15.05.2018
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Einleitung: 

Bei den in den USA lebenden Juden sei eine Veränderung im Verhältnis zu Israel wahrzunehmen. Die „Flitterwochen“ der amerikanischen Juden mit Israel seien vorbei, sagt Finkelstein. Denn sie könnten ihre liberale Haltung nicht mehr länger in Einklang bringen mit dem aggressiven Verhalten des israelischen Staats. Der Goldstone-Bericht über die Gaza-Invasion von 2008 habe zudem gezeigt, dass Israel beim Thema Menschenrechtsverletzungen angreifbar sei. Gewaltloser Widerstand in den besetzten Gebieten würde Israel unter Druck setzen. „Ich denke, dass Gandhis Taktik funktionieren könnte“. In Bezug auf die BDS-Bewegung (Boycott, Devistment, Sanctions) teilt Finkelstein zwar die Boykott-Strategie, kritisiert aber ihre politische Unaufrichtigkeit. Denn ein volles Rückkehrrecht für alle palästinensischen Flüchtlinge, wie es die BDS-Kampagne fordert, würde den Staat Israel „durch die Hintertür“ auflösen. Dafür lasse sich aber keine breite Öffentlichkeit erreichen. Finkelstein mahnt demgegenüber, an der völkerrechtlichen Zweistaatenlösung festzuhalten.

Gäste: 

Norman Finkelstein, US-amerikanischer Politologe und Autor zahlreicher Bücher zum Israel-Palästina-Konflikt. Finkelstein ist Sohn von Holocaust-Überlebenden.

Transkript: 

David Goeßmann: Ein Buch von Ihnen heißt: „Knowing too much – warum es aus ist zwischen den amerikanischen Juden und Israel.“ Sie betrachten dort die veränderte Einstellung liberaler Juden in den USA gegenüber Israel und Palästina. Was ist heute anders?

Norman Finkelstein: Die amerikanischen Juden sind größtenteils eingefleischte Liberale und glauben somit an den Rechtsstaat, an Gleichheit vor dem Gesetz und an gewaltfreie Konfliktlösung durch Verhandlung – wichtige liberale Prinzipien. Diese Überzeugungen können amerikanische Juden nicht länger mit Israels Verhalten vereinbaren. Israel ist ein verrückt handelnder Staat, der sich benimmt wie Dschingis-Khan – nichts gegen Dschingis Khan, er war  vielleicht gar nicht so schlimm. Oder wie Attila der Hunne.

Amerikanischen Juden kommt Israel zunehmend fremd vor. Und es geht politisch und ideologisch den Bach runter. Besonders jüngere Juden in den USA sind eher säkular – 60 Prozent von ihnen heiraten Nichtjuden, oft aus der politischen Elite. Israel ist vielleicht noch nicht in den letzten Zügen, aber für Juden in den USA ist es nicht mehr das Maß aller Dinge.

Natürlich würden die amerikanischen Juden sich hinter Israel stellen, wenn es von physischer Auslöschung bedroht wäre, und das ist richtig so – kein Staat sollte ausgelöscht werden. Aber davon abgesehen sind die Flitterwochen mit Israel vorbei. Vielleicht steht noch keine Scheidung an, aber zumindest ein Art Trennung auf Probe.

David Goeßmann: Sie haben auch ein Buch über Gandhi geschrieben und über dessen Auffassung von Mut und gewaltlosem Widerstand. Was haben Sie herausgefunden und wie lassen sich daraus Strategien für Widerstand und Mobilisierung im Israel-Palästina-Konflikt ableiten?

Norman Finkelstein: Gewaltlosigkeit bedeutet Gandhi sehr viel, aber sie ist für ihn nicht der wichtigste aller Werte. Gandhi ist in diesem Punkt sehr leidenschaftlich. Für ihn zählt Mut am meisten, nicht Gewaltlosigkeit. Das sagt er immer wieder. Wenn man angegriffen und die eigene Würde bedroht werde, aber nicht die innere Stärke aufbringen kann, gewaltlos zu sein, dann sollte man lieber zur Gewalt greifen. Für Gandhi ist nichts schlimmer als jemand, der bei einem Angriff auf seine Würde oder sein Leben wegläuft und behauptet: Ich fliehe, weil ich gewaltlos bin. Das stimmt nicht, sagt Gandhi. Er flieht tatsächlich, weil er feige ist.

Daher ist es auch kein Widerspruch, wenn Gandhi einerseits Mut als höchsten Wert ansieht und andererseits Gewaltlosigkeit fordert. Beides passt hervorragend zusammen, wenn man verstanden hat, was Gandhi mit Gewaltfreiheit meint: Nämlich, in den Tod zu gehen.

David Goeßmann: Was folgt daraus für den Israel-Palästina-Konflikt und die Mobilisierung für Frieden?

