29.09.2021
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Einleitung: 

Im Interview spricht Marco Bülow darüber, wie Regierungen, Parlamente und Parteien den Kontakt zu ihrer Basis und der Bevölkerung verloren haben. So werden Parteien zunehmend von oben durchregiert, während der Fraktionszwang Abweichler auf Linie bringe. Insgesamt befördere der Politikbetrieb Anpassung statt sachlichen Austausch. Zudem haben mächtige Lobbygruppen aus der Wirtschaft andere, am Gemeinwohl orientierte Gruppen aus der politischen Arena gedrängt. Studien zeigen dann auch, dass große Teile der Bevölkerung keinen Einfluss auf die Gesetzgebung haben, wenn die oberen Einkommensschichten etwas anderes wollen. Viele Bürger*innen sind deswegen frustriert und gehen seltener zur Wahl bzw. wählen aus Wut rechte Parteien. Die „Beschallung von oben“, so Bülow, müsse beendet werden, um den Erosionsprozess aufzuhalten. Es brauche eine grundsätzliche Reform, um die für die Demokratie essentielle „Resonanz“ zwischen Bevölkerung und Basis auf der einen Seite und Parteien und Regierungen auf der anderen wiederzubeleben. Der Fraktionszwang gehöre abgeschafft, damit Abgeordnete, wie im Grundgesetz gefordert, ihrem Gewissen folgen können und nicht den Interessen der Lobbys und Parteispitzen. Gleichzeitig müssen den einflussreichen Lobbys deutliche Grenzen gesetzt werden. Das sei vor allem vor dem Hintergrund der Klimakrise notwendig. Dort würden nämlich fossile Industrien die Energiewende weiter blockieren. Marco Bülow ist jedoch hoffnungsvoll, dass eine Wiederbelebung der Demokratie möglich ist und ein Abgleiten in Postpolitik aufgehalten werden kann. Die Klimaproteste der letzten Jahre zeigten, dass eine progressive Re-Politisierung bereits stattfinde.

Gäste: 

Marco Bülow, langjähriger Bundestagsabgeordneter, ehemaliger umweltpolitischen Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion und Direktkandidat von Die Partei in Dortmund bei den Bundestagswahlen 2021. Sein neues Buch heißt: "Lobbyland. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie kauft".

Eigentlich sollten Politiker*innen, wie im Grundgesetz verankert, ihrem Gewissen, Parteien und Parlamente dem Gemeinwohl folgen. Doch das finde nicht statt, sagt Marco Bülow. Verantwortlich dafür seien undemokratische Spielregeln im politischen Betrieb. In Parlamenten herrsche der Fraktionszwang. Wer als Abgeordneter eine andere Meinung vertrete, andere Entscheidungen treffe als die von Fraktions- und Parteispitzen vorgegeben, werde abgestraft. Das befördere Anpassung und Konformismus bei Parlamentariern. Nach dem Motto: Wer mitmacht, wird mit Posten und Privilegien belohnt, wer nicht, wird ausgesiebt und verliert seinen Listenplatz. Die Parlamente seien zudem kein Ort der Gesetzgebung mehr. Fast alle Gesetze seien in den letzten Jahren Regierungsgesetze gewesen, die von den Fraktionen nur noch abgenickt werden. Sogenannte Parlamentsgesetze gäbe es kaum mehr, während die Opposition zum bloßen Zuschauen verdammt sei.

Die Demokratie werde gleichzeitig von außen in die Zange genommen: durch die wachsende Macht der sogenannten Profitlobbys. Damit sind Konzerne und Wirtschaftsverbände gemeint, die zum Teil getarnt als Initiativen oder vertreten über Rechtsanwaltskanzleien Profitinteressen gegen das Gemeinwohl durchsetzen. Manche Volksvertreter wechselten dabei als „Lobbytarier“ die Seite. Sie säßen in Parlamenten, während sie Berater- oder Vortragshonorare von Interessenverbänden erhalten. Studien zeigen dann auch, dass große Teile der Bevölkerung keinen Einfluss auf die Gesetzgebung haben, egal, welche Partei in der Regierung ist. Das führt zu Wählerfrust und Wahlabstinenz. Da von 83 Millionen Menschen in Deutschland nur 60 Millionen überhaupt wählen dürfen, die Stimmen von kleinen Parteien durch die 5-Prozent-Hürde wegfallen, werden meist nicht mehr als 50 Prozent der Bürger*innen im Bundestag tatsächlich vertreten, während die Regierungspartei lediglich ein Achtel der Bevölkerung repräsentiere. All das führe zu einem demokratischen Erosionsprozess, über den aber geschwiegen werde. „Damit gibt sich die Demokratie ein bisschen auf, wenn wir uns nur noch auf Wahlen konzentrieren, der Wahlkampf ein Showkampf ist, bei dem Dinge versprochen werden, die nicht eingehalten werden und dann noch Koalitionen gebildet werden, die man nicht haben will und die Menschen immer frustrierter werden.“

