Gaza, Israel und die Rolle der Medien
David Goeßmann
Rund 250 Palästinenser sind laut UN und palästinensischen Angaben im Gazastreifen durch die Attacken des israelischen Militärs getötet worden. Man geht von rund 80 Prozent Zivilisten aus, darunter über 50 Kinder. Zehntausende Gaza-Bewohner sind aus ihren Häusern geflohen, Hundert wurden verletzt. Durch die Kassam-Raketen der Hamas auf Israel ist bisher ein israelischer Zivilist und ein Soldat getötet worden, rund ein Dutzend wurde verletzt. Nun hat Israel eine Bodenoffensive im Gazastreifen begonnen. Wie ist es dazu gekommen? Wer ist schuld an der erneuten Eskalation?
Die deutschen Medien weichen kaum ab von den Hauptpfeilern der Konflikt-Darstellung der israelischen Regierung, der US-Administration und europäischer Staaten. Die Eskalation begann danach mit der Tötung von drei israelischen Jugendlichen. Die Regierung machte die Hamas verantwortlich für die Morde und startete eine Großoffensive gegen Hamas-Mitglieder. Als daraufhin die Hamas begann aus dem Gazastreifen Kassam-Raketen zu schießen, antwortete Israel mit einer militärischen Offensive, um die Raketenabschüsse so zu stoppen. Die USA und Deutschland unterstützten Israels Recht auf Selbstverteidigung. Während der Bombardierung missbrauchte die radikal-islamische Hamas die Bevölkerung Gazas erneut als „menschliche Schutzschilde“ und ist mitverantwortlich für die hohe Zahl an zivilen Toten. Die israelische Regierung akzeptierte schließlich ein durch die ägyptische Regierung vermitteltes Waffenstillstandsabkommen, das die Hamas jedoch ablehnte. Damit verhinderte die Hamas ein Ende der Gewalt-Eskalation.
Die Medien sind dazu verpflichtet akkurat und fair zu berichten, relevante Hintergründe zu liefern, damit sich die Bürger ein realistisches und wahrheitsgemäßes Bild von den Vorgängen machen können. Hat die deutsche Presse ihre journalistische Verpflichtung im aktuellen Konflikt erfüllt?
Die Tötungen waren keineswegs der Beginn einer „Spirale der Gewalt“. Im Mai wurden zwei unbewaffnete palästinensische Teenager von israelischen Soldaten erschossen und andere verwundet. Videos und Fotos zeigen, dass die Teenager keinerlei Gefahr oder Bedrohung darstellten. Die internationale Empörung blieb aus, die Medien sahen keinen Anlass, vom „Beginn einer neuen Gewaltspirale“ zu sprechen und der palästinensischen Seite entsprechende „Reaktionen“ zuzubilligen. Der Grund dafür mag sein, dass diese Tötungen allzu gewöhnlich sind. Gemäß der israelischen Menschenrechtsorganisation B’Tselem sind von Januar 2009 bis Ende Mai 2014 568 Palästinenser von israelischen Sicherheitskräften getötet worden, darunter 84 Kinder. In derselben Zeit wurden 38 Israelis von Palästinensern in Israel und den besetzten Gebieten getötet. Seit September 2000 sind nach Daten von B`Tselem 3000 Palästinenser außerhalb von Kampfhandlungen von israelischen Soldaten getötet worden. Es ist eine politischer Akt, wann man die „Spirale der Gewalt“ beginnen lässt und wann nicht und wem man zubilligt, sich mit Gewalt zu verteidigen. Dass sollten Journalisten beachten und gleiche Standards anwenden. Tatsache ist, dass die israelische Regierung die Morde zum Anlass nahm, militärische Großoffensiven erst im Westjordanland und dann im Gazastreifen zu starten.
Es wird behauptet, und die Presse widersprach nicht, dass Hamas in die Tötungen der israelischen Jugendlichen involviert ist. Damit rechtfertigte die israelische Regierung die Offensive im Westjordanland, die offiziell zum Ziel hatte, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Bei der Operation „Brother’s Keeper“ wurden rund 370 Palästinenser verhaftet und ein Dutzend Palästinenser getötet. Es gibt jedoch bis heute keinerlei Indiz, dass die Hamas hinter der Entführung der Israelis durch palästinensische Jugendliche steckte. Die israelische Regierung lieferte bisher keinen einzigen Beweis für ihre Behauptung, dass es sich um ein Hamas-Attentat gehandelt habe. Es mag auch der Hinweis gestattet sein, dass zivile Gesellschaften die Unschuldsvermutung respektieren, Gewaltverbrechen mit polizeilichen und kriminalistischen aufklären und ihnen mit den Mitteln des Rechtsstaats begegnen. Die israelische Sicherheitsbehörde hat die Identität von zwei Verdächtigen bekannt gegeben. Sie sollten vor einem Gericht einen fairen Prozess erhalten.
Immer wieder heißt es in den Korrespondentenberichten, dass Kassam-Raketen die Menschen in Sderot und Tel Aviv terrorisieren, während die israelische Regierung bemüht ist, mit High-Tech-Präzisionswaffen den Beschuss aus dem Gaza-Streifen zu stoppen. Während die Medien die Hamas-Begründungen für die Raketen als illegitim verurteilen, was richtig ist, wird die Behauptung der israelischen Regierung, sich selbst zu verteidigen, nicht in Frage gestellt. Richtig ist, dass beide Seiten ihre Gewaltakte mit Hinweis auf die Gewalt des anderen rechtfertigen. Richtig ist auch, dass es ein Recht auf Selbstverteidigung gibt. Doch es ist nicht richtig, dass es ein Recht auf gewaltsame Selbstverteidigung gibt. Konflikte müssen friedlich gelöst werden, das schreibt die UN Charta vor. Gewalt ist in internationalen Beziehungen kein legitimes Mittel. Gewaltsame Selbstverteidigung ist in Ausnahmesituationen nur bedingt dann erlaubt, wenn alle Wege der friedlichen Konfliktlösung glaubhaft ausgeschöpft worden sind. Die Beweislast dafür liegt bei der Partei, die die Gewalt ausübt. Kassam-Raketen auf Israel und Bomben auf Gaza sind fraglos kriminelle Gewaltakte.
Aber hat die israelische Regierung nicht das Recht, sich gegen die Raketen der Hamas auch mit militärischen Mitteln zu verteidigen? Kommentare und Berichte in den deutschen Mainstreammedien lassen daran keinen Zweifel. Doch ein Mindeststandard sollte eingehalten werden. Wer der israelischen Regierung das Recht auf gewaltsame Selbstverteidigung, also die Bombardierung des Gaza-Streifens, zuspricht, sollte es in vergleichbaren Fällen jeder anderen Regierung zugestehen. Stellen wir uns zum Beispiel vor, die palästinensische Autonomiebehörde hätte auf die Tötung der zwei palästinensischen Jungen durch das israelische Militär am 15. November 2014 hunderte von Häusern in Tel Aviv und Jerusalem gewaltsam durchsucht, ein Dutzend israelische Juden dabei getötet, Hunderte ehemalige und amtierende Regierungsmitglieder, israelische Soldaten und Siedler verhaftet und gezielte Tötungen von Shin Bet Mitgliedern und Militärs durchgeführt. Daraufhin wären Raketen von Israel auf das Westjordanland geregnet, ohne dass Menschen getötet worden seien, was die palästinensische Seite mit massiver Bombardierung von Jerusalem beantwortet hätte, um sich selbst zu verteidigen. Dabei wären rund 200 Israelis getötet worden. Hätte sich die palästinensische Seite damit auf legitime Art und Weise selbstverteidigt oder kriminell gehandelt? Die deutschen Medien geben darauf eine implizite Antwort.
Dass das israelische Militär beim Bomben Vorsicht walten lässt, wie Israel-Korrespondenten nicht müde werden zu erwähnen, ist eine Nullinformation, da sie nicht überprüft werden kann. Sie dient lediglich der Legitimierung der israelischen Bombardierungen. Beim Gaza-Krieg „Cast Lead“ 2008/2009 gaben die Medien die Behauptungen der israelischen Regierung unhinterfragt wieder, einen Präzisionskrieg zu führen. Der Goldstone-Bericht der UN, der den Krieg später untersuchte, kam dann zu dem Ergebnis, dass das israelische Militär massiv Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen begangen hatte. Krankenhäuser, UN-Gebäude und Medien wurden bombardiert, das Militär setzte selbst Phosphorbomben ein. Auch in der aktuellen Offensive gibt es bereits Hinweise auf mögliche Verbrechen. 11 Familien wie die Hajj-, Hamad- oder Kaware-Familie sind vom israelischen Militär mit Raketen beschossen worden. Ihre Häuser wurden in Schutt und Asche gebombt. Ein palästinensischer Journalist berichtete, wie ein Auto mit „Presse“-Aufschrift auf dem Dach durch einen gezielten Beschuss in Gaza zerstört wurde. Ein Journalist wurde dabei getötet. Die hohe Zahl an getöteten palästinensischen Kindern, Müttern und Vätern hat aber vor allem mit der Tatsache zu tun, dass über einem der am dichtesten besiedelten Gebiete der Welt hunderte Tonnen Bomben abgeworfen werden, um Hamas-Mitglieder zu töten, die dem israelischen Militär nicht den Gefallen tut, auf eine der wenigen Freiflächen in Gaza zu treten, um sich dort von israelischen Kampffliegern einfach abschießen zu lassen.
