich für die Ausgestaltung der Maßnahmen und der Lockdowns herangezogen werden, um die schädlichen Nebenwirkungen möglichst gering zu halten. Und richtig ist auch, dass Wissenschaftler wie auch Journalisten oder Aktivisten die Pandemiepolitik kritisch begleiten sollen. Das betrifft das Krisenmanagement, die präventiven Maßnahmen, die Einhaltung parlamentarischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, die Durchführung der Lockdowns und die Adressierung der Nebenwirkungen.

Heute zeigen belastbare Untersuchungen, siehe oben[8], dass ein sehr großer Schaden, vielleicht sogar eine katastrophale Eskalation durch Lockdowns verhindert werden konnte. Wie gesagt, 3,1 Millionen Menschen starben laut einem Wissenschaftler-Team des Imperial College London (veröffentlich im Magazin Nature) allein in 11 europäischen Ländern – Großbritannien, Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Belgien, Dänemark, Norwegen, Spanien, Schweiz und Schweden – weniger, weil dort im März 2020 Lockdowns verordnet wurden. Die Gesundheitssysteme wurden zudem vor Überlastung bewahrt – eine Überlastung, die noch mehr Tote und Gesundheitschaos erzeugt hätte. Vor allem konnte das worst-case-Szenario einer unkontrollierbaren Pandemie mit multiplen Folgekrisen gebannt werden.[9]

Forscher zeigen zudem, dass Länder, die keinen Lockdown verhängten bzw. ihn zu spät, zu kurz und schlampig ergriffen, ebenso von den wirtschaftlichen und sozialen Kollateralschäden betroffen wurden wie Staaten mit klarem Lockdown. Siehe Schweden oder Brasilien. So schreibt die Financial Times: “Finland’s GDP fell 3.2 per cent in the three months to the end of June compared with the first quarter, while Denmark’s dropped by a record 7.4 per cent. But both Nordic countries fared better than Sweden, which had no formal lockdown, where the economy contracted by 8.6 per cent. ‘There’s more to it than different lockdown policies,’ said Andreas Wallstrom, acting chief economist at Swedish lender Swedbank. Sweden’s death rate per capita from Covid-19 is five times that of Denmark and almost 10 times that of Finland.”[10] In Schweden kam es darüber hinaus zu einer massiven Schrumpfung des Arbeitsmarktes, auch ohne formalen Lockdown.[11]

Ich habe zudem noch keine Kosten-Nutzen-Rechnung gesehen, die gegen die ergriffenen Lockdowns als temporäre Pandemie-Notbremse in den Industriestaaten spricht. Mir ist jedenfalls keine Untersuchung bekannt, die z.B. zeigt, dass Millionen Menschen in Europa weniger gestorben wären, viele Millionen nicht erkrankt wären und ein Kollaps der Gesundheitssysteme sicher verhindert worden wäre, wenn man keine temporären Lockdowns im Frühjahr ergriffen hätte. Wenn die Berechnung des Imperial College richtig ist und über 3 Millionen Menschen ohne Lockdowns zusätzlich an Corona in den 11 untersuchten Ländern gestorben wären, müssten die Nebenwirkungen der Lockdowns kollosal sein, um den Coronaschaden ohne Lockdown dort zu „kompensieren“. Die 2- bis 3-monatigen Lockdowns – also kein Präsenzunterricht, keine Veranstaltungen, die meisten Geschäfte geschlossen – müssten mindestens 3 Millionen Tote als Kollateralschaden nach sich gezogen haben. Unter dieser Voraussetzung wäre ein Lockdown in den Staaten genauso tödlich wie der Verzicht auf ihn. Dafür gibt es aber keinerlei Anhaltspunkte geschweige denn Belege. Was wir heute wissen ist: Die Bevölkerung wurde vor einer unkontrollierten Pandemie mit Lockdowns geschützt, Millionen mussten nicht erkranken, leiden und sterben. Dass fast alle Länder, die stark von der Pandemie getroffen wurden, unabhängig von einander einen Lockdown verordneten, zeigt m.E. auch, dass die dort präsentierten und abgewogenen wissenschaftlich Szenarien, mit und ohne Lockdown, immer für den Lockdown sprachen. Die Regierungen ergriffen die Maßnahmen ja nicht aus Spaß, weil sie Lockdowns mögen. Keine Regierung will die eigene Volkswirtschaft schädigen.