Energiepioniere wie Hermann Scheer, Ernst Ulrich von Weizäcker (beide SPD) und Hans-Josef Fell (Grüne) brachten die Energiewende Ende der 90er Jahre im Parlament voran. Daraufhin wurde viel Geld von fossilen Industrien investiert, um eine Gegenlobby zu schaffen, von der sich die Politik einkaufen ließ. In der SPD wurde die Energiewende als Programmpunkt aufgegeben, während sich die „Kohlemafia“ durchsetzen konnte. Eine ganze Generation von Politiker*innen habe versagt, sagt Bülow. Durch die Klimaproteste unter Druck gesetzt muss die Politik heute zwar stärker Stellung beziehen. Doch meist werden dabei nur „heiße Luft und Phrasen“ produziert. So inszenierten sich Olaf Scholz und Armin Laschet im Wahlkampf als Klimaschützer, obwohl sie in der Vergangenheit Erneuerbare bekämpft und damit viele Arbeitsplätze vernichtet haben. „Auch die Grünen brauchen klaren Druck von neuen Parteien, von der Zivilgesellschaft.“ Denn mit Sprüchen wie Klimaschutz ist unsozial, ökonomisch belastend und national irrelevant wird das Notwendige weiter verschleppt. Daher wählen rund 70 Prozent bis heute Parteien, die kein Konzept für die Energiewende vorlegen. „Dieses Gemisch mit einer starken Profitlobby, die viel Werbung und PR-Aktionen schaltet, sorgt im Endeffekt dafür, dass einfach nicht genug getan wird und die Leute verunsichert sind.“ Denn sie sehen nicht die Alternative und eine Partei, die das Soziale und den Klimaschutz zusammenbringt.

Die Medien haben bei der Berichterstattung über die Klimakrise versagt, sagt Bülow. Selbst der Pariser Klimagipfel fand in TV-Talkshows keinen Niederschlag. „In der eigentlichen politischen Auseinandersetzung, die medial gespiegelt wird, spielt Klimaschutz fast keine Rolle.“ So habe die ARD die Forderung nach einer Sendung „Klima vor Acht“ analog zur „Börse vor Acht“ abgelehnt. „Von den Öffentlich-Rechtlichen erwarte ich, dass sie das ganz anders angehen.“ Gleichzeitig verlieren Parteien ihre Kraft, Orte der politischen Willensbildung zu sein. Sie haben in den letzten 25 Jahren die Hälfte ihrer Mitglieder verloren und überaltern. „Eine Resonanz von der Basis über die Funktionsebenen bis hin zu den Mandatsträgern, bis zur Regierung, die geht immer in beide Richtungen. Natürlich auch von der Bevölkerung zu ihren Volksvertretern. Und jetzt gibt es nur eine Beschallung auch bei den Medien, die von einigen wenigen von oben nach unten geht. Und die Leute können sich vielleicht noch informieren, Fake-News sind auch dabei. Sie haben aber keine Chance mehr, selber einzuwirken, selber mitzugestalten. Die ganzen Resonanzräume haben wir eigentlich aufgekündigt.“ Das führe zu dem, was Bülow Postdemokratie und Postpolitik nennt. Hoffnung geben ihm die Klimademos. Die Protestierenden hätten die Dringlichkeit erkannt und auch, dass es nicht reiche, „eine Farbe einer Koalition auszuwechseln“. Das politische System muss aufgebrochen werden. Die starken Schwankungen bei Wahlen, bei denen Parteien in kurzer Zeit große Gewinne erzielen bzw. Verluste erleiden, zeigen zugleich, dass mit steigendem Druck neue Parteien schnell an Einfluss gewinnen können. Das könnte die Demokratie wiederbeleben. Dazu müssten Volksentscheide aufgewertet und Bürger*innenräte eingerichtet sowie die Wirtschaft demokratisiert werden. „Ich möchte, dass Demokratie die Grundlage von allem ist.“