Der Vorwurf, die Hamas missbrauche die Gaza-Bevölkerung als „menschliches Schutzschild“, ist eine Behauptung der israelischen Regierung, standardmäßig auch von den Medien erhoben, aber auch standardmäßig nicht belegt. Etliche Studien vom Goldstone-Bericht bis hin zu Untersuchungen von Amnesty International haben Israels vergangene Gaza-Kriege genau untersucht. Sie fanden keinen einzigen Fall, der den rituellen Vorwurf, Hamas nutze Gaza-Bewohner als Schutzschilde, erhärtete. Im Gegenteil. Sie fanden eine Reihe von Fällen, in denen israelische Soldaten Palästinenser als „lebende Schutzschilde“ benutzten. Die grausamen Details kann man in den Berichten nachlesen. Die Gegenfrage sollte zudem gestellt werden: Benutzt Israel seine Bevölkerung als „Schutzschild“, wenn es Militärbasen in direkter Nachbarschaft insbesondere zu arabischen Siedlungen unterhält? Wie konnte der Schutzschild-Vorwurf Israels es dennoch wieder in die Schlagzeilen auch der deutschen Medien schaffen? Die israelischen PR-Denkfabrik „Memri“ mit Sitz in Washington D.C. verbreitete ein Interviewschnipsel mit einem Sprecher des Innenministeriums in Gaza als Beweis dafür, dass die Hamas die Bewohner auffordere, sich als „menschliche Schutzschilder“ für die Hamas zu opfern. „Memri“ ("The Middle East Media Research Institute“) wurde von einer neokonservativen Beraterin rechter israelischer und amerikanischer Politiker und eines ehemaligen Offiziers des israelischen Geheimdienstes gegründet. Der britische "Guardian" kritisiert die Organisation wegen seiner Nahost-Verfälschungen und Einseitigkeiten. Die Medien griffen auf die PR zu, immer wieder zitierte die deutsche Presse die „Memri“-Passage, ohne auf die Quelle hinzuweisen oder sie gar zu problematisieren. Die Süddeutsche Zeitung titelte sogar: „Hamas nutzt Gaza-Bewohner als menschliche Schutzschilde“. Doch selbst „Memri“ behauptete nur, dass die Hamas dazu „aufrufe“. Doch nicht einmal das stimmte. In dem herausgeschnittenen Interviewteil (rund 30 Sekunden lang) wurde der Sprecher des Innenministeriums von einem Fernsehsender in Gaza gefragt, was er von den Gaza-Bewohnern halte, die sich auf ihr Haus gestellt hatten, und so einen drohenden Beschuss des israelischen Militärs verhindern konnten. Der Sprecher antwortete, dass es offensichtlich eine effektive Methode sei, sein Haus und seine Familie derart zu beschützen. Die Hamas empfehle anderen Gaza-Bewohnern, diesem Beispiel zu folgen. So sehr man den Aufruf verurteilen kann, er ruft nicht dazu auf, dass Palästinenser sich als „menschliche Schutzschilde“ vor die Hamas stellen sollen. Erst Recht ist er kein Indiz, dass die Hamas die Gaza-Bewohner als Schutz missbraucht. Die offizielle Position des Innenministeriums kann man auf der Homepage in Englisch nachlesen. Keine Rede von Schutzschilden und Märtyrertod, sondern von Maßnahmen, die Zivilbevölkerung in Gaza zu schützen.
