27.04.2017
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Einleitung: 

Schon vor den Occupy-Protesten in den USA oder Spanien gründeten sich auf dem Balkan Direkte-Demokratie-Bewegungen. Von Slowenien über Serbien und Bosnien bis Mazedonien organisieren sich seit vielen Jahren Graswurzel-Proteste, Bürgerräte und Widerstand gegen Regierungspolitik. Es kam zu Fabrikbesetzungen und -übernahmen durch Arbeiter, die wie in Tuzla nun Betriebe selbst verwalten. In Belgrad organisieren sich seit langem tausende Einwohner gegen die Modernisierung des dortigen Hafenviertels. Investoren aus den Arabischen Emiraten wollen in Belgrad mit 2 Milliarden Euro ein „neues Dubai“ errichten. Überall finde sich jedoch eine gut organisierte und vernetzte Protestbewegung, so Horvat. Das sollte Europa inspirieren und den Kontinent von seinem zynischen Kurs insbesondere gegenüber Flüchtlingen abbringen. Der Umgang der EU mit Flüchtlingen sei heuchlerisch. „Es ist, als ob wir uns die Hand vor die Augen halten. Wir wollen nicht sehen, welche Verantwortung Europa an den Zuständen in Syrien oder Libyen hat.“

Gäste: 

Srećko Horvat: Mitbegründer von DiEM25, kroatischer Philosoph, Aktivist und Buchautor

Transkript: 

David Goeßmann: Seit dem Ausbrauch der Finanzkrise 2008 hat es auf dem Balkan, in Kroatien, Slowenien, Bosnien und Bulgarien, eine Reihe von Demonstrationen gegen Regierungen gegeben. In Mazedonien haben Studenten erfolgreich gegen eine restriktive Bildungsreform mobil gemacht. Das ist in eine Antiregierungsbewegung übergegangen. Es gab außerdem Widerstand gegen Privatisierung und Kommerzialisierung von Hochschulbildung in Kroatien und Experimente mit direkter Demokratie in Bosnien. Arbeiterstreiks, Firmenübernahmen und so weiter wurden ebenfalls an manchen Orten auf dem Balkan wiederbelebt. Sprechen Sie über diese Demonstrationen und was hinter ihnen steckt.

Srećko Horvat: Wenigen Leuten ist bekannt, dass wir auf dem Balkan direkte Demokratie-Projekte hatten, noch bevor die Occupy Wall Street-Bewegung begann. Das liegt daran, dass wir in Jugoslawien eine Tradition der Selbstverwaltung und in gewissem Maße der direkten Demokratie besitzen. Sie scheiterte an Widersprüchen, aber das Erbe besteht. Sie haben ein paar Beispiele genannt. Auf dem ganzen Balkan, von Slowenien bis Mazedonien, Serbien und Bosnien, organisierten sich direkte Demokratie-Bewegungen. Es fanden Fabrikbesetzungen statt, aus denen von Arbeitern selbstverwaltete Fabriken wie in Tuzla hervorgingen. Gleichzeitig gab es in Bosnien Bürgerräte, zu welchen sich mehr als 1.000 Bürger versammelten und gegen die Regierung demonstrierten. In Belgrad formierte sich eine Bewegung gegen das sogenannte Hafenviertel. Die Vereinigten Arabischen Emirate haben dort zwei Milliarden Euro oder so investiert. Sie wollen in der Mitte Belgrads ein neues Dubai bauen, mit Wolkenkratzern, Einkaufszentren und so weiter. Es gibt dubiose Deals mit der serbischen Vucic-Regierung. Daraus könnte eine Bewegung entstehen, die in der Lage ist, 20.000 Menschen auf die Straße zu bringen. Natürlich ist das Problem wie überall: Was macht man am Tag danach? Denn heutzutage reicht es nicht mehr, einfach gegen die Regierung zu demonstrieren. Auf dem Balkan ist zu beobachten, dass es Ansätze für eine Fortentwicklung der Proteste gibt. In Slowenien hat sich zusammen mit den Gewerkschaften eine neue politische Partei gebildet. In Serbien wird gerade etwas Ähnliches für die nächsten Bezirkswahlen geplant. Es ist ein Bündnis aus Arbeitern und freischaffenden Journalisten, die ihre Jobs verloren haben. Sie versuchen, eine unabhängige Wählergruppe zu gründen, um bei den nächsten Wahlen anzutreten.
Auf dem Balkan sind Ideen für eine progressive Politik schon vor den Bewegungen in Spanien, Griechenland oder den USA entstanden. Das ist bemerkenswert. Als ich 2011 im Zuccotti Park während der Occupy Proteste war, habe ich dort in ihrer Bibliothek die Leitsätze der Studentenbesetzung in Kroatien von 2009 gesehen. Es gibt eine internationale, vernetzte Protestenergie, die genutzt werden sollte.

David Goeßmann: Letzte Frage: Wie schätzen Sie die Balkanpolitik der EU ein und was halten Sie von der Weigerung Frankreichs und Deutschlands, Menschen, die aus den Balkanländern flüchten, zu akzeptieren, insbesondere Sinti und Roma aus dem Kosovo?

Srećko Horvat: Ich denke, dass westliche Länder – und das haben wir jetzt mit der Flüchtlingskrise gesehen, aber ich würde sagen, dass es weiter zurückgeht – sich sehr zynisch verhalten. Und ich glaube, dass das Zynischste die Unterscheidung zwischen „echten“ Flüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen ist. Alle fünf Jahre ändert sich, wer zu den „guten“ Flüchtlingen gehört. Die meisten Flüchtlinge in Belgrad, wo fast 2.000 Menschen im Hauptbahnhof schlafen, kommen aus Afghanistan. Die waren vor Jahren mal die guten Flüchtlinge. Heute sind es die Syrer. In fünf Jahren werden die Syrer vielleicht irgendwo im Kosovo oder in Mazedonien stecken, weil sie nun die schlechten Flüchtlinge sind. Die Unterscheidung zwischen richtigem Flüchtling und Wirtschaftsflüchtling ist ein ideologisches Konstrukt. Syrer fliehen jetzt vor Krieg, also werden sie als gut bezeichnet. Gleichzeitig sind afghanische Flüchtlinge Wirtschaftsflüchtlinge. Erinnert sich niemand mehr, dass die Krise in Afghanistan durch westliche Interventionen ausgelöst wurde? In Afrika fliehen viele Menschen aus dem Sudan, Kongo oder Eritrea aufgrund von jahrzehntelangem Wirtschaftskrieg und Jahrhunderten der Kolonialisierung. Es ist zynisch aus einer europäischen Perspektive zu sagen, dass diese Flüchtlinge Wirtschaftsflüchtlinge sind und daher zurückgeschoben werden. Es ist, als ob wir uns die Hand vor die Augen halten. Wir wollen nicht sehen, welche Verantwortung Europa an den Zuständen in Syrien oder Libyen hat. Warum leben Menschen aus dem Kongo in Europa? Die Belgier töteten in der Kolonialzeit im Kongo mehr als 10 Millionen Menschen. Auf dem Balkan haben Extraktivismus, Neokolonialismus und die Finanzkrise erzeugte Massenarbeitslosigkeit. Wer jetzt „Wirtschaftsflüchtlinge“ dahin zurückschickt, sollte sich klar sein, wer diese Flüchtlinge produziert hat.

David Goeßmann: Vielen Dank für das Interview.

Srećko Horvat: Vielen Dank.