Eine weitere Frage wird in Ihrer Kritik noch angeschnitten: Hätten Situationen in den Ländern verhindert werden können, die Lockdowns notwendig machten? Hätte ein unkontrolliertes Infektionsgeschehen mit stark steigenden Todeszahlen auch anders, minimalinvasiver, im Normalbetrieb vermieden werden können? Ist ein Lockdown nicht letztlich Zeugnis eines politischen Versagens? Diese Frage ist natürlich spekulativ. Klar ist aber, dass wenn eine Pandemie in einem Land einmal außer Kontrolle gerät, aus welchen Gründen auch immer, der Lockdown die einzige Notbremse ist. Wer die Lockdown-Wahrscheinlichkeit jedoch gering halten will, muss in Phasen, wo die Zahlen niedrig sind, mehr Restriktionen und Präventionsmaßnahmen akzeptieren. Vor allem muss sich die Bevölkerung diszipliniert daran halten.[12]

Das kann man an den wenigen Ländern studieren, die im letzten Jahr großflächige Lockdowns vermeiden konnten wie Taiwan oder Südkorea. Die Gründe dafür sind sicherlich vielfältig. Man sollte auch sehr vorsichtig sein mit Rückschlüssen und Übertragungen, da jedes Land besonders ist, das zeigen Untersuchungen (Dichte der Besiedlung, diverse gesellschaftliche Bedingungen). Aber es hat sich heraus kristallisiert, dass effektive präventive Maßnahmen, planvolle Restriktionen, striktes Monitoring inklusive staatlich kontrollierter Quarantäne außerhalb der Familie (in China wurden Infizierte in Extra-Einrichtungen isoliert, in „Arche Noahs“, was man in Deutschland aber verwarf) und eine disziplinierte Bevölkerung, die sich an Anti-Pandemie-Regeln hält – auch in Phasen, wo die Zahlen niedrig sind –, das Infektionsgeschehen besser unter Kontrolle halten und sie „Wellenresistent“ machen können. Aber selbst asiatische Staaten mit ihren resoluten Präventionssystemen gerieten ebenfalls in Eskalationsspiralen und mussten partiell dicht machen.[13]

Ob ein chinesisch-asiatisches Modell in Deutschland über ein Jahr akzeptiert worden wäre, zum Beispiel nach dem ersten Lockdown, um die drohende zweite Welle ohne Lockdown durchzustehen, ist eine offene Frage. Man muss sich nur an die Zeit im Sommer erinnern, als alle sich vom Lockdown erholen wollten, die Erleichterung groß war, über den Berg zu sein, als es überhaupt keine Pandemie mehr zu geben schien und die Querdenker zu Zehntausenden auf die Straßen gingen und die Relativierer-Echokammern im Land posaunten, dass das Virus nun endgültig verschwunden sei. Damals schrieb Jens Berger auf den Nachdenkseiten – nur eines unter zahlreichen Beispielen der Verharmlosung auf alternativen Plattformen –, dass es in Deutschland damals fünfzehnmal mehr Tote durch Stürze beim Putzen gebe als in Folge der sogenannten Pandemie. Auch in anderen Artikeln wurde immer wieder suggeriert, dass die Pandemie gar nicht so schlimm sei, aufgeblasen werde und Schutzmaßnahmen wie Maskenpflicht oder temporäre Schließungen von Schulen usw. reine „Symbolpolitik“ seien, die mutwillig Kindern großen Schaden zufügten. Das ist die eigentliche Stoßrichtung meiner Kritik: Die Verharmlosung der Pandemie, die Diffamierung von Epidemiologen und Beratungsgremien als inkompetent und kaltherzig, die ständige Diskreditierung von Schutzmaßnahmen als ineffektiv und schädlich, die Geißelung des Lockdowns als autoritärer, irrationaler Willkürakt des Staates.[14]

Die Frage ist berechtigt, ob denn überhaupt alle Länder Lockdowns verhängen können und es immer das richtige Instrument ist, vor allem im Globalen Süden. Ich habe mich auf Deutschland und die Industriestaaten konzentriert – es ging mir ja um den Corona-Relativismus und die Pandemiepolitik hierzulande. Bei den afrikanischen Ländern sieht die Lage anders aus. Nach dem, was ich Untersuchungen entnehme, ist bisher nicht klar, ob die dort teilweise ergriffenen Lockdowns sinnvoll gewesen sind. Es gab zum Beispiel nicht immer die exponentiellen Entwicklungen wie in den Industriestaaten. Andere Maßnahmen wären eventuell besser, effektiver und weniger schädlich gewesen. So stellen Forscher zwar fest, dass die kurzfristigen Lockdowns die Pandemie in Afrika abbremsen konnten und insofern einen Erfolg aufweisen. Aber die Wirkung scheint geringer als in den Industriestaaten gewesen zu sein, da viele Infektionen im informellen Sektor stattfinden, in Familien, die oft auf einem Raum leben. Zudem ist ein Lockdown in vielen Regionen kaum umsetzbar, da die Menschen vor dem existentiellen Dilemma stehen: Verhungern vs. Infizieren, wie Sie richtig feststellen. Eine Untersuchung für afrikanische Länder zeigt, dass nur wenige Haushalte überhaupt voll „Lockdown-fähig“ sind (also fließend Wasser, Kommunikationsmittel, genügend Lebensmittel und Geld haben): 12,2 Prozent in Städten, 6,8 Prozent insgesamt. Nur wenige Regierungen in Afrika konnten zudem Unterstützungshilfen im Zuge der Pandemie für die Bevölkerung bereitstellen. Aber dass sich die Entwicklungsländer keinen ausreichenden Gesundheitsschutz leisten konnten, liegt daran, dass die Industriestaaten ihnen nicht die Mittel dafür bereitstellen und sie dabei unterstützten. Das gilt jetzt auch für die Impfstoffe, wo viel zu wenig angeboten wird. Es ist ein Skandal: Afrikanische Länder müssen mehr als doppelt so viel für die Impfstoffe zahlen wie die EU. Das ist nicht nur fatal, sondern wird, so Oxfam, Langzeitwirkungen haben. Es ist eine weitere Schande, die zu der Dauer-Schande der reichen Länder gegenüber dem Globalen Süden hinzukommt.[15]

Sie kritisieren zudem, dass ich die katastrophalen Folgen der Lockdowns ignoriere. Die Schrumpfung der Wirtschaftsleistung, Arbeitslosigkeit, drohende Pleiten, psychische Belastung etc.: Wer ignoriert das, wer kann das ignorieren? Jeder erlebt es am eigenen Leib. Die Medien sind voll davon. Ich habe darüber nicht ausführlicher gesprochen, weil es nicht Thema meines Artikels ist. Es ändert auch gar nichts an meiner Argumentation und Kritik am Corona-Relativismus sowie der pauschalen Lockdown-Diffamierung. Denn ich halte es für falsch, die Folgen der Pandemie einem angeblich willkürlich ergriffenen Lockdown anzuhängen. Es sind vielmehr die Auswirkungen der Pandemie, diverser Schutzmaßnahmen und fehlender staatlicher Unterstützung für die Schwachen. Und, wie gesagt: Auch ohne Lockdowns gibt es die Kollateralschäden. Mein Position habe ich im Text deutlich gemacht: Die Nebenwirkungen des Pandemieschutzes brauchen soziale Gegenmaßnahmen, um die Schädigungen auszugleichen. Ich kritisiere die fehlende Minderung der Härten im Zuge der Maßnahmen insbesondere für die Schwachen und überproportional Betroffenen. Aber deswegen muss ich nicht temporäre Lockdowns in kritischen Phasen ablehnen, von Epidemiologen empfohlen, wenn die Alternative pandemischer Kontrollverlust bedeutet, der in einer Gesundheitskatastrophe enden könnte. Das wäre unverantwortlich und unvereinbar mit dem Vorsorgeprinzip.

Ich sehe die Politik vielmehr in der Pflicht, beides zu tun: Menschen vor einer Pandemie zu schützen – denn hier geht es um viele Millionen Menschenleben und die Vermeidung einer Gesundheitskatastrophe – und den von den Kontakteinschränkungen betroffenen Menschen vor allem im Globalen Süden durch die Krise zu helfen. Die Logik, Pandemieschutz sei Elitenschutz (denn nur die Reichen und die Industriestaaten können ihn sich leisten) und weniger Pandemieschutz sowie keine Lockdowns, auch wenn epidemiologisch gefordert und umsetzbar, wären besser für die Armen und Unterprivilegierten, ist meines Erachtens eine Illusion. Im Gegenteil: Pandemieschutz ist eine Form von „Gesundheit für alle“. Denn ein unkontrolliertes Infektionsgeschehen hätte vor allem den Globalen Süden und die Schwachen getroffen. Überall sehen wir, dass die Armen und Unterprivilegierten Opfer des Virus werden. In den USA sind es die Prekären und Abgehängten in den schwarzen und Latino-Kommunen. In Brasilien findet das gleiche statt. Betroffen sind dort die Menschen in den Favelas. Sie erkranken deutlich häufiger, leiden und sterben. Und dass ein freilaufender Virus inklusive der Gefahr von lokalen und regionalen Gesundheitskatastrophen die Welt wirtschaftlich weniger geschädigt hätte als ein temporärer Lockdown in den Staaten, wo es Sinn macht, bzw. dass die Armen ohne Lockdowns weniger leiden würden, ist eine wenig überzeugende Annahme. Siehe Schweden oder Brasilien, die mehr Infektionen und Tote ohne staatlich organisierte Lockdowns in Kauf nehmen mussten, zugleich aber auch wirtschaftlich geschädigt wurden sowie einen starken Anstieg von Arbeitslosigkeit zu verzeichnen haben. Zudem: Mögliche Erkrankungswellen, Massentod und versagende Gesundheitssysteme können destabilisierende Verwerfungen erzeugen, die man auf jeden Fall vermeiden sollte. Die Oxfam-Studie zu den Folgen der Pandemie auf die globale Ungleichheit fordert daher kein Ende des Pandemieschutzes oder der empfohlenen temporären Lockdowns, sondern Hilfe der Industriestaaten für die Entwicklungsländer.[16]

Sie beschweren sich, dass ich mit meiner Ignoranz gegenüber der Not der Leute, wie sie sich in meinem Artikel über Corona-Relativismus ausdrückt, sie in die Arme der AfD oder FDP treibe. Mit dieser Charakterisierung bin ich natürlich nicht einverstanden. Ich ignoriere wie gesagt keineswegs die Not der Leute. Ich finde es richtig, Brücken zu bauen und Vertrauen zu schaffen. Viele Menschen fühlen sich an den Rand geschoben und mit ihren Sorgen allein gelassen, während die Gesellschaft ungleicher wird. Aber mir leuchtet nicht ein, was mit „falschen Abgrenzungen“ gegenüber Coronaskeptikern und -leugnern gemeint ist. Hier scheint mir ein Kurzschluss vorzuliegen. Wenn ich Verharmlosung der Pandemie und Diffamierung von Schutzmaßnahmen kritisiere, kritisiere ich doch nicht den legitimen Frust über Ungleichheit, Armut, soziale Abwertung, politische Ausgrenzung sowie gesellschaftliche Isolierung. Ich stelle mich damit auch nicht auf die Seite der Regierung, der Eliten, der Reichen gegen die ArbeiterInnen, Prekären und Unterschichten. Das sind falsche Gegenüberstellungen. Das zeigen auch Umfragen: Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt gerechten Pandemieschutz, auch Lockdowns, wenn die Auswirkungen sozial ausgeglichen werden, weil sie einsehen, dass ein größeres Übel bekämpft werden soll. Ich kritisiere vielmehr, dass legitimer Frust politisch instrumentalisiert bzw. in irrationale Bahnen gelenkt wird. Das Problem ist ja nicht ein Virus, das RKI, Epidemiologen oder Pandemieschutz, auch nicht der Lockdown. Das Problem liegt in einer Politik, die Ungleichheit, Armut und Frust erzeugt und Härten bei staatlichen Maßnahmen nicht mindert.

Brücken zu frustrierten Menschen zu schlagen, ihre Sorgen ernst zu nehmen und ihr politisches Engagement zu befördern, auch durch Bildungs- und Bewegungsarbeit, ist absolut richtig und notwendig. Aber Corona-Verharmlosung und pauschale Lockdown-Diffamierung zu unterstützen führt nirgendwo hin. Ich sehe das jedenfalls nicht.                           

[1] https://www.deutschlandfunk.de/hamburger-studie-zu-covid-19-tote-die-meisten-sterben-an.1939.de.html?drn:news_id=1229034