Hat die Hamas nun eine Chance vertan, indem sie das ägyptische Waffenstillstandsangebot ablehnte, wie in den Medien kritisiert? Ist sie damit nicht verantwortlich für die weitere Gewalteskalation? Erstens: Das Angebot wurde unter Ausschluss der Hamas vom ägyptischen Militärregime zusammen mit Tony Blair und der israelischen Regierung verhandelt. Journalisten sollten bei der Berichterstattung über das Angebot zumindest darauf hinweisen, dass das Militärregime in Ägypten die Hamas als feindliche Organisation einstuft und boykottiert, anders als die Vorgängerregierung der Muslimbruderschaft, die vom Militär in einem Staatsstreich gestürzt wurde. Die Muslimbruderschaft gilt als Verbündeter der Hamas. Es handelt sich also in keiner Weise um ein „neutrales“ Angebot von dritter Seite. Zweitens: Der Waffenstillstand, wie er von der ägyptischen Militärregierung angeboten wurde, gleicht dem vom Juni 2008 und November 2012 nach den letzten Gaza-Kriegen. Israel versprach darin jedes Mal, die illegale Blockade des Gaza-Streifens zu lockern. Doch stattdessen wurde die Blockade noch verstärkt. Jetzt verspricht Israel im Angebot erneut eine Lockerung, unter der Bedingung, dass Ruhe hergestellt worden sei und die Sicherheitssituation in Gaza es zulasse. Wann das der Fall ist, liegt im Ermessen der israelischen Regierung, die die Hamas als eine Terrororganisation einstuft. Es gibt daher keinen Grund daran zu zweifeln, dass die illegale Blockade weiter bestehen bleiben wird. Drittens: Die Hamas lehnt nicht die Waffenruhe ab, sondern die Bedingungen des ägyptisch-israelischen Vorschlags. Sie hatte Israel bereits am 10. Juli eine Erneuerung des Waffenstillstandsabkommens von 2012 angeboten unter der Bedingung, dass Israel seine Militäroperationen beendet. Israelische Regierungsbeamte lehnten den Vorschlag ab. Die Medien schwiegen zu dem Angebot der Hamas und titelten in diesem Fall nicht: „Israel lehnt Waffenstillstandsangebot der Hamas ab“. Die Hamas hat seitdem immer wieder deutlich gemacht, welche Bedingungen sie an einen Waffenstillstand bindet. Sie verlangt vor allem internationale Garantien, dass Israel die Blockade tatsächlich lockert und dringend benötigte Güter und Waren in den Gaza-Streifen gelangen lässt. Sie fordert zudem die Freilassung derjenigen Gefangenen, die Israel im Shalit-Austausch freiließ, aber in den letzten zwei Monaten gegen die Abmachung wieder verhaftete. Die israelische Journalistin und preisgekrönte Ha’aretz Korrespondentin Amira Haas berichtet, dass selbst Hamas-Gegner in Israel diese Forderungen der Hamas als vernünftig beurteilen. Haas selbst spricht von Minimalbedingungen. Die israelische Regierung müsse zudem aufhören, so Haas, die entstehende Einheitspartei aus Hamas und Fatah zu bekämpfen und den Palästinensern gestatten, sich zwischen Gaza und dem Westjordanland zu bewegen. Doch Israel lehnt selbst die Minimalbedingungen der Hamas ab, bombt weiter in Gaza und hat nun eine Bodenoffensive gestartet, um sich selbst zu verteidigen.
Man sollte sich auch in Erinnerung rufen, dass das Westjordanland und auch Gaza nach internationalem Recht weiter besetztes Gebiet ist und Israel Völkerrecht bricht. Israel kontrolliert alle Grenzen in Gaza zu Wasser, zu Luft und auf dem Land. Die Besetzung eines Gebiets gilt nach internationalem Recht als ein Akt des Krieges. Auf diesen grundlegenden Verstoß muss immer wieder hingewiesen werden, sonst wird ein Kernbestandteil des Konflikts unterdrückt. Doch die Medien reduzieren ihn zu einem Kampf von Streithähnen, zu einer Abfolge von irrationalen Gewalttheatern. Doch die Gewalt in Nahost ist nicht Ausdruck eines unlösbaren Konflikts. Eine friedliche und gerechte Lösung ist möglich. Die minimale Basis dafür ist Respekt vor internationalem Recht. Israel muss daher die Besatzung beenden und die illegalen Siedlungen im Westjordanland (sprich alle) räumen, die widerrechtliche Annexionsmauer abbauen und den Weg frei machen für eine vom Völkerrecht und der internationalen Gemeinschaft geforderte Zweistaatenlösung, mit einem Palästinenserstaat innerhalb der Grenzen vor 1967, eventuell mit kleinen Gebietsanpassungen und -austauschen. Wenn Israel jedoch weiter vor allem an den Siedlungsblöcken innerhalb der Mauer festhalten will, wie die israelischen Verhandlungsangebote von Camp David bis Annapolis dokumentieren, und damit einen lebensfähigen Palästinenserstaat verhindert, dann sind gewaltsame Eskalationen auch in Zukunft zu erwarten. Über die reichlich dokumentierte Blockade eines Palästinenserstaats, die von den USA unterstützt und von Europa geduldet wird, und das Schweigen der deutschen Medien ließe sich viel sagen. Es ist eines der traurigsten Kapitel historischer Amnesie nicht nur der deutschen Berichterstattung über den Nahostkonflikt.