Norman Finkelstein: Ganz einfach: Gandhi geht davon aus, dass alles mit Gewalt erreichbare sich auch gewaltlos erreichen lässt – allerdings letztlich mit viel weniger Blutvergießen. Ich glaube, die Chancen für einen massiven zivilen Ungehorsam in den besetzten Gebieten stehen gut. Israel hätte Schwierigkeiten, diesen zu unterdrücken, weil das Land sich nicht noch mehr Verletzungen des Völkerrechts und der Menschenrechte leisten kann. Israel hat Angst, dass ein zweiter Goldstone-Bericht es bis zum Internationalen Strafgerichtshof schaffen könnte, wo eigentlich schon der erste hätte landen sollen.

David Goeßmann: Könnten Sie kurz erklären, was der Goldstone-Bericht ist?

Norman Finkelstein: Während der Angriffe auf Gaza vom 27. Dezember 2008 bis zum 18. Januar 2009 hat Israel schwere Grausamkeiten begangen – das haben israelische Soldaten dokumentiert. Danach wurde der südafrikanische Jurist Richard Goldstone vom UN-Menschenrechtsrat beauftragt, die Vorfälle aufzuklären. Er fuhr mit seinem Team nach Gaza und schrieb einen vernichtenden Bericht, in dem er forderte, Israel zur Rechenschaft zu ziehen. Es sah so aus, als könne der Bericht vor den Internationalen Strafgerichtshof oder eine andere Gerichtsbarkeit gelangen – obwohl die USA das sicher blockiert hätten. Die Israelis haben Goldstone dann zwei Jahre lang zugesetzt, bis er sein Aussagen widerrief, ohne dass jemand wusste warum. Mein eigener Verdacht – den ich zugegeben nicht beweisen kann – ist, dass sie etwas über ihn oder seine Tochter, eine israelische Staatsbürgerin, herausgefunden und ihn erpresst haben.

Wie auch immer, die Israelis waren sehr besorgt angesichts der Auswirkungen. Als der Bericht noch aktuell war, hat Premierminister Netanjahu gesagt: „Drei Dinge bedrohen unsere Existenz: Erstens Iran, zweitens die Raketen von Hamas und Hisbollah und drittens Goldstone“. Er war ein echtes Problem für sie. Daher ist Israel jetzt sehr vorsichtig, was Menschrechte angeht. Auch der Angriff von 2012 auf Gaza hat das gezeigt. Sie mussten aufpassen, weil ausländische Journalisten dort waren, weil ihnen ein zweiter Goldstone-Bericht drohte und wegen der türkisch-ägyptischen Botschaft an Obama: „Es darf keine zweite Operation gegossenes Blei geben. (So hieß der Angriff 2008). Diese Zeiten sind vorbei. Gaza wird kein Schießstand mehr sein für Israel, keine wehrlose Beute.“

Deswegen hat Israel zwar auch diesmal Grausamkeiten begangen und etwa 150 Menschen getötet, aber das Ausmaß war kleiner als bei der Operation gegossenes Blei. Und das trotz der Bedrohung durch – angeblich, ich glaube nicht an diese Zahlen – 1400 oder 1500 Hamas-Raketen und Projektile. Sie waren in ihrem Handeln sehr eingeschränkt, weil Menschenrechtsverletzungen sie angreifbar gemacht hätten. Bedenkt man, wie wenig Israel im Dezember 2012 während des achttägigen Angriffs auf Gaza tun konnte, ist klar, wie machtlos eine israelische Regierung vor einem gewaltlosen Widerstands sein würde. Ich glaube, das würde sie sehr unter Druck setzen. Und ich denke, dass Gandhis Taktik funktionieren könnte.

David Goeßmann: Sie kritisieren die internationale Kampagne „Boykott, Desinvestition und Sanktionen“, kurz BDS. Was ist BDS und was missfällt Ihnen daran?

Norman Finkelstein: Nicht zuletzt die Abkürzung BDS. Ich mag diese Insiderkürzel nicht. Es ist eine Kampagne, um Sanktionen gegen Israel durchzusetzen, ähnlich wie früher die Anti-Apartheid-Bewegung, einigen als AAB bekannt. Die Sanktionen sollen auf mehreren Ebenen ansetzen. Auf der Ebene der Vereinten Nationen, auf der Ebene der Bevölkerung in Form von zivilen Boykottaktionen und auch auf nationaler Ebene, wo Staaten entweder eigenständig oder unter öffentlichem Druck Sanktionen beschließen sollen.

