20.05.2015
Share: mp3 | Embed video
Gäste: 

Immanuel Wallerstein, Professor an der Yale University, USA. Weltweit bekannt als Begründer der Weltsystem-Theorie, von 1994-1998 Präsident der International Sociological Association und Autor zahlreicher Bücher

Die zunehmenden ökonomischen und politischen Verwerfungen, von der Ukraine über den Mittleren Osten und Nordafrika bis zur Eurokrise, seien Symptome einer weltweiten systemischen Krise, so Immanuel Wallerstein. Das globale kapitalistische System stoße an seine Grenzern, weil ihr Motor, die endlose Akkumulation von Kapital, ins Stottern geraten sei. Darüber könne auch der Erfolg von Einzelunternehmen wie Apple nicht hinwegtäuschen. Eine der Ursachen für die Krise sei die Tatsache, dass weltweit immer mehr Arbeit durch Maschinen ersetzt wird, und zwar auch in den Dienstleistungsberufen der Mittelklasse. Die Folge: Immer weniger Menschen haben das Geld, um die produzierten Warenmassen aufzukaufen, Investitionen lohnen sich kaum noch, die Spekulation blüht. Diese Situation könne innerhalb des Systems nicht gelöst werden, sondern erst, wenn aus der chaotischen Übergangsphase, in der wir uns befinden, etwas ganz Neues entstanden sei.

Trotz ihrer überlegenen militärischen Stärke schwinde die Hegemonialmacht der USA zusehends. Afghanistan und Irak hätten diese Ohnmacht offenbart, so Wallerstein. Da der Einsatz größerer Bodentruppen in den USA politisch nicht durchsetzbar sei, könne das US-Militär nur Bomben werfen. Die Bombardierungen würden aber lediglich dazu führen, dass immer mehr Menschen weltweit die USA als Feind sehen. Auch Bündnispartner seien zusehends unwillig, für US-Interessen Krieg zu führen. Daher sei der mit Abstand größte Militärapparat der Welt für die USA politisch nutzlos. Mit Investitions- und Freihandelsabkommen wie TTIP und TPP versuchten die USA zwar, die Position von US-Firmen zu stärken, aber diese Verträge würden wegen des enormen Widerstandes - sowohl in den USA als auch in Europa und im Pazifischen Raum - scheitern.

Das wesentliche Ziel Russlands im Ukraine-Konflikt sei es, eine NATO- und EU-Mitgliedschaft des Landes zu verhindern, so Wallerstein. Wenn diese Bedingung erfüllt sei, wäre Russland zufriedengestellt. In den USA gebe es jedoch starke Kräfte, die eine solche Lösung zu sabotieren versuchten. Allerdings gebe es bisher niemanden, der bereit sei, die Rechnung für den wirtschaftlichen Zusammenbruch der Ukraine zu zahlen, auch die USA nicht. Deutschland und Frankreich wiederum würden zwar mit Lippenbekenntnissen die US-Position unterstützen, tatsächlich aber keine Mitgliedschaft der Ukraine in EU und NATO wollen, um die engen Beziehungen zu Russland nicht zu gefähren. Da der Konflikt angesichts der Atombewaffnung Russlands militärisch nicht zu lösen sei, käme in dieser Pattsitation nur eine "Finnlandisierung" - also die Neuträlität - der Ukraine als Lösung in Frage.

Angesichts der strukturellen Krise des kapitalistischen Weltsystems sei ein Kampf um mögliche Nachfolgesysteme entbrannt - auch wenn sich die meisten Menschen noch nicht im Klaren darüber seien. Im Chaos des Übergangs würde jede Handlung ins Gewicht fallen, wie bei dem berühmten Schmetterlingseffekt: Selbst der Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Sturm auslösen. Das "Lager von Davos" strebe ein neues System an, in dem die Privilegien der bisherigen Eliten und die negativern Aspekte des Kapitalismus erhalten bleiben: Hierarchie, Ausbeutung, Ungleichheit. Auf der anderen Seite kämpfe das "Lager von Porto Alege" für eine relativ egalitäre und demokratische Welt. Entscheidend sei es, aus den Fehlern der Alten Linken zu lernen: Statt auf Zentralisierung und interne Hierarchie zu setzen, die zu endlosen Spaltungen führe, gelte es horizontale Netzwerkstrukturen weiterzuentwickeln.