24.03.2022
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Einleitung: 

In dieser Sendung spricht Noam Chomsky mit Fabian Scheidler über dessen Buch “"Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation", das in mehrere Sprachen übersetzt wurde (www.megamaschine.org). Das Gespräch, moderiert von Nermeen Shaikh (Democracynow), thematisiert die Zerstörungskräfte, die heute die menschliche Zukunft und das Leben auf der Erde bedrohen. Zu den einzelnen Aspekten gehören: staatliche Gewalt, von den Anfängen bis heute; strukturelle Gewalt und Eigentumsverhältnisse; ideologische Macht und Medien; die Notwendigkeit eines neuen Internationalismus, der das System der Nationalstaaten und Grenzen überwinden kann; die Angriffe der US-Regierung auf die internationale Zusammenarbeit (Weltgesundheitsorganisation, Klimaabkommen, Iran-Abkommen); die Gefahr eines Bürgerkrieges in den USA; die Fehlkonstruktionen der Europäischen Union; die "neoliberale Seuche" und der Aufstieg einer "reaktionären Internationalen"; die Klimakrise und der Kampf um einen ambitionierten Green New Deal; die Konvergenz von sozialen und ökologischen Bewegungen und Perspektiven für eine postkapitalistische Welt.

Gäste: 

Noam Chomsky, Prof. em. für Linguistik am Massachusetts Institute of Technology und Ehrenprofessor an der Universität von Arizona, politischer Dissident und Buchautor. Zuletzt erschien von ihm (zusammen mit Robert Pollin) "Die Klimakrise und der Global Green New Deal" (Unrast Verlag 2021).

Fabian Scheidler, Buchautor, Journalist und Mitbegründer von Kontext TV. "Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation" wurde in mehrere Sprachen übersetzt. Zuletzt erschien "Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen" (Piper 2021).

Nermeen Shaikh (Moderation), Moderatorin beim US-Fernsehsender Democracynow

Angesichts der beispiellosen Bedrohung des Lebens auf der Erde durch Klimachaos, Artensterben und Atomwaffen sei es, so Fabian Scheidler, notwendig, die Geschichte der westlichen Zivilisation zu entmystifizieren, um die destruktiven Strukturen freizulegen, die für die globalen Krisen verantwortlich sind. Zu diesen Mythen gehört auch die Erzählung, dass Staaten entstanden seien, um der menschlichen Veranlagung zu Gewalt Einhalt zu gebieten. Tatsächlich zeigt die Geschichte mit der Entstehung der ersten Staaten vor 5000 Jahren eine rasante Eskalation von Gewalt, Krieg, Ausbeutung und Naturzerstörung. An der Wurzel der Herrschaftssysteme, sei es im frühen Mesopotamien oder im modernen Kapitalismus, stehen die "vier Tyranneien": die physische Macht, vor allem in Form der militarisierten Staaten; die strukturelle Gewalt, die sich unter anderem in ungleichen Eigentumsverhältnissen ausdrückt; die ideologische Macht, die solche Ordnungen als naturgegeben darstellt; und schließlich die "Tyrannei des linearen Denkens", das auf der Vorstellung beruht, Mensch und Natur ließen sich nach dem Muster von Befehl und Gehorsam kontrollieren und beherrschen. Doch alle lebenden Systeme, so Fabian Scheidler, beruhen auf komplexen Kreislaufprozessen, die Idee der Naturbeherrschung  sei daher ein gefährlicher Irrtum.

Die modernen Nationalstaaten haben, so Noam Chomsky, seit ihrer Gründung eine Spur der Gewalt hinterlassen, die schließlich in die beiden Weltkriege mündete. Indem die europäischen Mächte den Kolonien nationalstaatliche Strukturen aufzwangen, haben sie eine schier endlose Kette von Kriegen und Konflikten in Gang gesetzt. Das betrifft auch die USA, die, so Chomsky, "eines der wenigen Länder in der Welt sind, die wahrscheinlich nie auch nur ein Jahr lang Frieden hatten." Die Staatsgründung der USA beruhte auf einem langen Vernichtungskrieg gegen die indigene Bevölkerung. Hinzu kommt der beinahe tausendjährige Krieg, den der globale Norden gegen den überwiegend muslimischen Süden geführt hat. Um den gegenwärtigen globalen Bedrohungen wie Klimawandel, Pandemien und Krieg zu begegnen, brauche es eine Überwindung nationalstaatlicher Strukturen und stattdessen einen umfassenden Internationalismus. Die EU sei trotz aller Defizite ein Schritt in die richtige Richtung, um Grenzen durchlässiger zu machen. Doch der Internationalismus würde vor allem durch die USA immer wieder torpediert, ob durch die Aufkündigung des Atomabkommens mit dem Iran, die Patentierung von Impfstoffen oder die Untergrabung von Klimaabkommen.

Die Frage der Klimaflucht sei, so Fabian Scheidler, ein weiteres Beispiel für die Dringlichkeit eines neuen Internationalismus, über den Noam Chomsky sprach. Was den modernen Staat angeht, so habe sich dieser seit dem 16. Jahrhundert "ko-evolutionär" mit den Institutionen der Kapitalakkumulation entwickelt und das agressviste System der menschlichen Geschichte in Gang gesetzt. Während der "Mythos der Moderne" davon erzählt, wie die Neuzeit die Menschen aus dem "finsteren Mittelalter" befreit habe, fielen tatsächlich die Höhepunkte von Folter, Inquisition, Hexenverfolgungen, Sklaverei und kolonialen Völkermorden in die Entstehungszeit des Kapitalismus, ebenso wie eine beispiellose Militarisierung. Kaufleute und Banken liehen den Staaten Geld, um Feuerwaffen und Söldner zu bezahlen, mit denen die Herrscher andere Länder überfielen und plünderten und davon das "return on investment" an die Geldgeber bezahlten. Der Staat gewährte den Händlern außerdem Monopole als Gegenleistung für Kredit. Staat und Kapital waren so von Anfang an untrennbar verflochten. Der nächste Schritt war die Gründung der kolonialen Aktiengesellschaften, die diese Struktren der gewaltsamen Expansion verrechtlichen und ökonomische Maschinen bildeten, die ohne endloses Wachstum nicht existieren können. Heute werden die 500 größten Konzerne der Welt, die zwei Drittel des Welthandels auf sich vereinen, von Staaten durch billionenschwere Subventionen künstlich am Leben erhalten, allein für die fossilen Industrien laut IWF mit 5900 Milliarden Dollar pro Jahr. Um der von diesen Strukturen verursachten planetaren Krise zu entgehen, gelte es, so Fabian Scheidler, Staat und Kapital zu trennen und die Steuergelder in einen sozial-ökologischen Umbau zu kanalisieren.

Der Staat gebe grundsätzlich die Struktur des Marktes vor, so Noam Chomsky. Kapitalgesellschaften würden außerdem von Staaten privilegierte Rechte bekommen. Die neoliberale Wende habe diese Strukturen aber tiefgreifend verändert. Seit den 1980 Jahren seien der Arbeiter- und Mittelschicht durch Änderungen im Steuer- und Konzernrecht jährlich rund 1000 Milliarden Dollar gestohlen worden. Der Staatskapitalismus könne sehr verschiedene Ausprägungen annehmen. Da die Klimakrise in den nächsten zehn bis zwanzig Jahren gelöst werden müsse, sei dies nur im Rahmen eines reformierten Staatskapitalismus möglich, ein grundsätzlicher Systemwechsel sei zwar notwendig, brauche aber mehr Zeit. Chomsky plädiert für einen ehrgeizigen Green New Deal, wie er ihn mit Robert Pollin in dem gleichnamigen Buch entworfen hat. "Wenn wir eine Erwärmung von 3 oder 4 Grad Celsius erreichen, sind wir wahrscheinlich am Ende. Kein organisiertes menschliches Leben wird auf diesem Niveau überleben." Die Regierungen sollten die Öl-, Gas- und Kohleindustrie aufkaufen, sie der Belegschaft übergeben und auf erneuerbare Energien umstellen: "Das ist morgen durchaus machbar". Allerdings sei selbst der unzureichende Green New Deal-Plan von Joe Biden  vom Clinton-Flügel der Demokratischen Partei gekippt worden. Die Klimakrise sei ein Klassenkonflikt von "kolossalem Ausmaß", die Klimabewegung stehe vor gewaltigen Herausforderungen. Der Kampf dürfe nicht jungen Menschen und indigenen Gemeinschaften allein aufgebürdet werden, Menschen mit Macht und Prestige müssen sich anschließen.

 

Um eine Chance zu wahren, die Erwärmung auf zwei Grad zu begrenzen, müssen die Industrienationen ihre Emissionen um 80 Prozent bis 2030 senken. Das aber sei nur realistisch, so Fabian Scheidler, wenn neben der technischen Umstellung auf erneuerbare Energien auch die Überproduktion und der Überkonsum vor allem der reichen Schichten reduziert wird. Beispiel Verkehr: Neben der Änderung der Antriebe brauche es eine drastische Verkehrsreduktion durch öffentlichen Transport und andere Siedlungsstrukturen. Es gehe darum, eine progressive Vision für ein besseres Leben zu entwerfen, in der Bedürfnisse wie Mobilität mit einem viel geringeren Material- und Energieaufwand gedeckt werden. Die Klimakrise sei im Übrigen nicht die einzige Bedrohung des Lebens auf der Erde, das Artensterben sei ebenso gefährlich. Auch aus diesem Grund müsse die Überproduktion überwunden werden. Da ärmere Menschen ihren Verbrauch kaum einschränken können, gehe es darum, den oberen 20 Prozent, die für 80 Prozent des Umweltverbrauchs verantwortlich sind, Ressourcen zu entziehen und sie umzuverteilen. Dazu brauche es eine Konvergenz von ökologischen und sozialen Bewegungen, die sich gemeinsam auf kommende Krisen vorbereiten und politisch handlungsfähig werden.

In vielen Teilen der Welt zerfallen nationalstaatliche Strukturen. Laut Noam Chomsky könnten die USA vor einem möglichen Bürgerkrieg stehen – ein Szenario, dass sich einige Monate nach dem Gespräch mit dem Sturm auf das Kapitol im Januar 2021 fast bewahrheitet hätte. Hochrangige Militärs planen bereits Kriegsspiele für diesen Fall. Gleichzeitig zerfällt die EU aufgrund der "neoliberalen Pest" und ihrer internen Schwächen, insbesondere der antidemokratischen Konstruktion der Troika, die den Bevölkerungen erdrückende Sparprogramme auferlegt hat, was zu Wut, Ressentiments und dem Aufstieg rechter Demagogen geführt hat. Es bildet sich eine "reaktionäre Internationale", zu der Donald Trump, Bolsonaros Brasilien, osteuropäische Führer wie Orban, die Golfdiktaturen, das rechtsgerichtete Israel und Modis Indien gehören. Im Gegensatz dazu kämpft eine progressive Internationale für eine andere Welt nach der Pandemie.