Grundsätzlich bin ich natürlich für den Einsatz von Sanktionen, um Israel zum Einhalten des Völkerrechts zu bewegen. In dieser Hinsicht bin ich der gleichen Meinung wie BDS. Was mich an BDS stört ist: Erstens seine Scheinheiligkeit und zweitens seine Unehrlichkeit. Vielleicht bin ich da zu altmodisch und passe nicht in die Politik, weil mir Scheinheiligkeit und Unehrlichkeit zuwider sind. Scheinheilig ist BDS, weil sie in ihren Veröffentlichungen immer behaupten, lediglich das Völkerrecht durchsetzen zu wollen. Sie berufen sich auf das Völkerrecht. Einer ihrer Hauptvertreter hat ein Buch namens „BDS“ geschrieben, in dem auf jeder zweiten Seite vom Völkerrecht die Rede ist. BDS will drei Regelungen des Völkerrechts durchsetzen: Erstens die Räumung der besetzten Gebiete, zweitens die Gleichstellung palästinensischer Araber in Israel, drittens die volle Gewährung des Rückkehrrechts der Palästinenser. Auf diese drei werde ich jetzt nicht eingehen. Das Völkerrecht hat jedoch noch einen anderen Aspekt, und zwar Israel. Israel ist ein Staat. Es hat dieselben völkerrechtlichen Ansprüche und Pflichten wie jeder andere Staat. Wer für das Völkerrecht ist, muss auch Israels Rechte als Staat anerkennen. Aber BDS sagt: „Nein, wir haben keine Meinung zu Israel.“ Wie kann man zu Israel keine Meinung haben? Wenn sie wirklich das Recht der Palästinenser auf Selbstbestimmung einfordern, einschließlich der Gründung eines unabhängigen Staates – das ist ja eine Version der Selbstbestimmung: das Recht auf Staatlichkeit und Unabhängigkeit – dann muss auch Israel als Staat beachtet werden. Das ist die Form der Selbstbestimmung des jüdischen Volks. Aber BDS hat dazu keine Meinung. Wie kann man für den Schutz und die Umsetzung des Völkerrechts sein und keine Meinung zu Israel haben? Das macht keinen Sinn. Das ist im wahrsten Sinne des Wortes sinnlos. Das ist wie Hamlet ohne den Prinzen von Dänemark. Israel ist Teil des Konflikts. Wie soll im Israel-Palästina-Konflikt der Rechtsgrundsatz hochgehalten werden, ohne eine Position zum Staat Israel einzunehmen? Ich halte das für unsinnig und äußerst scheinheilig.

Was die Unehrlichkeit angeht: BDS hat in Wirklichkeit eine Meinung zu Israel, nämlich, dass dieser Staat verschwinden soll. Sie behaupten, keine Meinung zu Israel zu haben, aber das stimmt nicht. Sie haben eine implizite Position. Ihre Ansicht ist: Wenn die Besatzung aufhört, das Rückkehrrecht anerkannt wird und alle gleiche Rechte bekommen, dann kann Israel durch die Hintertür abgeschafft werden. Diese Position kann man vertreten. Aber dann sollte man sich dazu bekennen, anstatt mit verdeckten Karten zu spielen, indem behauptet wird, keine Meinung dazu zu haben.

Und das dritte ist die Politik. Ich habe über Scheinheiligkeit und Unehrlichkeit gesprochen, jetzt spreche ich über Illusionen. Es gibt auf der Welt heute keinerlei Unterstützung für die Auslöschung des Staates Israel. Es kann sicherlich eingewendet werden: „Wir wollen ihn ja nicht physisch auslöschen.“ Sicherlich, die meisten der BDS-Anhänger, nicht alle, sprechen keineswegs von einer physischen Auslöschung. Aber es gibt für keinerlei Form der Eliminierung Israels Zustimmung. Gibt es etwa heute weltweit ein Forum, in dem Mitglieder sich dafür aussprechen, den Staat Israel eliminieren zu wollen? Natürlich nicht. Die Arabische Liga ist für eine Zweistaatenlösung in den Grenzen von Juni 1967. Die 57 Mitgliedsstaaten der OIC, der Organisation Islamischer Staaten, reden alle von einer Zweistaatenlösung, sogar der Iran! Fasst irgendein Menschenrechtsgremium die Auslöschung Israels ins Auge? Die Antwort ist: Nein!

Die realistischen Schritte für eine Einigung liegen woanders: Israel muss gezwungen werden, die rechtlichen Bestimmungen umzusetzen. Ganz einfach. Israel muss sich an geltendes Recht halten. Und diese Botschaft kann auch eine breite Öffentlichkeit verstehen. Das Gesetz ist den Menschen ein Begriff, insbesondere den Juden, von denen einige Anwälte sind. Sie wissen, was Rechtsverbindlichkeit ist. Das muss durchgesetzt werden. Aber vor dem Gesetz sind alle gleich. Nicht nur die Palästinenser haben das Recht auf Selbstbestimmung – natürlich haben sie es, das ist eine Tatsache. Ihr Recht wurde anerkannt. Aber auch der Staat Israel ist Ausdruck der gleichen Selbstbestimmung seiner Bevölkerung im Sinne des Völkerrechts. Jenseits des Völkerrechts gibt es, soweit ich sehen kann, keine Möglichkeit, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen.